Jan Soeffner: „Partizipation. Metapher, Mimesis, Musik – und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen“ (Paderborn, Wilhelm Fink 2014)
Rezension
„Dies ist ein Buch über die Phänomenologie des Literarischen. Um sie zu beschreiben, möchte ich nicht von den Zeichen ausgehen, sondern von dem körperlichen Menschen, der mit ihnen etwas anfangen muss.“ (S. 7) Bereits in dem ersten Satz, mit dem Jan Söffner sein Projekt umreißt, zeigt sich, dass es hier weniger um Musik als um Literatur geht. Mit der Thematisierung des Körpers in seiner Bedeutung für Symbolisierungsprozesse wird, wie sich in der Lektüre offenbart, jedoch ein grundlegender ästhetischer Ansatz entfaltet, der nicht auf eine Kunstform festgelegt ist. So scheint es berechtigt, diesen Ansatz auch im Kontext musikästhetischer Fragestellungen zu thematisieren.
Im Mittelpunkt steht der Begriff der Partizipation, der von dem Autor in eigensinniger Weise verwendet wird und nicht mit dem derzeit im Kontext kultureller Bildung vielgebrauchten Begriff der kulturellen Teilhabe verwechselt werden darf. Es geht nicht um Fragen der Gerechtigkeit und der Zugänglichkeit kultureller Ressourcen, sondern um eine besondere Art des Verstehens, welche Sinn – anders als das gegenständliche, diskursive Denken – im spürenden Mitvollzug von Handlungen erschließt. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Körperlichkeit des Rezipienten zu.
Knapp die erste Hälfte des Essays ist dem Verhältnis zwischen Körperlichkeit und Zeichenprozessen gewidmet. Blickrichtung bildet dabei die Frage nach der Rolle körperlicher Routinen und Fertigkeiten für (alltägliche) Sinnbildungsprozesse. Diese macht sich dort bemerkbar, wo sprachliche Bezeichnungen das Bezeichnete nur lückenhaft zu erkennen geben. Als eines von mehreren Beispielen zieht Jan Söffner die musikalische Satzbezeichnung „adagio misterioso“ heran, deren Sinn durch die bloße Übersetzung unzureichend bestimmt ist. Bezeichnungen dieser Art erschließen sich nicht diskursiv, sondern in der Fertigkeit des ausübenden Musikers: „Zu ihrer erstaunlichen Präzision finden sie nicht qua Definition, sondern in dem Saitenstrich eines guten Geigers, in dem Timbre und der Phrasierung eines guten Sängers, in den Korrekturen eines guten Dirigenten, im Aufmerken eines guten Kritikers, dem ein Satz unangemessen gespielt vorkommt usw. Ihre Präzision verdanken diese Wörter also nicht den Bezeichnungsprozessen einer Sprache, sondern der Ausführung einer Fertigkeit, in die diese Bezeichnungsfunktion eingeht.“ (S.10) Auch im Kontext von Sport oder Musikausübung verwendete Trainingsmetaphern – der Autor nennt hier als Beispiel die Anweisung „auf dem Atem singen“ – bemühen sich nicht um Logik der aufgerufenen Bilder, sondern wenden sich an ein körperliches Gespür und erschließen damit einen gegenstandslosen Sinn. Jan Söffner veranschaulicht den „Sinn ohne Gegenstand“ an einer taoistischen Legende, deren Paradox — das Wissen des Spaziergängers um die Freude der Fische — er unter Bezugnahme auf den phänomenologischen Ansatz der second-personess von Gallagher/ Zahavi auflöst. Der Sinn ohne Gegenstand „liegt in der Welt selbst und genauer: darin, wie man mit ihr umgeht, an einem Handeln in ihr teilhat. Er ergibt sich durch ein Mit-Handeln.“ (S. 26)
Es ist charakteristisch für die essayistische Darstellungsweise des Buches, aber vermutlich auch für die der Phänomenologie zuzurechnenden Problemstellung selbst, dass mithilfe von Gleichnissen, Alltagserfahrungen, Bildern etc. im Horizont der persönlichen Erfahrungen des Autors argumentiert wird, um das Gemeinte anschaulich zu machen. Das Anliegen, Sinnbildungsprozesse jenseits bezeichnender Begriffe aufzuzeigen, bedarf eines Weges, der selbst über begrifflich bezeichnende Bezugnahmen im wissenschaftlichen Sinne hinausgeht.
Die Form und Methode des Essays erlaubt dem Autor neben größtmöglicher Anschaulichkeit, die aus der Vielzahl konkreter Beispiele entsteht, auch einen weiten interdisziplinären Ansatz. Die einbezogenen Disziplinen reichen von Phänomenologie, Evolutionstheorie, Semiotik, Psychologie, Linguistik etc. bis zu Musik- und Theaterwissenschaft. Ungeachtet dieser Grenzen überschreitenden Erkenntnisgewinnung ist eine gute Orientierung möglich, da jedem Kapitel ein kurzer Überblick über die verwendete Literatur angefügt wird.
Der Sinn ohne Gegenstand bzw. die zu seiner Erläuterung herangezogenen Phänomene sind aus dem Bereich alltäglicher Erfahrungen bekannt und zugänglich. Faszinierend aber ist, wie es dem Autor gelingt, sie zu systematisieren und als Erweiterung für die philologische Analyse nutzbar zu machen. Diese durchzuführen ist Aufgabe der zweiten Hälfte des Essays, der mit „Umrisse einer enaktiven Philologie“ überschrieben ist. Er gliedert sich in vier Kapitel, wobei als ein Roter Faden das Gedicht „The Hollow Men“ (1925) von T.S. Eliot fungiert. An diesem exemplifiziert Jan Söffner seine Thesen und Überlegungen. Er zeigt wie der Schauspieler M. Brando diesen Text „bewohnt“ und eröffnet einen Blick auf die hermetische Metaphorik des Gedichts, die ihre Verständlichkeit erst in Anerkennung ihrer Ungegenständlichkeit erhält. Nur einem enaktiven Metaphernverständnis, das nicht von einer additiven Kombination verschiedener Sinnbereiche ausgeht, sondern von einem körperlichen, synästhetischen Fühlen erschließt sich die unergründliche Vielfalt der paradoxen Bilder.
Neben das enaktive Verständnis von Metaphern und Tropen stellt Jan Söffner die Schwelle zwischen Semantik und Lautlichkeit in der Lyrik. In dem Gedicht von Eliot tritt diese in der dissonanten Wirkung zwischen dem in der metrischen Form anklingenden Ringelreihen und dem düsteren semantischen Inhalt des Gedichts hervor. Weniger die metrischen Regeln der Sprache sind in Söffners Argumentation verantwortlich für diese Dissonanz als die kulturelle Körperpraxis und Eingewöhnung.
Für die verkörpernde, emotionale Haltung des Lesenden ist auch das Timbre i.S. einer Gestimmtheit der Stimme von Bedeutung. Der Verweis auf die Stimme – weiter unten kommt der Autor auch auf die Geste zu sprechen – rückt den Umriss einer enaktiven Philologie in den Horizont musikwissenschaftlicher Interpretation. Mit Jan Söffner ließe sich fragen, ob nicht auch hier die Perspektive des körperlichen Mitvollzugs, wie sie in Auseinandersetzung mit musikalisch-performativer Interpretation gegeben ist, einer neu fundierten Aufmerksamkeit bedürften. In dieser Hinsicht enthält der vorgestellte Ansatz Potenzial für die Weiterentwicklung der Frage nach der Bedeutung der Aufführung für ein Verständnis musikalischer Werke.
Jan Söffner stellt diese Frage nicht, sondern bleibt im Feld der Literatur. Hier zieht er den Begriff des Handwerks heran, um mit diesem ein handelndes, mitvollziehendes, praktisch erkundendes Textverstehen in den Blick zu nehmen, das den Anspruch einer Philologie als Wissenschaft erweitern sollte. Er bietet diese Möglichkeit vorsichtig an und möchte keinesfalls in den Verdacht geraten, Diltheys Erlebensbegriff unkritisch zu reaktivieren. Doch machen seine vielen Beispiele deutlich, dass die Einbeziehung der enaktiven Deutungsebene i.S. eines Bewohnens der Texte immer zugänglich und bereichernd ist. Dies aus der wissenschaftlichem Analyse auszuschließen verkürzt den Blick auf die Wirkung, die Literatur auch und gerade bei Lesern zu entfalten vermag, die den Text nicht analytisch lesen, sondern wie Jan Söffner metaphorisch sagt, mit ihm „tanzen“.