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Julia Jung: Stimmungen weben. Eine unterrichtswissenschaftliche Studie zur Gestaltung von Atmosphären. (Wiesbaden: Springer 2020)

Timo J. Dauth

Rezen­sion

 [Beitrag als PDF]

Vorbe­merkung

„Ein Vier­jähriger sagt: ‚Ich bin glück­lich‘ – ‚Warum bist du glück­lich?‘ – ‚Weil ich die Welt spüre.‘“[1]Im (Er)Spüren der Welt scheint ein Schlüs­sel zu Freude zu liegen. Gespürt wird auch Nicht-Greif­bares, was als Stim­mung oder Atmo­sphäre beze­ich­net wer­den kann. Das Nicht-Greif­bare zu greifen, um so das Gelin­gen oder Nicht-Gelin­gen von Unter­richt bess­er ver­ste­hen und ggf. verän­dern zu kön­nen, ist das Anliegen von Julia Jungs Dis­ser­ta­tion. In Ger­not Böhmes Geleit­wort wird der (zumin­d­est für die Schule) allum­fassende Ansatz des Forschungsvorhabens deut­lich. Päd­a­gogis­ches Han­deln wird dem­nach immer durch die herrschende Atmo­sphäre (mit)bestimmt und erzeugt diese zugle­ich erst, was bere­its der Titel der Arbeit „Stim­mungen weben“ verdeut­licht.

„‚Stim­mungen weben‘ bedeutet, ein feines Gewebe aus Stim­mungen her­stellen: Stim­mungen wahrnehmen, auf­greifen, miteinan­der verbinden, sich verbinden, mitein­binden, einge­woben sein.“[2]

Erken­nt­nis­in­ter­esse

Jung verknüpft in ihrer Dis­ser­ta­tion Atmo­sphären als ästhetis­chen Gegen­stand mit Unter­richt­sprax­is, indem sie das Entste­hen und Wahrnehmen von Atmo­sphären näher beleuchtet. Ziel der Über­legun­gen ist dabei die „Entwick­lung eines (fächerüber­greifend­en) Konzepts für die Lehrerbil­dung: das ‚Konzept des atmo­sphärischen Ver­mö­gens‘“.[3]Dieses über­ge­ord­nete Ziel äußert sich in den Forschungs­fra­gen:

„Was bein­hal­tet ein atmo­sphärisches Lehrver­mö­gen im Hin­blick auf die Gestal­tung ein­er pos­i­tiv­en Unter­richt­sat­mo­sphäre? Dem vor­ange­hend muss die Frage danach gestellt wer­den, welche Unter­richt­sat­mo­sphäre als pos­i­tiv ange­se­hen wer­den kann.“[4]

Das Vorge­hen der Unter­suchung

Zur Beant­wor­tung dieser Fra­gen kom­biniert Jung the­o­retis­che Über­legun­gen mit ein­er qual­i­ta­tiv empirischen Unter­suchung. Bis­lang habe keine „aus­gear­beit­ete und kon­sens­fähige Meth­ode“ der empirischen Erfas­sung von Atmo­sphären existiert und Ver­suche, sie zu greifen, seien auf­grund der Flüchtigkeit der Atmo­sphären bisweilen wie „Pud­ding­nageln“ erschienen.[5]Um die Fass­barkeit zu erhöhen, kom­biniert Jung im empirischen Teil ihrer Arbeit ver­schiedene Zugänge: Zu ein­er Teil­nahme im Feld nach den Ideen von Ton Beek­manns „teil­nehmender Erfahrung“ (1984), die der teil­nehmenden Beobach­tung ähnelt, zieht sie Videoauf­nah­men und Experten­in­ter­views hinzu. So wird die Präre­flex­iv­ität von Erfahrun­gen und Hand­lun­gen mit ein­er anschließen­den Über­prü­fung und Reflex­ion ver­bun­den.[6]Die Auswer­tung folge der Inhalt­s­analyse nach Mayring, enthalte aber auch „Züge ein­er (Reflex­iv­en) Ground­ed The­o­ry“.[7]Die Ergeb­nis­darstel­lung erfol­gt in phänom­e­nol­o­gisch ori­en­tierten Vignetten, die im musikpäd­a­gogis­chen Kon­text bis­lang wenig erprobt wor­den sind. Über die in ihnen enthal­te­nen exem­plar­ischen Deskrip­tio­nen werde „das All­ge­meine im Beson­deren präsen­tiert“, wobei Vignetten mit „ein­er Anek­dote oder ein­er Kurzgeschichte“ ver­gle­ich­bar seien, die nicht auf Quan­tifizier­barkeit und detail­ge­treue Abbil­dung ziele, son­dern primär auf einen (auch leib­lichen) Nachvol­lzug des Atmo­sphärischen.[8]

„Während er spricht, schaut Mehmet die ganze Zeit hinüber zu Her­rn Buber. Dieser sitzt auf dem Pult und lächelt ihn an, hält den Kon­takt zu ihm immer aufrecht, ist ihm stets zuge­wandt.“[9]

Neben der­ar­ti­gen Sit­u­a­tions­beschrei­bun­gen ergänzen Zeich­nun­gen der Unter­richtssi­t­u­a­tio­nen das Stim­mungs­bild. Die von Jung außer­dem vorgenomme­nen Kom­men­tierun­gen fall­en zwar recht kurz aus – hier wäre noch weit­eres inter­pre­ta­tives Poten­zial gegeben –, aber bieten Lesenden einen Nachvol­lzug der Einord­nung von Vignetten in das über­ge­ord­nete Kat­e­gorien­sys­tem an.

Die method­is­che Tri­an­gu­la­tion führt ein­er­seits zu ein­er Per­spek­tiven­vielfalt, wodurch indi­vidu­ell inter­es­sante Momen­tauf­nah­men entste­hen. Ander­er­seits wird es Lesenden erschw­ert, dem über­ge­ord­neten Argu­men­ta­tion­szusam­men­hang im Sinne ein­er „großen Erzäh­lung“ zu fol­gen. Außer­dem für wis­senschaftliche Unter­suchun­gen eher ungewöhn­lich ist der hohe Grad des Ein­bezugs von Emo­tio­nen. So schreibt Jung etwa zur Teil­nahme im Unter­suchungs­feld:

„Durch ein Wech­sel­spiel von Empfänglich- beziehungsweise Offen­sein, Ein­tauchen, Spüren, aber auch Beobacht­en, Reflek­tieren, und Benen­nen, wurde Atmo­sphärisches – im All­ge­meinen stark Spür­bares, ‘irgend­wie‘ Auf­fäl­liges sowie expliz­it der wahrgenommene Charak­ter der Atmo­sphäre […] – erfahren, benan­nt, gesam­melt und […] notiert.“[10]

Es ist fraglich, ob die im Zitat geäußerte Weitung der Betra­ch­tungsweisen einen wis­senschaft­s­the­o­retis­chen Zugewinn oder ein Abgleit­en in eso­ter­isch anmu­tende Bere­iche darstellt. In jedem Fall provoziert Jungs Art der Annäherung an den Gegen­stand weit­er­führende Auseinan­der­set­zun­gen mit Atmo­sphären.

Ein Ein­blick in die Ergeb­nisvielfalt

In den Aus­führun­gen zum Forschungs­stand nimmt Jung primär auf Ger­not Böhme Bezug. Doch auch die Stand­punk­te ander­er „Klas­sik­er“ der Sozial- und Erziehungswis­senschaften wie Otto-Friedrich Boll­now und Horst Friebel sowie aktuell diskurs­bes­tim­mender Autorin­nen und Autoren wie Hart­mut Rosa oder Käte Mey­er-Drawe wer­den the­ma­tisiert. Jung greift in ihren Aus­führun­gen auf ver­schiedene Raum­be­griffe zurück: Ins­beson­dere ges­timmter Raum(ursprünglich von Elis­a­beth Strök­er) und per­for­ma­tive Räume bzw. Zeit­spiel­räumespie­len in ihrer Beschrei­bung von Atmo­sphären eine Rolle. Dabei fällt auf, dass die Vorstel­lun­gen von Atmo­sphäre und Raum untrennbar miteinan­der ver­woben sind.

Durch ihre Wahrnehm­barkeit seien Atmo­sphären ein zen­traler Gegen­stand der „neuen Ästhetik“, die im Sinne von Ais­the­sis ver­standen werde und „primär die sinnlich-leib­liche Erfahrung von [– zumin­d­est im vor­liegen­den Fall –, Anmerkung TJD] Atmo­sphären“ meine.[11]Der Wahrnehmungs­ge­gen­stand Atmo­sphäre bewege sich dabei per­ma­nent in einem Span­nungs­feld von objek­tiv­er Exis­tenz und sub­jek­tivem Ein­druck. Atmo­sphären kön­nen im vor­liegen­den Kon­text zum einen als Zwis­chen­phänomen zwis­chen ver­schiede­nen Per­so­n­en und Din­gen in der Unter­richts­beobach­tung ver­standen wer­den, zum anderen kön­nen die Erzeu­gen­den in den Fokus rück­en – Jung berück­sichtigt bei­de Sichtweisen gle­icher­maßen und ver­ste­ht in der Folge „Lehren als ästhetis­che Tätigkeit“.[12]Zur Gestal­tung pos­i­tiv­er Unter­richt­sat­mo­sphären müssten Lehrende „musikalisch“ päd­a­gogischsein.

„[Dies] bedeutet, mit ein­er päd­a­gogis­chen Hal­tung in den Unter­richt zu gehen und diese dann auch zum Aus­druck zu brin­gen, offen zu sein, nach außen ges­timmt, klangvoll, spür­bar zu sein […] und damit eine pos­i­tive und der Sit­u­a­tion angemessene Atmo­sphäre zu erzeu­gen (beziehungsweise mit-zu-erzeu­gen).“[13]

Jung entwick­elt aus der Verdich­tung von Betra­ch­tun­gen des Video­ma­te­ri­als ein Kat­e­gorien­sys­tem. Die jew­eils mit mehreren Sub­kat­e­gorien angere­icherten Haup­tkat­e­gorien Wahrnehmen (per­ceiv­ing), Stim­men (tun­ing)und Verbinden (con­nect­ing)bilden in ihrem Zusam­men­spiel ein aus­d­if­feren­ziertes Instru­ment zur Analyse von Unter­richt­sat­mo­sphären, indem sie ver­schiedene Umgangsweisen mit Atmo­sphären beschreiben. Trotz des Wun­sches nach ana­lytis­ch­er Tren­nung wer­den in der Real­ität Über­schnei­dun­gen zwis­chen den Kat­e­gorien vor­liegen.

Auf dem Kat­e­gorien­sys­tem basierend entwick­elt Jung das Konzept des atmo­sphärischen Ver­mö­gens, das „die Fähigkeit ‚spürend zu han­deln‘ und damit Atmo­sphären wahrzunehmen und zu gestal­ten“[14]meine und durch Übung sowie Reflex­ion erwor­ben wer­den könne. Jung fasst das Konzept als zen­trales Ergeb­nis der Dis­ser­ta­tion in ein­er schema­tis­chen Darstel­lung zusam­men.[15]

Ins­ge­samt betra­chtet führen die the­o­retis­chen Aus­führun­gen gelun­gen zum qual­i­ta­tiv-empirischen Schw­er­punkt der Pub­lika­tion mit sein­er Kom­bi­na­tion ver­schieden­er method­is­ch­er Ansätze hin. Jung gelingt es, unter­schiedliche Begrif­flichkeit­en wie Atmo­sphäre, Wahrnehmung oder Ästhetik, hin­ter denen jew­eils ein eigen­er aus­führlich geführter Diskurs ste­ht, miteinan­der zu verknüpfen und aufeinan­der zu beziehen.

Die beson­dere Art der Darstel­lung

Jungs Umgang mit Sprache ist kun­stvoll: Sie enthält viele Beispiele und ist bild­haft, manch­mal beina­he blu­mig. Jung gebraucht häu­fig Aufzäh­lun­gen, die an manchen Stellen zwar den Lese­fluss erschw­eren, aber zugle­ich präzise Vorstel­lun­gen von den behan­del­ten Gegen­stän­den erzeu­gen. Durch das Zeich­nen der sprach­lichen Bilder wird eine Leseat­mo­sphäre erzeugt, die sich unweiger­lich auf Lesende überträgt und die Sinnhaftigkeit der Argu­men­ta­tio­nen von ein­er ratio­nal-wis­senschaftlichen auf eine basal-emo­tionale Ebene überträgt. In anderen Worten: Jung schreibt sowohl über Atmo­sphären als auch in Atmo­sphären, wodurch Lesende die Argu­men­ta­tion mit­denkenund nach­fühlenkön­nen. Neben deskrip­tiv­en Anteilen sind auch kreativ-präskrip­tive Anteile in der Dis­ser­ta­tion enthal­ten. Durch den Ein­satz von Vignetten wird die Ver­an­schaulichung des Kat­e­gorien­sys­tems selb­st zu einem ästhetis­chen Pro­dukt. Mehr oder weniger all­ge­mein­bekan­nte Zitate (z.B. aus Goethes Faust) wer­den über die Arbeit verteilt eingestreut und fungieren als Appetithäp­pchen auf fol­gende wis­senschaftliche Auseinan­der­set­zun­gen. Zudem find­en sich am Ende viel­er Kapi­tel leser­fre­undliche Kurz­zusam­men­fas­sun­gen.

Während die graphis­chen Darstel­lun­gen der Arbeit m.E. teil­weise dif­fus sind, überzeu­gen die Szenen­ze­ich­nun­gen der Vignetten hinge­gen auf ganz­er Ebene, da sie beobachtete Stim­mungen ein­fan­gen und auf Lesende über­tra­gen kön­nen.

Schluss­be­merkun­gen

Julia Jungs trans­diszi­plinär ori­en­tierte Dis­ser­ta­tion fällt mit ihrem ungewöhn­lichen Stil auf, der sich vor allem durch sprach­liche Kreativ­ität ausze­ich­net. Trotz kleiner­er Kri­tikpunk­te und obwohl das zen­trale Ergeb­nis nicht die größte Über­raschung ist, son­dern ten­den­ziell intu­itive Ver­mu­tun­gen bestätigt, ist die Dis­ser­ta­tion lesenswert. Der ästhetisierte Lehrerberuf wird detail­re­ich auf bish­er wenig beforschte Facetten hin unter­sucht. So „wer­den Dinge sicht­bar, denen man sich son­st weniger zuwen­det: Zwis­chen­räume, Unsicht­bares, Empfind­un­gen.“[16]Außer­dem ist die Beto­nung des sozialen Aspek­ts inner­halb der Dis­ser­ta­tion bemerkenswert. Durch den Fokus auf Atmo­sphären rück­en Befind­lichkeit­en und Gefüh­le in den Mit­telpunkt. Es kann im gele­gentlich zu ratio­nal geprägten Nach­denken über Unter­richt­sprax­is nicht schaden, sich die (Zwischen-)Menschlichkeit immer wieder ins Gedächt­nis zu rufen:

„Die Asym­me­trie des Päd­a­gogis­chen ist immer zurück gebun­den an eine Sym­me­trie des Sozialen. Die Ungle­ich­heit von Erzieher und Edukand grün­det in ihrer Gle­ich­heit als Men­schen.“[17]

Diese Gle­ich­heit zwis­chen allen Men­schen ist let­ztlich eine unverzicht­bare Grund­lage für das Weben ein­er pos­i­tiv­en Unter­richt­sat­mo­sphäre.

 

 

 

Timo J. Dauth, Studi­um Gym­nasiallehramt für die Fäch­er Musik und Geschichte. Seit 2016 wis­senschaftlich­er Mitar­beit­er für Musikpäd­a­gogik an der Europa-Uni­ver­sität Flens­burg und Pro­mo­tion zur Ver­wen­dung von Begrif­f­en des Raums in musikpäd­a­gogis­chen Schriften.


[1]Kükel­haus 1988; zitiert nach Jung: Stim­mungen weben, S. 101.

[2]Jung: Stim­mungen weben, S. 6.

[3]Ebd. S. 1.

[4]Ebd. S. 1.

[5]Jung: Stim­mungen weben, S. 71.

[6]Vgl. ebd., S. 59–63.

[7]Ebd., S. 2.

[8]Ebd., S. 65–68.

[9]Ebd., S. 127.

[10]Ebd., S. 72–73.

[11]Jung: Stim­mungen weben, S. 7.

[12]Ebd., S. 21.

[13]Ebd., S. 97.

[14]Jung: Stim­mungen weben, S. 99.

[15]Vgl. ebd., S. 132–133.

[16]Jung: Stim­mungen weben, S. 91.

[17]Her­zog: Zeit­gemäße Erziehung, S. 514; zitiert nach Jung: Stim­mungen weben, S. 51–52.

  • 2. Dezember 201918. Dezember 2019
Kunst für Kinder
Überlegungen aus Anlass des aktuell erschienen Buches „Rhythmik – Musik und Bewegung. Transdisziplinäre Perspektiven“, herausgegeben von Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (2019). Bielefeld: transcript.
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