Auf dem Kissen — Plastizität im Kontext von Berühren, Begreifen und Formen
Sitzsäcke und Passstücke

In ihren plastischen Arbeiten gießt die Studentin Alina Mainusch flüssigen Gips in unterschiedlich dicke und stabile Plastiksäcke und setzt, kniet oder legt sich anschließend – in Erinnerung an die Sitzsäcke ihrer Kindheit – in diese hinein. Dabei hinterlässt sie verschiedene Abdrücke ihres Körpers. Die Fotos des Herstellungsprozesses zeigen, wie sie Teile ihres Körpers in den warmen Gips drückt, während dieser hart wird. Die Mulden des zunächst flüssigen, dann erstarrenden Materials entsprechen der Negativform ihres Kopfes sowie auch ihrer linken Hand und des rechten Armes. Es entsteht eine perfekte Passform, die sie bei einem Schulbesuch von Schüler*innen einer dritten Grundschulklasse als Teil ihrer künstlerischen Arbeit vorführt. Die Studentin schmiegt sich an ihr Gipsobjekt, die Kinder beobachten fasziniert die scheinbare Funktionalität des Werkes und beschreiben das Objekt als eine Art ‚Entspannungsplastik’. Die Objekte erinnern an die Absurdität der Passstücke von Franz West, dessen Arbeiten die Studentin nicht kannte. In ihnen generiert das Spiel mit Funktionalität und Dysfunktionalität, mit Sinn und Sinnlosigkeit zum eigentlichen Thema der performativ zu erfahrenden Skulpturen. Die zunächst passiv zu rezipierenden Werke werden durch den Künstler oder die Betrachtenden vereinnahmt und damit zu Werkzeugen. Das Material Gips wird durch die Studentin in seiner Plastizität erforscht, in den Möglichkeiten der Formung, der Abformung, des Anschmiegens. Anpassungsfähigkeit setzt eine Verformbarkeit des Materials voraus. Im Anpassen an die Form des Körpers, im Anfassen und Berühren wird eine Plastizität von Material und Form erfahrbar, über die ich im Folgenden nachdenken möchte, um dabei den Blick auf die Schnittstelle zwischen Objekt und Körper, Werk und Rezipient*in zu richten. Betrachten alleine erscheint hier unzureichend, da über den visuellen Sinn hinaus vor allem Tätigkeiten des Berührens und Begreifens im Vordergrund stehen. Der Tastsinn rückt somit in den Fokus des Interesses, da Verformbarkeit zwar auch visuell, vor allem aber haptisch wahrgenommen wird.
In diesem Beitrag werde ich den Begriff der Plastizität aus kunstwissenschaftlicher Perspektive untersuchen, im Anschluss verschiedene Projekte zu diesem Themenkomplex vorstellen, in denen sich Studierende künstlerisch und kunstwissenschaftlich mit dem Phänomen der Plastizität beschäftigt haben und davon ausgehend erörtern, in welchem Gemenge die fünf Sinne in ihrer Wahrnehmung die Verbindung zwischen den Körpern der Betrachtenden, den Körpern der Gestaltenden und den gestalteten Objekte herstellen. Philosophische, kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische Überlegungen verschränken sich dabei.
Plastizität – kunstwissenschaftliche Perspektiven – Eigenschaften eines Materials

In seinem Werk Mud Muse, das zwischen 1968 und 1971 entstanden ist, füllt Robert Rauschenberg eine Glaswanne mit 4000 Litern synthetischen Schlamms. Eine Maschine mit Luftdruckventilen lässt diese cremige Masse aus Betonit vor den Augen der Betrachtenden blubbern. Ein amorpher Stoff wird inszeniert. Dietmar Rübel steigt mit diesem Beispiel in seine 2012 veröffentlichte Studie zur „Plastizität“ ein und eröffnet damit verschiedene kunsthistorische Perspektivierungen zu „Einer Kunstgeschichte des Veränderlichen“. Das Beispiel von Rauschenberg dient ihm dazu, die Formlosigkeit in der Kunst als Thema der späten sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Kunst herauszuarbeiten, insofern als hier die Formgebung nicht gesteuert, sondern als fluide Masse sich selbst überlassen wird.[1]

Kunstwerke wurden zuvor immer mit Form assoziiert. Skulpturale Werke herzustellen hieß, ihnen eine Form zu geben. Im 20. Jahrhundert entstehen nun jedoch plötzlich “formlose“ Werke und dazugehörige Theorien des Formlosen. So führt Harald Szeemann 1969 in der Berner Ausstellung „When Attitudes Become Form“ Werke zusammen, in denen die Auflösung ihrer Formen für einen sich radikal verändernden Kunstbegriff steht, Gattungen und Kategorien hinterfragt werden und stattdessen Erweiterungsweisen durch Installationen, Environments oder Happening erprobt werden. Sie wirken in den architektonischen Raum, den Landschaftsraum oder den Raum der Betrachtenden hinein.
Dabei verdrängen Material, Prozess und Experiment die Formsuche und rücken in den Vordergrund. Dass sich Rübel dieser historischen Wende nun über einen Begriff aus der Skulpturtheorie widmet, der eine Eigenschaft wie die der Plastizität beschreibt, ist zentral. Er verdeutlicht damit, wie sich der Fokus auf die Prozessualität künstlerischer Vorgänge verschiebt, die aus der Formbarkeit der neuartigen weichen und ephemeren Materialien resultiert. Die neuen Werke und mit ihnen die begleitende Kunstgeschichtsschreibung richten ihren Blick nicht länger auf das Stabile, Dauerhafte und Unveränderliche der als wertvoll betrachteten Stoffe in der Geschichte der Skulptur, sondern auf eine „Plastizität, die zu Metamorphosen fähig ist“[2].
Aus materialikonografischer Perspektive zeigt Rübel am Werk von Rauschenberg einleitend, dass das Material hier selbst als ein zu Form gewordener Prozess ausgestellt wird und die Plastizität als die formbestimmende Eigenschaft von Material zu betrachten ist. Anhand dieser flüssigen Plastik stellt er die Frage, „Was tun? Ohne Form?“ und antwortet:
„Das performative Werden derartiger Massenphänomene ist vielmehr signifikant für eine ‚formlose‘ Wendung der modernen Kunst, bei der das Liquide, das Amorphe, das Ephemere tradierte ästhetische Kategorien abschließt und zugleich überschreitet. Die Veränderlichkeit ist Merkmal und Gegenstand dieser künstlerischen Arbeiten, mehr noch, sie ist der Akteur dieser Kunst des Werdens.“[3]
Es handelt sich also um eine Plastizität, die nicht dargestellt wird, sondern die
„vielmehr in die Materialität, ja – wie dies traditionell genannt wurde – in das Wesen der Kunstwerke eingedrungen [ist], um essentielle Strukturen und daran gekoppelte Kategorien aufzuweichen.“[4]
Plastizität lässt sich folglich in dreierlei Hinsicht betrachten. Sie bezieht sich auf die Veränderung des Materials, auf die dynamische Eigenproduktivität der Substanz selbst oder auf das Plastische, Weiche und Formbare als Thema der Darstellung.
Soft Art

In der sogenannten Soft Art der späten 1960er und 1970er Jahre bringen Künstler wie Claes Oldenbourg oder John Chamberlain die Verformbarkeit des Materials in der Zusammenschnürung von Schaumstoffstücken sehr unmittelbar zum Ausdruck. Synthetische textile Materialien bereichern das Materialrepertoire und bringen zugleich eine neue Formensprache hervor, die mit der Verformbarkeit spielt. Das Weiche, Flexible und Anpassungsfähige lässt sich weniger sehen als fühlen. Insofern ist hier der taktile Sinn besonders angesprochen: Das Gesehene möchte zugleich ertastet werden oder – anders ausgedrückt – das weiche Objekt erfordert ein ‚tastendes Sehen’.
Dynamische Eigenproduktivität der Substanzen

Schaumstoff entspricht einem geschäumten Material. Durch das Schäumen des Materials ist das Moment der Formlosigkeit in der Herstellung schon impliziert. Es lässt sich nicht steuern, in welche Richtung und wie weit sich das Material ausbreitet.[5] Ein dem Material innewohnender Prozess des Sichausbreitens und Überquellens bildet auch das Thema einer Reihe von Arbeiten von Lynda Benglis, die als Ergebnisse ihrer Material- und Schmelzexperimente mit geschäumtem Kunststoff und Metallen wie Blei an erkaltete Lavaströme erinnern. Prozess und Bewegung des Materials gelangen unmittelbar zum Ausdruck.
Wir haben es hier mit Substanzen zu tun, die sich selber durch eine dynamische Eigenproduktivität auszeichnen. Benglis untersucht die Wandelbarkeit von plastischen Massen durch die ihnen inhärenten Attribute, ihre Energie, ihre Oberflächen, ihre Aggregatzustände. Erforscht wird der Fluss von Kräften der belebt wirkenden Materie, die nach außen und unten strebt, sich ergießt und auf dem Boden ausbreitet.
Plastisches, Weiches und Formbares als Thema der Darstellung
Während bei der Betrachtung der Arbeiten von Lynda Benglis ein körperliches Empfinden ausgelöst wird, macht Louise Bourgeois die körperbezogenen Aspekte des Plastischen unmittelbar zu ihrem bildhauerischen Thema. Ihre frühen Arbeiten aus gehauenem Stein verweisen sowohl auf Körperteile als auch auf sich verflüssigende Landschaften. Das Interesse an Abgüssen steht mit diesem Wandel im Materialverständnis in enger Verbindung.
In ihrem Latexkostüm bildet Louise Bourgeois mit dem flexiblen Latexmaterial halbkreisförmige Beulen, die an Brüste erinnern, nach. Hier wird das Plastische als weiches Formbares nicht nur mit dem Material verknüpft, sondern ist Thema der Darstellung. Plastizität ist ein für die Geschichte der Skulptur zentraler Aspekt und ein bedeutsames Thema nicht erst in Werken der letzten Jahrzehnte. In dem historischen Beispiel eines kunstvoll aus Marmor gehauenen Faltenwurfs aus dem 15. Jahrhundert ist gut zu erkennen, wie das Spiel mit Höhen und Tiefen, mit Volumen und Masse das Grabmal des Stifterpaares in der Kathedrale von Burgos bestimmt. Die Falten umschließen die Körper des Paares sowie dessen Hund. Sein Körper schmiegt sich in den Stoff und wird von ihm umformt.

Das Phänomen der Falte beinhaltet schon und vor allem im Barock die Faszination der sich krümmenden Oberflächen und erzeugt die Möglichkeit, dass sich die Oberfläche in ihrer Plastizität entfaltet. Das Interesse am Weichen, Eindrückbaren und Anschmieg-samen scheint als Thema der Skulptur bis heute in verschie-denen Formen immer wieder auf.
Aus der Praxis – Übungen zur Plastizität
Plastizität umfasst Verformung, Beweglichkeit und Veränderlichkeit. Das Material selbst kann in Bewegung geraten, ein Bewegungsablauf zum Ausdruck gebracht werden oder eine Transformation von einem Zustand in einen anderen erkundet oder dargestellt werden. Damit liegt der Fokus auch auf der Frage nach dem Prozess, der Zeitlichkeit und dem Ereignis in der Skulptur. Um sich dem Thema der Plastizität in einem Seminar der Bildhauerei zu nähern, geht es zunächst darum, sich über eine Bestimmung der Eigenschaften von weichen Materialien zu verständigen. Ein Schwerpunkt liegt dazu auf dem Material Ton mit seinen besonderen plastischen Formeigenschaften. Mit verschiedenen Arbeitsaufträgen werden die Studierenden aufgefordert, die Formeigenschaften des Tons zu erkunden und ihre Erfahrungen zu beschreiben, um so den Begriff der Plastizität aufzuwerfen und die verschiedenen Bedeutungsebenen für sich zu erschließen.
Nehmen Sie ein Stück Ton in die Hand, modellieren Sie es, zerreißen es, setzen es wieder zusammen, drücken es, quetschen es …

In den kurzen Übungen drücken die Studierenden aneinandergesetzte Stücke ein, schichten die Stücke, modellieren eine verfließende Form, zerreißen den Ton, formen schwungvolle Wülste oder stellen den Auflösungsprozess eines Quaders nach.
In einem zweiten Schritt versuchen sie, die Eigenschaften der Plastizität durch den Umgang mit Material herauszuarbeiten.
Was heißt für Sie Plastizität? Welche Tätigkeiten, Verfahren und Eigenschaften fallen Ihnen im Kontext des Begriffs PLASTIZITÄT ein?
Heraus kommt ein Fließprozess, ein Wickeln und Umschlingen mit dem Material. Neben dem Verdünnen, dem Rollen und Herstellen von Kugeln werden dabei auch technische Verfahren wie die Arbeit mit der Plattenpresse angewendet, um die gepressten Tonplatten anschließend zu schneiden und zu verformen. Prozesse des Fließens, Versinkens, Verbiegens, Bewegens, Umschlingens, Abrundens werden experimentell in Formen und Antiformen überführt.

Darüber hinaus wird der Umgang mit dem Material Ton zur Herausarbeitung der Plastizität durch die Aufforderung zu begrifflichen Annäherungen genauer bestimmt, indem die Studierenden auf Prozesse und Eigenschaften verweisen und weitere Assoziationen sammeln:
Auflösung der Form, weiche Formen, Wandel, Transformation, Metamorphose, Plastizität und Material, Plastizität und Oberfläche, bewegliche Bestandteile, Prozess, aus der Fläche heraus ins Dreidimensionale, Flexibilität, Gleichgewicht, Ungleichgewicht, konkav, konvex, Quetschen, Quellen, Auflösung, Rupfen, Verlebendigung der Fläche, durch Form Dynamik ausdrücken, Veränderbarkeit durch den Betrachter, Modulsysteme, Mobiles, fliegende Wesen, Zerstörung, Zwischenräume herstellen, mit Schatten arbeiten, Keimen, Organisches, Lebendiges, Amorphes.
Plastizität zeichnen
Dass das Thema der Darstellung von Plastizität nicht nur in der Skulptur eine Rolle spielt, sondern auch in den flächigen Künsten mit der Illusion von Plastizität gearbeitet wird, zeigt eine Zeichnung von Albrecht Dürer. Erneut sehen wir ein Beispiel von Kissen, die sich für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Plastischen besonders gut zu eignen scheinen.

Im Jahre 1493 arbeitet der Künstler an seinen Sechs Kissen eine Plastizität heraus, bei der das Thema der Anpassung an Körperformen, wie in den beiden zuvor genannten Beispielen, erneut zu beobachten ist. Faltenwürfe rücken in den Vordergrund und verselbstständigen sich. Das Interesse am Weichen und daran, wie sich Formen eindrücken lassen, fließt in die Zeichnungen ein. Durch Schraffuren erzeugt Dürer Schattenpartien, die in ihren konkaven und konvexen Formen die Falten der plastischen Gebilde entstehen lassen.
Um den Unterschied zwischen visuellem und taktilem Erfahren zu verstehen, erhalten die Studierenden, bevor sie die Zeichnungen von Dürer sehen, die Aufgabe, mit zeichnerischen Mitteln Plastizität zu erzeugen, d.h. ein visuelles, zweidimensionales Bild des eigentlich nur haptisch Erfahrbaren herzustellen. In einer kurzen Übung zeichnen sie ungegenständliche, amorphe oder geometrische Körper, deren Plastizität durch verschiedene grafische Mittel entstehen soll.
Entwickeln Sie zeichnerisch ungegenständliche, amorphe oder geometrische Körper, die plastisch wirken. Setzen Sie dazu verschiedene grafische Mittel ein, um die Plastizität hervorzuheben.
Stellen Sie sich vor, auf welche Weise die von Ihnen gezeichnete plastische Form zu ertasten ist, d.h. konzentrieren Sie sich auf Vertiefungen und Höhen, konkave und konvexe Formen. Arbeiten Sie mit Linien, Punkten, Flächen.
Mit den verwendeten Linien werden Volumina umkreist (Abb. 14a), Spiralen umhüllen einen Luftraum (Abb. 14b), aus schraffierten Dreiecks- und Rechteckflächen entstehen geometrische Formen (Abb. 14c). Zerlaufende Formen werden mit malerischen Mitteln umgesetzt (Abb. 14d).
Die Zeichnungen haben die Studierenden für das Thema von Bildhauer*innenzeichnungen sensibilisiert. Die Ähnlichkeiten zu den Zeichnungen von Richard Deacon, die sich durch die spezifische Aufgabenstellung ergeben haben, sind auch für die Studierenden überraschend. Hier wird ein bildnerisches Problem im eigenen Tun erfahren. An den Arbeiten von Deacon können sie im Anschluss nachvollziehen, in welchem Verhältnis Zeichnung und Skulptur in seinem Werk stehen und wie Deacon seine Plastiken vorbereitet, sie begleitet oder aber deren Formgefüge und Konstruktionsprinzipien parallel und im Nachhinein wieder aufgreift.
Plastizität wird auch bei Deacon durch Verdichtungen der Linien, durch Überkreuzungen, durch eigene Schraffurerfindungen erzeugt. Durch die Krümmungen der Linien gestaltet er in seinen Zeichnungen die plastische Form. Darüber hinaus aber stehen die gezeichneten Linien nicht nur mit den keramischen Plastiken, sondern auch mit den linearen Konstruktionen vieler seiner Werke in Zusammenhang, die durch die spezifischen Konstruktionsweisen der gebogenen Holzstäbe, die wie im abgebildeten Werk miteinander vernietet sind, wie Zeichnungen im Raum wirken.

Die in der Kunstpädagogik immer wieder aufscheinende Problematik, in welchem Verhältnis die Auseinandersetzung mit künstlerischen Positionen zur eigenen künstlerischen Gestaltungspraxis steht, reflektiert die Studentin Alexandra-Joy Jaeckel selbstkritisch. Mit großer Intensität hat sie eine Werkgruppe erschaffen und sich dabei an einem sehr präzisen Umgang mit dem Material, hier der Keramik, orientiert. In den Zeichnungen verwendet sie neben den freien Skizzen einen Spirografen, um schematische Zeichnungen zu erstellen und die Möglichkeiten von geometrischen Anordnungen zu erkunden. In den Tonplastiken verwendet sie eine Presse, mit der lange, gleichmäßig geformte Stränge hergestellt werden können. Durch die matte, sehr dick aufgetragene gelbe Glasur entsteht eine Plastik im Spannungsfeld von Ungegenständlichkeit und Gegenstandsbezug mit samtiger Oberfläche, die den Charakter des Fließenden unterstreicht.
Die Studierenden haben sich der künstlerischen Frage der Plastizität auf sehr verschiedene Weisen genähert. Die Aufgabenstellung beinhaltete den Impuls, aus dem Material des Tons heraus dessen besondere plastische Qualitäten zum künstlerischen Thema zu machen:
Entwickeln Sie ausgehend vom Thema der Plastizität ein keramisches Objekt. Überlegen Sie, wie sich die Plastizität visuell und taktil erfassen lässt. Beziehen Sie die von Ihnen zusammengetragenen Aspekte ein: Form und Formlosigkeit, Auflösung der Form, Weiche Formen, Wandel, Transformation, Metamorphose, weiche oder ephemere Materialien, Veränderlichkeit des Materials, Plastizität und Oberfläche, bewegliche Bestandteile, Prozess und Zeit. Entwickeln Sie Ihr Objekt zeichnend oder direkt aus der Arbeit mit dem Material heraus.

Yvonne Klein hat sich unter der Fragestellung „Lässt sich Ton knicken?“ den genuin plastischen Eigenschaften des Tons gewidmet, mit der Plattenpresse weißen und grauen Ton aufeinandergepresst und sich mit diesen zweifarbig und dünn ausgerollten Rechtecken der Herausforderung gestellt, Papierschiffe aus Ton zu falten und der Weichheit des Materials die Präzision von geknickten Kanten entgegenzusetzen.

In die Höhe wuchern die aufeinandergesetzten Rohrstücke von Gabriele Polster. Auch hier ist der Ton nicht mit der Hand, sondern mit der Plattenpresse geformt, um die entstehenden Flächen danach zuzuschneiden und zu verbinden.
Bei den modellierten Objekten von Anne Barkhausen kommt die Plastizität dadurch zustande, dass etwas von innen nach außen zu drücken scheint. Die daraus resultierenden Oberflächenspannungen werden durch die Glasuren auf unterschiedliche Art und Weise pointiert, durch die verlaufenden und partiell aufgetragenen rosafarbenen und transparent aufgetragenen Glasuren rechts, durch die gleichmäßig aufgetragene matte Glasur in gebrochenem Weiß rechts oben, die sich unauffällig mit dem Material des gebrannten Tons verbindet und zunächst gar nicht als Glasur erkennbar ist, und durch die sehr dick aufgetragene rosafarbene Glasur unten rechts.

Der plastische Raum wird „greifbar an der Oberfläche des jeweiligen Werks – Ort der Kommunikation mit der Umgebung und Membran für den Austausch nach außen.“ Ursula Ströbele formuliert in dem von ihr mitkonzipierten Forschungsprojekt zur Theorie der Skulptur unter dem Stichwort „Plastizität“ weiter: „Im (optischen) Ertasten der Oberfläche des Skulpturenkörpers erfährt der Rezipient seine eigene physische Präsenz zugleich als Subjekt und Objekt; die Perzeption des Gegenübers avanciert zur Existenzerfahrung.“[6]
Plastizität und Körper
Ein plastisches Objekt wird durch die Betrachtenden immer visuell und taktil zugleich wahrgenommen. Die ästhetische Erfahrung des optischen Ertastens entspricht einem Be-greifen, bei dem die Körper der Betrachtenden auf den Körper der Skulptur treffen. Dies erinnert an Johann Gottfried Herdes Vorstellung des Haptischen, die dem Tastsinn eine zentrale Bedeutung zuerkennt. Mit dem Tastsinn aber kommt eine fühlende, den Körper stärker einbeziehende Komponente ins Spiel. Herder verwendet 1778 erstmals den Begriff „Plastik“ und begründet in seinem Text eine „haptische Ästhetik“, die den Eigenwert des Materials betont, die Skulptur in Zeit und Raum verortet und über den Sehsinn hinaus die Bedeutung des Tastsinnes hervorhebt.[7] Er stellt in seiner Schrift die These auf, dass das Haptische der zuverlässigste Sinn des Menschen sei, der sich nicht täuschen lasse. Die körperliche Darstellung der Plastik sei ertastbar. Unser tastender Nahsinn kann damit den Spuren von Künstler*innen folgen, die greifbar sind.
Material und Berührung

Damit gerät die Körpererfahrung in den Blick. Die Idee des Greifbaren, Haptischen und Veränderlichen als Merkmalender Plastizität bringt Annika Stuckmann in ihrer Masterarbeit mit dem Titel „Material und Berührung. Eine skulpturale und filmische Auseinandersetzung mit der Geste“ sehr deutlich zum Ausdruck. Sie zieht und drückt den Bauschaum, der in seiner beständigen Ausdehnung aber selbst schon eine besondere Form der Bewegung impliziert, so dass nicht klar ist, ob die Bewegung aus dem Material heraus kommt oder von außen hinzugefügt wird.
„Ich bewege mich und es bewegt sich. Ich sehe, ich denke, ich bewege mich wieder. Das Material bewegt sich. Ich sehe, ich denke, ich bewege mich wieder. Das Material bewegt sich. Und so geht das weiter – mit Auge und Hand“[8], schreibt Tony Cragg in einem Text mit dem Titel Mit den Augen berühren, mit den Händen sehen. Bildhauerische Prozesse. Annika Stuckmann zieht dieses Zitat zu ihren eigenen künstlerischen Werken heran und fragt darüber nach dem Zusammenhang von Material und Berührung in der skulpturalen und filmischen Geste. Die Geste als Handlungsform steht für die enge Wechselwirkung von Objekt und Subjekt, von Körper und Material. Sie umfasst das Handeln mit Material und die Berührung zugleich.
Im körperlichen Einwirken, das wie in ihren keramischen Objekten ein leichtes Berühren oder ein massives Verformen beinhalten kann, wird Material verändert, gedrückt, geworfen oder gerissen, um die Grenzen auszuloten und seinen Eigensinn zu ergründen. Die Aktion der formenden Hände und ihren Duktus akzentuiert Annika Stuckmann durch den Brennvorgang. sowie den Glanz der Glasur.

Wie der Einsatz der ganzen Körperkraft aussehen kann, zeigen auch eine Reihe von Werken von Janine Antoni, mit denen sich die Studentin im Kontext ihrer Arbeit zu Material und Geste auseinandersetzt. In Gnaw, 1992, bearbeitet sie einen 300kg Block Schokolade mit ihren Zähnen. Die Intensität des Körpereinsatzes des Abnagens ist nur zu erahnen, da die Performance der Herstellung in der Vergangenheit liegt und unsichtbar bleibt.

Sehen, Tasten, Riechen und Schmecken gehen hier ein Gemenge der Sinne[9] ein, insofern als sich die Vorstellung des Schmeckens mit der realen, in der Vergangenheit liegenden Aktion des Beißens, mit dem Sehen der Spuren und dem Riechen des Materials untrennbar verbinden. Durch die Fokussierung des Haptischen wird dem Menschen eine räumliche und körperliche Erfahrung ermöglicht, die ihm im zweidimensionalen Bild nicht möglich ist, da der Sehsinn eher einem Distanzsinn gleichkommt.
Wie sich eine Geste im Material einprägen kann, das als Gedächtnis fungiert, zeigen auch die beiden Gipsabgüsse von Paulina Amelie Holtz. Die Studentin hat den Oberkörper ihres Flanellhemden tragenden Freundes mehrfach abgegossen. Die Spuren dieser Berührung mit dem Gips fließen durch die spezifische Materialität des Flanells auf besondere Art und Weise ins Werk ein. Bei diesem Vorgang wurde nicht nur die Form abgedrückt, sondern auch die Farbe sowie das Stoffmuster bzw. Stoffmaterial mit übernommen, denn der Flor des weichen aufgerauten Stoffes, die winzigen Fäden bleiben im Gips kleben und färben die flauschig erscheinende Oberfläche der Innenseite des Gipsnegativs, das hier durch den Stoff als positive Form wirkt.
Georges Didi-Huberman fragt in seinem Buch „Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks“ nach dem Verhältnis von Berührung und Berührtem sowie vom Abdruck und Abgedrücktem. Der Abdruck stelle eine Form gewordene Berührung dar und sei „dialektisches Bild“ und ein „Aufrühren all dessen […]: etwas, das uns ebenso die Berührung anzeigt (der Fuß, der sich in den Sand eindrückt) wie den Verlust (die Abwesenheit des Fußes in seinem Abdruck).“[10]
Ein weiteres studentisches Projekt zum Abguss entspringt der körperlichen Aktion der Berührung. Mit großem Aufwand und der Hilfe mehrerer Studierender lässt sich ein Student mit Klebeband um einen Eimer und andere Gegenstände herum fixieren, damit der Zwischenraum zwischen seinem Körper und einem inneren Kern mit Gips ausgegossen werden kann. Inwieweit die entstehenden Gipsobjekte oder die Performance der Umarmung selbst als das endgültige Werk einzuschätzen sind, bleibt offen.

Aus kunstpädagogischer Perspektive stehen in den gezeigten Arbeiten der Studierenden Erkenntnisse im Vordergrund, die im Umgang mit dem Material gewonnen werden, im Berühren, Begreifen und Formen. Mit dem Körper wird gelernt und gearbeitet, indem Körperaspekte zum Thema skulpturaler Arbeiten werden oder indem der eigene Körper Formen erzeugt. Die Plastizität des künstlerischen Materials wird dabei in ihrer Variabilität, Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit auf unterschiedliche Art und Weise zum künstlerischen Thema gemacht und die materialspezifischen Eigenschaften und Prozesse auf ihre Ausdrucksqualitäten hin erprobt.
Literatur
Cragg, Tony: Mit den Augen berühren, mit den Händen sehen. Bildhauerische Prozesse. In: Bilstein, Johannes / Reuter, Guido (Hg.): Auge und Hand. Oberhausen 2011.
Didi-Huberman, George: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks. Köln 1999.
Herder, Johann Gottfried: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. In: Brummack, Jürgen / Bollacher, Martin u.a. (Hg.): Johann Gottfried Herder. Werke [Bd. 4]. Frankfurt a.M. 1994.
Heynen, Julian (Hg.): Richard Deacon. Drawings and Prints 1968–2016. Göttingen 2016.
König, Kasper / Codognato, Mario / Pakesch, Peter: Franz West. Autotheater. Köln 2010.
Wallis, Clarrie / Gleadowe, Teresa / Curtis, Penelope: Richard Deacon [Ausst.Kat. Tate Publishing (Hg.)]. London 2014.
Meyer-Thoss, Christiane: Louise Bourgeois. Konstruktionen für den freien Fall. Zürich 1992.
Rübel, Dietmar: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen. München 2012.
Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt a.M. 1998.
Ströbele, Ursula: Plastizität. o.A., http://theoriederskulptur.de/plastizitaet/ (abgerufen am 15.9.2019).
Bildverzeichnis
Abb. 1: Studentisches Projekt von Alina Mainusch. Foto: Sara Hornäk.
Abb. 2: Besuch einer Grundschulklasse in den Werkstätten des Fach Kunst der Universität Siegen. Foto: S. Hornäk.
Abb. 3: Franz West, Passstücke, ca. 1983. In: König / Codognato / Pakesch: Franz West. Autotheater, S. 21.
Abb. 4: Robert Rauschenberg, Mud Muse, 1968–1971, Bentonit, Wasser, geräuschaktives Druckluftsystem und Steuereinheit, 122x274x366cm, Moderna Museet, Stockholm. In: Rübel: Plastizität, S. 8.
Abb. 5: When Attitudes Become Form, Kunsthalle Bern, 1969.
Abb. 6: John Chamberlain, Untitled, 1966,
http://web.guggenheim.org/exhibitions/chamberlain/#untitled-1966–12 (abgerufen am 10.09. 2019).
Abb. 7: Lynda Benglis, Meteor, 1969, Guss 1975, Blei und Stahl, https://www.tate.org.uk/art/artworks/benglis-quartered-meteor-t13353 (abgerufen am 10.09. 2019).
Abb. 8: Louise Bourgeois, Soft Landscape II 1967, Alabaster. In: Meyer-Thoss: Louise Bourgeois, S. 191.
Abb. 9: Louise Bourgeois in einem Kostüm aus Latex, 1975. In: Meyer-Thoss: Louise Bourgeois, S. 14.
Abb. 10: Detail aus dem Grabmal des Condestable Pedro Fernández de Velasco, 1482, Kathedrale von Burgos. Foto: S. Hornäk.
Abb. 11: Ergebnisse der Übungen von Studierenden. Fotos: S. Hornäk.
Abb. 12: Übungen von Studierenden. Fotos: S. Hornäk.
Abb. 13: Albrecht Dürer, Sechs Kissen (Rückseite von Selbstbildnis), 1493, Lemberg, ehem. Lubomirski-Museum In: Tietze: Dürer als Zeichner und Aquarellist, Abb. 6.
Abb. 14 a,b,c,d: Zeichnungen Anne Barkhausen, Yvonne Klein, Alexandra-Joy Jaeckel, Gabriele Polster, 2018. Fotos: S. Hornäk.
Abb. 15: Richard Deacon, B67-B86, Untitled Drawings, 1995–1996. In: Heynen (Hg.): Richard Deacon, S. 126f.,131.
Abb. 16: Richard Deacon, After, 1988, gebogenes Holz. In: Wallis / Gleadowe / Curtis: Richard Deacon [Ausst.Kat.], S. 56.
Abb. 17: Richard Deacon, Ribbon Bow, 2004, Unglasierte Keramik, 12x117x83 cm. In: Wallis / Gleadowe / Curtis: Richard Deacon [Ausst. Kat.], S. 95.
Abb. 18: Zeichnungen und Plastiken von Alexandra-Joy Jaeckel, 2018: Fotos: S. Hornäk.
Abb. 19: Yvonne Klein, gebrannte Keramik zweifarbig, 2018. Fotos: S. Hornäk.
Abb. 20: Gabriele Polster, gebrannte Keramik, 2018. Foto: S. Hornäk.
Abb. 21: Anne Barkhausen, gebrannte Keramik glasiert, 2018 Foto: S. Hornäk.
Abb. 22: Annika Stuckmann, Filmstills der Masterarbeit „Material und Berührung“, 2018 Fotos: Annika Stuckmann.
Abb. 23: Annika Stuckmann, glasierte Keramik, 2018. Foto: Annika Stuckmann.
Abb. 24: Janine Antoni, Gnaw, 1992, Schokolade. In: Bechtler: Janine Antoni, S. 26.
Abb. 25: Paulina Amelie Holtz, Abgüsse von Flanellhemden. Fotos: S. Hornäk, P. A. Holtz.
[1] Vgl. Rübel: Plastizität, S. 7 ff.
[2] Ebd., S. 8.
[3] Ebd., S. 7.
[4] Ebd., S. 13.
[5] Vgl. Rübel, der für die plötzlich auftretende Vorliebe für ein sich immer weiter ausbreitendes und quellendes Material eine Reihe von Filmbeispielen anführt, wie Woody Allens Sleeper (1973), in dem die Absurdität sich selbständig machender Material-Formationen dargestellt wird, die an den alten Zauberlehrling-Topos eines außer Kontrolle geratenden Produktionsprozesses erinnert. (S. 161ff.)
[6] Ströbele, http://theoriederskulptur.de/plastizitaet/ (15.9.2019).
[7] „Seht jenen Liebhaber, der tiefgesenkt um die Bildsäule wanket. Was tut er nicht, um sein Gesicht zum Gefühl zu machen, zu schauen als ob er im Dunkeln taste?“ Herder: Plastik. In: Brummack / Bollacher u.a. (Hg.): Johann Gottfried Herder (Bd. 4), S. 254.
[8] Cragg: Mit den Augen berühren, mit den Händen sehen. In: Bilstein / Reuter (Hg.): Auge und Hand, S. 9–18, S. 17.
[9] Vgl. Serres: Die fünf Sinne, 1998. Michel Serres wirft am Beispiel eines impressionistischen Bildes die Frage auf, wie ein Auge, das auf Distanz bleibt, mit dem Tastsinn in Zusammenhang steht und wie Berührung auch im Bild assoziiert werden kann. Er macht hier deutlich, dass das Taktile nicht auf die dreidimensionalen Künste und ihre Plastizität beschränkt ist, sondern durchaus auch auf der Fläche von Bedeutung sein kann (S. 37 ff.).
[10] Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 10.