Wallbaum, C. (Ed.) (2018). Comparing International Music Lessons on Video. New York: Georg Olms Verlag
Rezension
„In einer zunehmend globalisierten Welt, die sich dennoch durch die Einteilung in Staaten und verschiedene Kulturkreise unterscheidet, sind unterschiedliche Konstellationen musikalischer Praxen maßgebend, welche gleichbedeutend von der emisch-inneren, als auch der etisch-äußeren Perspektive erlebt und beforscht werden müssen.“
Wallbaum, 2018
Die Rezension des von Christopher Wallbaum herausgegebenen Buches möchte ich mit diesem sinngemäß übersetzten Ausschnitt des Nachwortes beginnen, da er hierin die Legitimation für international-vergleichende Musikpädagogik formuliert. Zugleich trifft er auch den Kerngehalt des vorliegenden Buches, dessen Ausgangspunkt eine Tagung – das Leipzig Symposium 2014– bildet, bei derPraktiken desMusikunterrichts mit Jugendlichen zwischen 13 und 15 Jahren in den Pflichtschulsystemen von sieben verschiedenen Ländern verglichen wurden.
Das 431 Seiten umfassende Buch in englischer Sprache wird begleitet von zehn multiangle DVDs, die es ermöglichen, neun international aufgezeichnete Unterrichtsstunden mehrperspektivisch zu betrachten. Außerdem enthalten die DVDs Interviews mit Lehrpersonen und Schüler*innen sowie Zusatzinformationen zum Bildungssystem des jeweiligen Landes. Auf der letzten DVD befinden sich sogenannte Analytical Short Films (ASF), auf welche sich die einzelnen Artikel des Buches (Teil II) beziehen. Dabei handelt es sich um 2–3 minütige Kurzfilme aus ausgewählten Sequenzen der Unterrichtsvideos mit dazugehörigen Zusatzinformationen, den Complementary Information(CI). Letztere geben Hinweise zu den im ASF angewendeten Schnitten, den Kamerawinkel, Effekten, Färbungen etc. Die CI bildet damit eine verbale Verbindung zwischen dem Originalvideo und der im ASF ausgedrückten Perspektive der Forschenden.
Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte, die ihrerseits in Kapitel unterteilt sind, wobei kurze Einleitungen vor jedem Kapitel als Navigationshilfe für dieses komplexe und umfangreiche Werk dienen. Der Hauptteil und zweite Abschnitt des Buches präsentiert unter dem Titel „The Lessons“ die Ergebnisse des Symposiums. Das Besondere der Darstellungen in diesem Teil liegt darin, dass die Autor*innen ihre Interpretationen auf der Grundlage eines jeweils von ihnen selbst erstellten ASF der ausgewählten Unterrichtsstunde vornehmen. Neben der Betrachtung einer Unterrichtsstunde aus dem eigenen Kulturkreis nimmt jeder Beitrag auch Bezug auf eine Stunde, die außerhalb seines gewohnten Verständnisses von Musikunterricht liegt.
In dem Kapitel II.1 „RED- A Supposedly Universal Quality as the Core of Music Education“ setzt sich Christopher Wallbaum in Zusammenarbeit mit Yoshihisa Matthias Kinoshita, dem Unterrichtenden der Bavaria Lesson mit dem Phänomen einer die Stunde bestimmenden Atmosphäre, die von Wallbaum als RED bezeichnet wird, auseinander. Der Text beschreibt zunächst die Lehrerintention in dem aufgezeichneten Unterricht. Wallbaum bezieht sich dabei auf den ASF, der in diesem Fall von der Lehrperson geschnitten worden war. Die mehrperspektivische Betrachtung von Unterricht ist in diesem Beitrag besonders interessant, da Kinoshita eigentlich Musiktherapeut ist, so dass sich ein interdisziplinärer Austausch zwischen didaktischen und therapeutischen Blickwinkeln ergibt. Im zweiten Teil ihres Kapitels setzen sich die beiden Autoren mit den verschiedenen Praxen von Stimme und Körperhaltung in der Beijing-Stunde auseinander.
Für die Interpretation der beiden Stunden wird auf die musikdidaktischen Perspektiven der Ästhetischen Bildung und der Interkulturellen Musikpädagogik zurückgegriffen. Der an der ästhetischen Bildung orientierte Analytical Short Film „Bavaria“ verweist dabei mit der als RED bezeichneten Atmosphäre auf eine nonverbale Qualität, die sich einer Zuordnung zu etablierten didaktischen Kategorien entzieht. Gleichwohl ermöglicht es der ASF Praxiselemente aufzuzeigen, die als ursächlich für die Erzeugung dieser Atmosphäre gelten können. Die farbliche Unterlegung von gelb zu rot unterstreicht dabei für den Betrachter die Intensität hinsichtlich RED in der jeweiligen Szene. Relevant im Sinne eines pädagogisch intendierten Herstellens solcher Momente im Musikunterricht scheinen zum Beispiel der Verzicht auf Formen der Notation sowie ein durchgängiges Bemühen um symmetrische Kommunikation zu sein. Diese Atmosphäre geht somit mit Konstellationen einher, welche sich aus einer Offenheit und Aufmerksamkeit im Umgang mit Dingen und anderen Personen ergeben und die möglicherweise als Merkmale einer im spezifischen Sinne eigenen musikkulturellen Praxis des Klassenzimmers aufgefasst werden können. Somit könnte RED eine Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit globalisierten Kulturen und Musiken enthalten; für diese bedarf es allerdings weitere Forschung. Den Gegenpol bietet der Beijing Analytical Short Film, welcher aus dem Blickwinkel interkultureller Musikpädagogik problematisiert, wie einzelne Elemente unterschiedlicher Musikstile zusammenkommen.
Insgesamt breiten die einzelnen Kapitel des zweiten Abschnitts unterschiedlich detailliert Theoriebezüge aus. Teilweise fokussieren die Betrachtungen weniger die videografierte Stunde, sondern folgen eher konventionellen Wegen, indem z.B. eine Analyse des Lehrplans vorangestellt wird (Katalonien-Stunde, II,4). Die im Zusammenhang stehenden ASFsbieten nichtdestotrotz einen spannenden Einblick in die jeweilige Stunde und die eingenommene Perspektive.
Die anderen drei Teile des Buches geben dem auf die Stunden fokussierten Hauptteil einen theoretisch orientierten Rahmen. Der erste Abschnitt des Buches mit dem Titel „Methodological Reflection“ reflektiert in drei Kapiteln Aspekte des Vergleichens und Videographierens und führt dabei grundlegend in das noch junge Medium ASFein (I,3). Dafür werden von Christopher Wallbaum zunächst (I,1) theoretische Probleme (international-) vergleichender Musikpädagogik aus historisch-systematischer Perspektive beleuchtet. Die Mehrfachbeziehungen dieser Forschungsdisziplin verortet und beschreibt er in drei kontrastierenden Dimensionen: Music, Education and Music Education, und Locational Plans (I,: S.35–70). Im Kapitel I,2 (S.71–96) geben Daniel Prantl und Christopher Wallbaum einen knappen Überblick über videografische Forschung unter der Fragestellung, wie mit der inhärenten Ambiguität dieses Materials umgegangen werden kann. Begegnet wird diesem Problem mit Thesen des symbolischen Interaktionismus, denen zufolge das Videomaterial an sich die Essenz für den wissenschaftlichen Diskurs liefert.
Im dritten Teil, Analysis and Reflections, setzen sich Daniel Prantl und Christian Rolle auf analytischer Ebene mit den Beiträgen und Diskussionen des Symposions als Herausforderungen und Potenzialen international-vergleichender Musikpädagogik auseinander. Im vierten Abschnitt („Associated Research“), wird der Facettenreichtum des Bandes um einen Blick auf Forschungsprojekte erweitert, die im Zusammenhang mit dem Symposium oder den dort präsentierten Unterrichtsstunden stehen. Neben der Untersuchung von Genderfragen im Musikunterricht der Bavaria Lesson unddem Versuch, didaktische Begegnungen in Form von Verständigungsversuchen durch eine thematische Analyse aller acht Unterrichtsstunden zu erfassen, stehen die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des ASF für die Lehramtsausbildung Musikpädagogik im Fokus.
Wie das zugrundeliegende Symposium kann auch das Buch selbst als eine Plattform betrachtet werden, auf welcher Musiklehrende verschiedener Länder und Kulturkreise Unterrichtsstunden reflektieren und darüber mit anderen in Diskurs treten. Dabei wird nicht nur die Unterrichtspraxis verschiedener Länder und Lehrer*innen aus eigener Perspektive und in Form einzelner Fallstudien dargestellt, sondern auch mit dem Konträren anderer Unterrichtsstunden und Kulturkreise in Beziehung gesetzt. Durch seine unterschiedlichen Bereiche und Facetten lädt dieses Buch zu vielfältigen Umgangsweisen ein. Im Fokus steht ganz klar der internationale Vergleich von Praxen des Musikunterrichts. Doch durch die Begleitforschungen wird eine Vielfalt weiterer Blickwinkel sichtbar. So zeigt die Untersuchung Daniel Prantls zu den impliziten und expliziten Vergleichskategorien im Tagungsdiskurs auf welche tertia comparationissich die einzelnen Teilnehmer*innen des Symposiums beziehen, wobei er zu dem Schluss kommt, dass während des gesamten Symposiums überwiegend ein bedeutungsorientiertes Kulturverständnis verwendet wurde. Auch Christian Rolle setzt sich mit den Konversationen des Symposiums auseinander, fokussiert dabei aber den kulturellen Vergleich in der Musikpädagogik. Er stellt fest, dass eine gewisse Tendenz der Voreingenommenheit die Forscher dazu verleiten kann, kulturelle Bedingungen zu überschätzen, was zu einer Form kulturellen Relativismus führen kann, die davon abhält, die mit Zielen und Inhalten verbundenen normativen Probleme der Musikpädagogik kritisch zu diskutieren.
Dass Buch erlaubt ein ‚Querbeet-Lesen‘ nach ‚Gusto‘ und Interesse der/des Einzelnen; seine vielfältigen Perspektiven auf Musikpädagogik in einer zunehmend globalisierten Welt eröffnen neue Räume und entsprechen damit der Notwendigkeit des Austausches. Es ist schön, dass sich so die präsentierten Forschungsergebnisse und Materialien dieser Publikation nicht als fertige Ergebnisse verstehen, sondern zu Vernetzungsprozessen und zum Weiterforschen einladen.
Nora-Elisabeth Peters, Studium Lehramt Musik und Förderschulpädagogik an der HMT Leipzig. Seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig und Promotion zu Resonanz und Teilhabe als Qualitäten von inklusiv-orientiertem Musikunterricht.