Bewegte Körper und zweierlei „Gesten des Machens“ — Praktiken des Forschen mit ästhetischen Mitteln im kunstpädagogischen Feld
1. Körperbewegungen repräsentieren
Die 2012 entstandene Arbeit „Cold veins, warm light“ des Berliner Konzeptkünstlers Johannes Wald[1] zeigt einen ausschnitthaft projizierten männlichen Oberkörper, genauer die sich in leichten Wölbungen über die Muskulatur spannende Haut mit der linken Brustwarze. Den Rezipient*innen vor Ort steht die mit Hilfe zweier Kanthölzer wie ein Spiegel positionierte Platte, auf der das Körperfragment erscheint, vis-à-vis gegenüber. Erst beim aufmerksamen Betrachten und Fokussieren der Brustwarze oder eines Leberflecks wird deutlich, dass es sich um die Projektion eines Videos, nicht um die einer Fotografie handelt. Am zunächst kaum merklichen Ausdehnen und Zusammenziehen der Haut – Oberfläche eines menschlichen Körpers, die auf der Oberfläche des Steins den Eindruck subtiler Verlebendigung hervorruft – zeigt sich, mit Hartmut Rosa formuliert, der wohl basalste Akt des Lebens schlechthin, der als elementarer Prozess des Stoffwechsels für die Weltbeziehung des Menschen, für sein In-die-Welt-Gestellt-Sein fundamental ist: sein Atmen (Rosa 2016, S. 92).
Die derart inszenierte Körperbewegung können wir allerdings nur wahrnehmen, weil dem Lichtstrahl, der das pulsierende Schwarz-Weiß-Bild transportiert, etwas in den Weg gestellt wird. Wald wählt dafür eine vier Zentimeter starke und knapp ein Meter achtzig hohe Platte aus Marmor, dem skulpturalen Material schlechthin, die durch ihr rechteckiges Format den vertrauten Modus bildhafter Vergegenwärtigung aufruft. Durch Verwenden des Marmors für das flächendeckende Auffangen der Projektion erzeugt er jenes spannungsvolle Verhältnis zwischen Material, Form und Inhalt, zwischen dinghaften Präsenz des Steins und bildhafter Repräsentanz eines ebenfalls nur ausschnitthaft gegebenen menschlichen Körpers, das den herkömmlichen Skulpturenbegriff auf subtile Weise unterläuft: Der Künstler ruft die Illusion von belebter Körperlichkeit nicht durch skulpturale Formgebung auf, sondern er illusioniert skulpturale Wirkung durch eine mediale Projektion. „Es geht mir“, so Wald, „um eine Annäherung an den lebendigen Körper und seine Zustände sowie die Unfähigkeit, Bewegung mit Skulptur auszuführen.“[2]
Indem das Werk demonstrativ mit einer über Jahrhunde tradierten Bindung von Motiv und Materialität, Mensch und Marmor, bricht, ruft es eine Reihe kunst- und medientheoretischer Bezüge auf. So ist die Verlebendigung einer Skulptur, freilich einer weiblichen, im Mythos des zyprischen Künstlers Pygmalion überliefert.[3] Unter dem Stichwort des Paragone ließe sich rückblickend auch motivgeschichtlich vergleichen, welche Mittel Maler und Bildhauer eingesetzt haben, um der starren Unverformbarkeit des Steins oder der zweidimensionalen Bildfläche die Illusion von bewegter Körperlichkeit abzutrotzen und der stillgestellten Re-Präsentation lebensnahen Ausdruck zu verleihen. Neben der Rückbindung an den gattungsbezogenen Diskurs regt „Cold veins, warm light“ aber auch Vergleiche mit jenen zeitgenössischen Werken an, die das Atmen selbst thematisieren, zumal der Künstler in seiner Bronzeskulptur „My breath cast into a bigger chest“ Atem dargestellt hat.[4] Und schließlich wäre, bezogen auf die Verbindung skulpturaler Arbeit mit einer Videoprojektion, jener ontologischen Differenz nachzugehen, auf die Vilém Flusser bereits vor dreißig Jahren hinwies, indem er in seiner Schrift „Versuch einer Phänomenologie der Gesten“ Bildhauerei und Videografie, noch als analoge Bandaufzeichnung, in den Dimensionen ihres Zugriffs auf Wirklichkeit gegeneinander abwog: „[D]ie Bildhauerei stellt Szenen dar, das Videoband gibt sie wieder.“ (Flusser 1991, S. 247) Darstellen oder In-Bewegung-Versetzen – um erkenntnisträchtige Differenzen zwischen stillgestellter Repräsentation und bewegtem Körper im kunstpädagogischen Feld kreisen die folgenden Überlegungen.
Walds Arbeit setzt mit seiner Transformation von Körperbewegung in mehr oder weniger fixierte Bildhaftigkeit auf mediale Strategien. Verblüffend einfach und pointiert exemplifiziert „Cold veins, warm light“ die bildwissenschaftlich und medientheoretisch keineswegs banale Tatsache, dass es – vom Erblicken des Körpers im Spiegel über seine jahrhundertelang praktizierte Nachformung oder malerische Fixierung auf (Lein)Wänden bis zur Betrachtung auf dem Display des Smartphones – eines wie auch immer gearteten Schirms[5] bedarf, um menschliche Gestalt als uns bildhaft gegenüberstehende erscheinen zu lassen. Vor allem angesichts der lebensnahen filmischen Vergegenwärtigung stellt sich die Frage, inwiefern eine Rückübersetzung in analoge Aufzeichnungspraktiken etwas veranschaulichen kann, was dem medialen Bild entgeht. Zeichenpraktiken der letzten Jahrzehnte[6] visualisieren neben dem Erscheinungsbild des Menschen vor allem seine Bewegungen und Gesten. Als Ausdruck lebendigen Agierens können diese auch kunstdidaktisch befragt werden.
2. Körperbewegungen transformieren
Für die ästhetische Sensibilisierung angehender Kunstpädagog*innen ist das bewusste Aufzeichnen, Einschreiben oder gar Einprägen bewegter, spürender oder interagierender Körper in ein Material, die Transformation in ein bildhaftes Gegenüber, eine wichtige elementare Erfahrung.[7] Bei einführenden Übungen erleben sie, wie Körperbewegungen Gestalt hervorbringen, noch bevor sich der bewusste Formungswille einschaltet und ein die Aufmerksamkeit fokussierender Werkgedanke das Vorgehen dominiert (Kathke 2018). Solche Übungen können beim unorthodoxen Handhaben von Material und Werkzeug entwickelt werden oder lassen sich den Vorgehensweisen von Künstler*innen abschauen:
Spuren, die Studierende ein- oder beidhändig mit Fingern auf den Rücken ihrer Kommiliton*innen zeichnen, übertragen diese synchron auf ein Papier an der Wand vor ihnen. Beweggrund der entstehenden Zeichnung ist die durch einen Körper quasi hindurchgeschickte und über den haptischen Sinn vermittelte Bewegungsgeste, ein Verfahren, das Dennis Oppenheim 1971 unter dem Titel „Two Stage Transfer Drawing (Returning to a past state)“ als Teil einer Serie zur Körperwahrnehmung mit seinen beiden Kindern praktiziert hat.[8]
- Bestimmt der Aktionsradius des auf einer großen Papierfläche
sich bewegenden oder an einer papierbespannten Wand mit Zeichenkohle in beiden Händen agierenden Körpers die dabei aufgezeichneten Linienzüge, verdichten sich ausgreifende Bewegungen der Arme zu Spuren körpernaher, oft symmetrischer Bildgestalt. Prozesse der Formfindung durch den Berliner Künstler Hann Trier oder Zeichnungen der Schweizer Künstlerin Miriam Cahn sind Beispiele für diese Praxis körperbezogenen Zeichnens.[9]
Beim Abdrucken von eingefärbten Körperpartien bildet sich nicht nur die Struktur der Haut ab. Durch Anschmiegen an das Papier auf festem Grund entstehen ungewöhnliche Flächenformen, die sich durch Abrollen und Verändern des Drucks beeinflussen lassen.
- Naturgemäß hinterlassen Hände Spuren in jenem Material, das sie ergreifen.
Wenn eine Hand die Bewegungen und den Druck, den die andere beim Formen eines plastischen Materials (Ton, Papier, Schnee etc.) ausübt, synchron aufzeichnet, verbildlicht sich dabei die individuelle Art, etwas zu handhaben. Zugleich intensiviert das Zeichnen Empfindungen von Druck und Berührungen. Plastisches Formen und bildhaftes Darstellen gehen quasi Hand in Hand.
Lehramtsstudierende vergewissern sich auf diese und ähnliche Weise durch Resonanzbeziehungen zwischen ihrem Körper und der entstehenden Re-Präsentation der Selbstwirksamkeit im Gestaltungsprozess. Sie spüren dem selten erlebten oder reflektierten Tatbestand nach, dass schon die erkundende Bewegung ihrer Hände oder die Schwerkraft ihres Körpers Gestalthaftes hervorzubringen vermag. Die markierte Schnittstelle zwischen körperlicher Gegenwärtigkeit und bildhafter Repräsentation steigert Präsenzerfahrungen. Sie lässt Eindruck, Abdruck oder lineare Spur als etwas erscheinen, was seismografisch auf den Körper zurückverweist, ohne von geläufigen visuellen Erscheinungsbildern überlagert oder präfiguriert zu werden.
Solcherart aufgezeichnete Bezüglichkeiten zwischen Körper, Raum und Fläche entfalten ihr Erkenntnispotenzial sowohl im Rahmen künstlerischen Arbeitens als auch beim Vorausdenken schulischer Lehr-/ Lernsequenzen. Fragen der Situiertheit in einer bilddominierten, digitalen Welt lassen sich von hier aus ebenso thematisieren, wie die vernachlässigte körperhafte Dimension mentaler Prozesse. Von der Haltung einem Werk gegenüber, was die Rezeption anbelangt – wie positionieren sich Betrachter*innen vor der Marmorplatte von J. Wald in der Bielefelder Kunsthalle? –, bis zu jenen „Gesten des Machens“ (Flusser 1991), die als spezifische Handhabungen das schöpferische Hervorbringen von Gestalt ermöglichen, scheint vieles, was der Körper tut, allzu selbstverständlich, auch oder gerade im Kunstunterricht. Handbewegungen acht- und neunjähriger Schüler*innen beim Zeichnen, Schreiben und Drucken rückten daher für eine Lehramtsstudentin in den Mittelpunkt ihrer Masterarbeit, wurden Gegenstand künstlerischer Arbeit, didaktischer Befragung und methodologischer Reflexion. Ihr körpersensibler Einsatz ästhetischer Mittel in Forschungskontexten wird in den folgenden Abschnitten dargestellt, reflektiert und kontextualisiert.[10]
3. „Gesten des Machens“ und die lineare Spur der (Auf-)Zeichnung
Wie Vilém Flusser anmerkt, sind „Gesten des Machens“[11] selbst im Rahmen ästhetischer Praktiken Voraussetzung jedweder Gestalt hervorbringender Aktivität, setzt doch der Modus des Handelns den bewussten Einsatz des Körpers, seine sich in Bewegungen vollziehenden Gebrauchspraktiken, voraus (Flusser 1991, S. 61–87).[12] Auch das Handhaben von Werkzeugen und Materialien im Gestaltungsprozess erfordert „Gesten des Machens“. Lassen sich diese, so wäre zu fragen, unter Rückgriff auf die oben angeführten Aufzeichnungspraktiken als erkenntnisreiche „Ecriture des Körpers“[13] im Rahmen kunstpädagogischer Forschung visualisieren? Welcher Schirm wäre aufzuspannen, um von der konkreten Handhabung zur bildhaften Repräsentation derselben zu gelangen und dabei zugleich etwas über den Einsatz der Hände in Gestaltungsprozessen zu erfahren? Die Suche nach Antworten beginnt mit dem Betrachten eines linearen Gefüges.
Die abgebildete Zeichnung (s.u.) fordert in ihrer Art, nichts Wiedererkennbares und damit Benennbares zu zeigen, zunächst das ein, was der Kunsthistoriker Max Imdahl „Sehendes Sehen“ nannte: eine Vergewisserung über das Beziehungsgefüge der Sichtbarkeitswerte im Bildfeld (Imdahl 1996). Dem folgend zeigen sich teils verdichtete, teils locker ausgreifende Linienzüge, die wie zwei dynamische Kritzel die obere Blatthälfte markieren. Das linke schwarze erscheint vordergründig und prägnant, das rechte graue dagegen zurückgenommener. Kein Abriss unterbricht den linearen Verlauf, der die Gebilde formt. Zwischen ihnen kommt es zur einmaligen Überschneidung zweier ausgreifender Schwünge.
Das implizites Wissen über die Entstehung solcher Kritzel, vom Ansetzen des Stiftes bis zu seinem Abheben vom Papier, lässt eine in die Linearität eines Strichs transformierte Bewegung vermuten. Eine Spur bzw. zwei Spuren nehmen auf dem weißen Blatt – dem Schirm ihres Erscheinens – eine Position im oberen Bereich ein, ohne die Fläche zu überschreiten. Zugleich fragt unser auf Sinngebung konditioniertes Denken danach, was die linearen Verlaufsformen repräsentieren mögen, für was ihre Nähe, Ferne, Vereinzelung, Verdichtung steht, was sie bedeuten könnten? Und weil die Linie als elementare Form der Niederschrift letztlich allen Kunstbereichen angehört, ihr als zeichnerisches Element folglich eine Art ästhetischer Transversalität zukommt, ist das Feld möglicher Deutungen weit. Naheliegend wäre es, in ihr eine musikalisch-choreografische Spur zu sehen, etwa die Aufzeichnung einer (Körper)bewegung im Raum. Wir können beiden Linien mit dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy aber zunächst auch grundsätzlich das Wesen einer formbildenden Kraft zuerkennen, das jene „Urgeste des Zeigens“ auszeichnet, durch die sich der Mensch selbst bestimmt.
„Die Geste, deren Existenz und Exzellenz uns die Zeichnung darbietet, ja, man müsste sogar sagen, deren Entwurf (Skizze, Schema, Dynamik) diese uns unterbreitet, […] sie findet sich ebenso beim Tänzer, beim Musiker, beim Filmemacher; diese Geste also ist vor allem das, was im Ureigensten der Geste liegt: eine immanente Bedeutsamkeit, das heißt, kein Zeichen, das ein Bezeichnetes anstrebt, sondern ein Sinn, der unmittelbar aus dem Körper entspringt, aus einem Körper, der wenig aktiv, wirksam oder operativ handelt, sondern vielmehr an einer Bewegung – und einem Gefühl – teilhat, die von außerhalb seiner funktionalen Körperlichkeit herrühren.“ (Nancy 2013, S. 55)
Betrachtet als Ergebnis künstlerischen Tuns ließe sich die Zeichnung auch vor dem Hintergrund von Zeichenpraktiken befragen, die Künstler*innen in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben (vgl. Anm. 6). In ihrer Kargheit bietet sie Anlass über das, was Zeichnungen letztlich auszeichnet, über den Ursprung und den Ausdruckswert von Linien, nachzudenken. „In einer Zeichnung“, schreibt der von Nancy zitierte Philosoph Henri Maldiney, „gehört jeder Strich dem ganzen Raum und verschwört sich mit allen anderen im Rhythmus der Fülle und der Leere, bevor er irgendeinen figurativen Ansatz erhellt. Die ‚formale Dimension‘ ist die Dimension, gemäß derer die Form sich formt, das heißt, ihre rhythmische Dimension.“ (Nancy 2013, S. 37)
Nicht nur mit Blick auf die Genese der Kritzel bleibt fraglich, ob sie in ihrer eigenwilligen Rhythmik tatsächlich aus einer ziellosen, der Lust an einer dem Strich vorauseilenden Bewegung hervorgegangen sind. Die offenbar keinem motivischen Vorbild folgende, keinem sich im Verlauf differenzierende oder einer Virtuosität verpflichtete Line scheint in ihrer energisch (selbst-)bewussten Setzung einen anderen Beweggrund zu haben. Reiht sich das betrachtete Blatt in die Serie ein, der es entnommen wurde, verstärkt sich dieser Eindruck.
Da zudem auf jeder der sechs Zeichnungen zwei Spuren auszumachen sind, liegt ein Beziehungsgefüge dialektischer Zweiseitigkeit nahe, wie sie Flusser den Händen zuschreibt. Zeigt sich hier also die Kongruenz zweier Gegensätze, in denen der Autor die nie erreichte Ganzheit und damit das Ziel jedes Machens durch zwei in ihrer gegensätzlichen Symmetrie sich endlos spiegelnden Hände sieht, für ihn „eine der Bedingungen des Menschseins“? Jene Gegensätze, die nur in Übereinstimmung gelangen, wenn die „beiden Hände in einem Hindernis, in einem Problem oder in einem Gegenstand“, in der „volle(n) Geste des Machens“ aufeinandertreffen, dabei Gegenstände verändern und ihnen neue Formen aufprägen, so dass die Geste der Hände bis zu einem gewissen Grad in ihnen aufgehoben bleibt (Flusser 1991, S. 61–63)? Erst das dialektische Umfassen der Welt von zwei entgegengesetzten Seiten mache sie wahrnehmbar, begreifbar, fassbar, behandelbar, so Flusser weiter. Auch eine Zeichnung, formulierte in diesem Sinn Henri Matisse, „ist Besitzergreifung. Jeder Linie muss eine andere Linie entsprechen, die ihr Gegenstück bildet, so, wie man etwas mit beiden Armen umarmt“. (zit. n. Nancy 2013, S. 31)
In der Tat handelt es sich hier um Aufzeichnungen von tätigen Händen. Pia Gonschorek, die sich auf eine Gradwanderung zwischen künstlerischem Tun und wissenschaftlich-akademischer Reflexion im kunstdidaktischen Feld einlässt, interessiert sich für solche „Gesten des Machens“. „Etwas Ergreifen, Erproben, neue Erfahrungen im Rahmen bildnerischen Tuns sammeln, sowie die Hände selbst als Werkzeug einsetzen“, schreibt sie einleitend in ihrer Arbeit, „all dies fordert die Hände auf besondere Weise heraus, ohne dass man sich selbst dessen bewusst wird oder den Händen bei ihrer Tätigkeit viel Beachtung schenkt“ (Gonschorek 2014, S. 3). Und da die Bewegungen der Hände immer auch eine Intention ausdrücken, ließe sich mit Flusser ergänzen, dass Beobachtungen von „Gesten des Machens“ es uns gestatten, die Art und Weise zu „entziffern“, wie wir in der Welt existieren oder, bezogen auf das Unterrichten von Kunst als einem der Handhabung von Material und Werkzeug verpflichteten Fach, was genau die Hände der Schüler*innen bei bestimmten Aktivitäten tun, wie sie sich bewegen.
4. Visualisieren und kartografieren von „Gesten des Machens“
„Drawings are done with a point that moves.“ (Meyer 2014, S. 171) Diese Aussage des Künstlers und Kunsttheoretikers Philip Rawson beschreibt treffend die Art und Weise, wie die Zeichnungen letztlich entstanden sind: Der sich bewegende Punkt, der das lineare Gebilde auf dem Schirm einer filmischen Projektion hervorgebracht hat, sitzt quasi im Mittelpunkt einer Hand, dem die Spitze eines Stifts für die Dauer einer Bewegungssequenz folgt. Voraussetzung dafür war eine Videoaufnahme. Die Kamera filmte aus ungewöhnlicher Perspektive einen Gruppenarbeitstisch, an dem Kinder einer dritten und vierten Schulklasse im Rahmen einer KinderKunst-Werkstatt an der Universität Bielefeld mit den Händen gedruckt und ihre ersten Monotypien angefertigt haben. Gonschorek erläutert:
„Die Kamera ist an der Decke des Raumes angebracht und in einem 90° Winkel zur Tisch- und Arbeitsplatte hin ausgerichtet. Die Hände der agierenden Kinder befinden sich in diesem Blickfeld. Diese technisch-mediale Möglichkeit ist von entscheidender Bedeutung, denn der Blick von oben auf die gestaltenden Hände gewährt […] eine Sicht aus einer […] Perspektive, die man als Teilnehmende am Geschehen so nicht einnehmen kann. Mithilfe der Kameraposition und Einstellung ist es möglich, die Bewegungen der Hände in dem von ihnen genutzten Aktionsspielraum so wahrnehmen und verfolgen zu können, wie sie sich über dem Arbeitsplatz abspielen.“ (Gonschorek 2015, S. 13)
Den solcherart von oben gefilmten Tisch bedeckt eine helle Folie. Auf ihr haben die Kinder in den mit Klebeband markierten Feldern schwarze Farbe ausgewalzt. Ohne ihre Tätigkeiten im Einzelnen zu beschreiben, verdeutlicht der abgebildete Filmstill, dass Handbewegungen von mindestens sechs Kindern vor der annähernd formatfüllenden Tischfläche gut erkennbar sind. Die fokussierende Videoaufnahme reduziert das Interaktionsgeschehen der Unterrichtsstunde folglich auf eine scheinbar entpersönlichte Dynamik tätiger Hände vor der Tischfläche. Diese Aufsicht ist der erste Schritt hin zum bildnerischen Sehen. Ihre Figur-Grundkonstellation bietet andere analytische Möglichkeiten als die herkömmliche Vis-à-Vis-Ausrichtung der Kamera auf eine handelnde Person. Zugleich unterläuft sie durch ihre geringe Tiefe die der Kamera eigene zentralperspektivische Ausrichtung des Blicks.
Dafür folgt die Studentin mit einem Faserschreiber beim Abspielen ausgewählter Filmsequenzen den Bewegungen jeder tätigen Hand (genauer einem Punkt dieser Hand) auf einem an entsprechender Stelle an der Wand fixierten Papier. Es entstehen Spuren kartografischer Art, die Merkmale der Verortung beider Hände bei unterschiedlichen Handhabungen an ihrem Arbeitsplatz im Verlauf der Zeit visuell nachvollziehbar machen. Nun erklärt sich auch die Bezogenheit beider „Kritzel“, die Studentin spricht von „Notaten“, aufeinander, denn bei der prägnanteren Zeichnung handelt es sich um die Bewegung der rechten, bei der zurückgenommenen um die der linke Hand. Die Spiegelung resultiert aus der Aufzeichnungsansicht. Wird das Blatt um 90 Grad gedreht, so entspricht die Sicht jener des an seinem Arbeitsplatz tätigen Kindes.
5. Filmische, grafische und verbale Aufzeichnungen
Nach einer Reihe zeichnerischer Versuche wählt die Studentin drei Beobachtungskonstellationen aus dem Filmmaterial aus. Zunächst jene, deren graphische Transformationen bereits vorgestellt wurde: sechs Kinder bei derselben Tätigkeit, dem Auswalzen der Farbe auf der vorgegebenen Fläche (A). Bei der zweiten Konstellation handelt es sich um eine dreiminütige Sequenz vom Vorgang des Druckens mit den Händen, durchgeführt zum einen von einer erwachsenen Person (die ebenfalls am Tisch mitgearbeitet hat), zum anderen von einem Kind (B). Und drittens entstanden Aufzeichnungen zu zwei verschiedene Tätigkeiten eines Kindes, dem Signieren der bereits gedruckten Blätter und einer Phase des Wartens ©.
Gonschorek erstellt zu jeder beobachteten Sequenz zwei Zeichnungen. Eine grafische Notation von Bewegungen der rechten, eine von denen der linken Hand. Die der rechten zeichnet sie auf halbtransparentes Papier, was die Spur der linken durchscheinen lässt, wenn sie unter das durchscheinende Papier gelegt wird. So wird das Zusammenspiel beider Hände in Form von Grafismen auf eine Weise sichtbar, die Spuren der passiveren Hand optisch zurücknehmen.
A: Die Videosequenz des Einwalzens mit der Druckfarbe kommentiert Gonschorek wie folgt:
„Der Filmausschnitt zeigt, dass das Einwalzen einer Fläche bei allen Kindern mit einer Hand ausgeführt wird. Die rechte Hand hält die Walze fest und bewegt sie in ruckartig-schnellem Hin- und Her über die Fläche. […] Die Hand leitet die Bewegungsrichtung und das Bewegungstempo der Walze, sie übt Druck auf die Walze aus, sie hält ihren Griff fest […]. Die Kinder gehen […] aufmerksam mit der Walze um, sie lernen ein neues Werkzeug kennen, verbunden mit einer neuen Aktivität.“ (Gonschorek 2015, S. 18)
Alle sechs Graphiken (s.o.) zeigen sich überlagernde Linien, deren jeweilige Dichte auf eine unterschiedliche Intensität des Einfärbens, also der Häufigkeit, mit der die Walze über das Feld bewegt wird, zurückgeht. Dabei wird auf einen Blick erkennbar, dass die rechte Hand sich erwartungsgemäß fast ausschließlich im Bereich der markierten Druckfläche aufhält, während die linke auf allen Blättern deutlich weniger aktiv ist und ihr Linienverlauf lediglich punktuelle Verdichtungen aufweist (Gonschorek 1015, S. 18). Weiterhin kann Gonschorek ablesen, ob die Kinder die Walze orthogonal – im Wechsel von senkrechten und waagerechten Walzzügen – oder diagonal bewegt haben, ob und wie die linke Hand aktiv wird und wie stark beide Hände im Aktionsraum – oder über diesen hinaus – expandieren, welches Feld sie bei ihrer Aktivität durchmessen.
Aufgezeichnet werden hier, Flusser folgend, Gesten des Handhabens, nicht solche des Herstellens oder formgebenden Erzeugens, bei denen beide Hände auf einen Gegenstand einwirken, ihn seiner Umgebung entreißen und in einen neuen Kontext stellen. Das, womit die Hände agieren, wird nicht in ein Produkt verwandelt, sondern zur Herstellung eines Produkts genutzt. Die Walze bleibt folglich der Funktion untergeordnet, die sie erfüllen soll. Als Werkzeug wird sie zu einer vereinfachten und wirksamen Verlängerung der Hände (Flusser 1991, S. 79).
B: Aus der dreiminütige Videosequenzen vom Vorgang des Druckens mit den Händen gewinnt die Studentin zwei Aufzeichnungen (s.u.): Die erste zeigt die Handbewegungen einer Schülerin, die zweite die einer am Tisch mitarbeitenden erwachsenen Person. Bei ihrer Tätigkeit gebrauchen die Hände kein Werkzeug, das sie mit einer „praktischen Geste“ (Flusser) in Bewegung setzen. Indem Finger, Handfläche, Handkante oder Knöchel eingefärbt und als Formelemente auf dem bereitliegenden Papier abgedruckt werden, sind die Hände als Träger der Farbe nun selbst Werkzeug, Gestaltungsmittel, Material und, wo die ganze Handfläche abgedruckt wird, auch Motiv.
Gonschorek kommentiert die Videosequenz wie folgt:
„Ein Vergleich der Aktivitäten zeigt, dass die Hände der erwachsenen Person zögerlich und bedacht arbeiteten. Sie nutzten nur einen geringen Aktionsraum und nehmen sich nicht viel Freiheit. Sie agieren zielgerichtet – möchten eine Blume und eine Schlage mit dem Zeigefinger drucken. Diese Hände werden vom Kopf gelenkt. Maja (die Schülerin, P.K.) hingegen testet aus, was die Hände ihr an Möglichkeiten bieten. Sie nutzt die Aktionsfläche voll aus, was sich in der Abbildung als formatfüllende Graphik zeigt. […] Majas Ziel steht nicht fest, sie geht explorativ vor. Die […] Bewegungsabläufe folgen schnell aufeinander, scheinen intuitiv gesteuert, um möglichst viel auszuprobieren. Majas Hände eilen dem Kopf voraus, sie agieren und gestalten.“ (Ebd., S. 24)
Bei der Schülerin wird, so ließe sich ergänzen, die vitale Bedeutung von Handbewegungen als Ausdruck von innerer Beteiligung bei explorierendem Erkunden anschaulich, einer Tätigkeit, die keines leitenden Vorausdenkens bedarf.
Der Vergleich beider Zeichnungen (s.u.) macht das Beschriebene augenfällig: Links lässt eine Vielzahl von Linien auf unterschiedlich ausgerichtete Bewegungen der Hände schließen: Gerade, geschwungen, kurz und lang durchziehen sie orthogonal und diagonal die Fläche und bilden ein dynamisches Gefüge mit zwei bis drei größeren Ballungszentren. Rechts hingegen führen die Linien stets zu denselben Punkten zurück, wirken gebremster, in sich geschlossener. Es gibt Punkte, die immer wieder angesteuert werden, wenig ausgreifende Linien scheinen um diese Punkte zu kreisen (Ebd., S. 23).
In dieser Beobachtungsequenz interessiert sich die Studentin für mögliche Interferenzen zwischen Videografie, grafischer Aufzeichnung und Sprache. Sie konfrontiert ihre Beschreibung einer Zeichnung mit jener der Tätigkeit der Hände nach der dazugehörigen Videosequenz und stellt vice versa die Beschreibung der beiden Videosequenzen den Zeichnungen an die Seite. So wird in Ansätzen deutlich, worin sich die Versprachlichung der filmischen Aufzeichnung mit ihrem stärker narrativen Charakter von jener der abstrakten zeichnerischen Transformation unterscheidet, welche Auswirkungen der Wechsel der Medien (Videografie, Zeichenstift und geschriebenes Wort) auf mögliche Schlussfolgerungen ein und derselben Handhabung haben kann und wie die Zeichenfunktionen im Dazwischen ins Uneindeutige oszillieren. Zudem notiert Gonschorek jede Handhabung, die sich innerhalb der drei Minuten ereignet hat. Da die Beobachtungszeit hier, anders als beim Auswalzens der Farbe, auf drei Minuten beschränkt war, teilt die Anzahl der unterscheidbaren Tätigkeiten auch etwas über die Geschwindigkeit mit, in der die Hände aktiv waren.
C: Wie verhalten sich die Hände eines Kindes bei der zielgerichteten Tätigkeit des Signierens der eigenen Blätter verglichen mit einem Moment, in dem sie (eigentlich) nichts zu tun haben? Bewegen sie sich dennoch oder bleiben sie ruhig auf dem Tisch liegen? In dieser dritten Beobachtungssequenz verdeutlicht die auf die Videofrequenz bezogene Beschreibung die kartografischen Qualitäten der Zeichnung (rechts „signierende“, links „wartende“ Hände):
„Svenja greift den Stift, sobald er auf den Tisch gelegt wird. Die rechte Hand beginnt zu schreiben, die linke Hand blättert die auf einem Stapel liegenden Papiere an der Ecke um, sie verändert ihre Position kaum. Beim Warten hält die rechte Hand den Stift weiterhin fest, beide Hände spielen damit, sie blättern erneut den Papierstapel durch, sie sind unruhig, sie müssen sich bewegen, sie erproben den Raum, sie greifen nach den Gegenständen, sie tasten und fühlen die Materialität, die Formen und Texturen, sie sind ungeduldig.“ (Ebd., S. 21)
„Wir müssen Marsbewohner werden“, schreibt Flusser über unsere nie ruhenden Hände, um uns als Machende, als homines fabri zu beobachten: „Der Marsbewohner würde wahrscheinlich beim Beobachten unserer Hände einen größeren Ekel empfinden als wir, wenn wir die Bewegung von Spinnen beobachten. Unsere Hände sind fast nie in Ruhe: es sind fünfbeinige Spinnen, die nie aufhören, auf und in der Welt zu tasten, zu berühren, zu hantieren und zu trommeln.“ (Flusser 1991, S. 64) Das unruhig ausgreifende Hin und Her der Hände in einer Phase des Abwartens war für Gonschorek ein überraschendes Ergebnis dieser dritten Aufzeichnungssequenz.
In allen drei Beobachtungskonstellationen nutzt die Studentin ihr Werkzeug – Video und Zeichenstift – wie ein homo faber, experimentiert damit jedoch wie ein homo ludens. Sie vollzieht ein aus dem Kontext der Kunst entlehntes bildnerisches Handeln und bezieht es auf ihren Unterricht. Zeichen setzend spürt sie den Bewegungen einzelner Kinder nach, wissend, dass die Resultate ihres Tuns sowohl Fragen beantworten als auch aufwerfen. Zugleich entstehen bei der Transformation von Ausschnitten einer Handhabung in das letztlich statische Medium der linearen Spur über den Umweg der Videografie keine eindeutig dekodierbaren, einem Piktogramm ähnlichen Kürzel. Es handelt sich vielmehr um Spuren, deren bildnerischer Charakter sich durch den Verlust mehrsinnlicher Qualitäten in Richtung Zeichencharakter verschiebt. Insofern die Notate reale Situationen nachzeichnen und verdichten, vermitteln sie aufgrund ihres Verweischarakters dennoch entschlüsselbare Informationen. Diese fasst Gonschorek im Rückbezug auf die situativen Gegebenheiten des Unterrichts am Ende ihrer Arbeit zusammen.
- Rückbindung an die Unterrichtssituation
„Die graphischen Notationen machen Spuren sichtbar, welche meine Hand beim Verfolgen der Aktivitäten der Kinderhände aufgezeichnet hat“, schreibt die Studentin. „Sie lassen Rückschlüsse auf Handlungen, motorische Besonderheiten oder individuelle Gesten zu. Die sichtbare Spur konserviert die mehr oder weniger zielgerichteten Bewegungen der Kinderhände in einer aussagekräftigen Abstraktion.“ (Ebd., S. 28)
Schon vor der Auswertung ihrer Aufzeichnungen ist sich Gonschorek der Tatsache bewusst, dass der vollzogene Schritt von der Filmsequenz zur Graphik einer Transformation und mehrfachen Reduktion gleichkommt:
„Jede Bewegung der Hand, die aus der Filmsequenz herausgefiltert wird, hinterlässt auf dem Papier eine Linie. Damit wird die im dreidimensionalen Raum stattfindende Bewegung in eine zweidimensionale Zeichenspur transformiert. Indem mein Zeichenstift den Bewegungen folgt, verschafft er ihnen einen sichtbareren, präsenten Ausdruck. Die Graphik hält den Prozess des gestaltenden Tuns jedoch auf besondere Art und Weise fest, denn sie bannt den Bewegungsverlauf einer Zeitsequenz als fixierten Moment.“ (Ebd., S. 27)
„Der graphischen Spur lässt sich nicht entnehmen“, so schränkt die Studentin bereits im Vorfeld ein, „wie schnell eine Bewegung abläuft und über welchen Zeitraum sie sich erstreckt.“ (Ebd., S. 15) Es lässt sich, sinngemäß in ihren Worten zusammengefasst, weiterhin nicht erkennen, ob und wenn ja mit welchem Werkzeug die Hand arbeitet oder ob sie sich lediglich bewegt. Hingegen zeigen die linearen Gebilde die relative Fläche, die das Kind bei der Arbeit einnimmt, wie oft die Hand einem bestimmten Punkt ansteuert, „ob sie eher aktiv agiert oder passiv beteiligt ist“ und wie die Bewegungen beider Hände aufeinander bezogen sind. „Die Graphiken bilden das In-Beschlag-Nehmen des Blattes, die Expansion, das Ausgreifen ins Aktionsfeld ab“ (Ebd., S. 22, 25). Dahingehend lassen sie im Gegensatz zum Video den Vergleich von Bewegungsverläufen auf einen Blick zu.
Die Studentin versteht jede Zeichnung als ein aus der filmischen Sequenz extrahiertes individuelles Bewegungsportrait, das den Vollzug von Handbewegungen abstrahiert: „eine Zeichnung, die das Sichtbare aus der Mannigfaltigkeit der Filmsequenz isoliert und es einfriert. Es stillt stellt.“ (Ebd., S. 26) Dabei erscheint ihr das Zusammenspiel zwischen linker und rechter Hand besonders bemerkenswert: „[…] die Überlagerung, die Schichtung, die Dominanz der rechten Hand, das Zurücknehmen der linken Hand, das unvermeidbare Zusammentreffen, das gegenseitige Beeinflussen. Das Spannungsgefüge entsteht erst, wenn beide Hände bzw. beide Graphiken aufeinandertreffen“ (Ebd. S. 24–25). Bei zielgerichteten Bewegungsabläufen, wie dem Auswalzen von Farbe oder dem Drucken mit den Händen, zeichnet sich, so stellt Gonschorek fest, das erwartbare Ungleichgewicht bezüglich der Aktivitäten beider Hände deutlich ab. Bei Rechtshändern ist die rechte Hand aktiver, „während die linke […] die Bewegungen der rechten antizipieren und unterstützen muss. Beim Warten hingegen (Beobachtungssequenz 3, P.K.) ist das Verhältnis zwischen den Bewegungen der rechten und linken Hand ein relativ ausgewogenes, da die rechte Hand bei freien Bewegungen der linken nicht überlegen ist.“ (Ebd., S. 25) Gonschorek fragt weiter, ob anhand der Bewegungsnotate ablesbar wird, wie frei sich die Hand bei verschiedenen Tätigkeiten bewegt oder wie automatisiert eine Handhabung abläuft: „Sowohl beim Walzen als auch beim Beschriften zentrieren sich die in Linien übersetzten Bewegungen, auf einer eingegrenzten Fläche. Eine Aufgabe wird ausgeführt und ein Ziel verfolgt. Nämlich das Signieren der Papiere und das Einfärben der Glasplatte.“ Beim Drucken mit der eigenen Hand hingegen werden die Freiheit der Tätigkeit und die Uneingeschränktheit der Aktivität sichtbar. „Die Hände können sich ganz darauf konzentrieren, etwas auszuprobieren, Erfahrungen zu sammeln, die Materialität zu erkunden.“ (Ebd., S. 24)
Graphische Notate von Handhabungen machen weiterhin erkennbar, so schlussfolgert die Studentin, mit wieviel motorischem Aufwand ein Kind arbeitet oder wie eingeschränkt sein Bewegungsradius anderen Kindern gegenüber ist (Ebd., S. 28, 29). Diesbezüglich ließen sich Arbeitsphasen untersuchen, bei denen mehrere Kinder in einem Feld agieren, sodass sichtbar wird, wie ihre Handbewegungen ineinandergreifen: „Wie verhält sich ein Kind in der Gruppe, […] welchen Raum nehmen seine Bewegungen ein? […] Handbewegungen der verschiedenen Kinder können in unterschiedlichen Farben notiert werden, um auf einen Blick anschaulich zu machen, wie stark jedes einzelne Kind in den Arbeitsprozess der Gruppe eingebunden ist.“ (Ebd., S. 29) Darüber hinaus wäre das Zusammenwirken von Händen und Augen ein lohnendes Untersuchungsfeld.
7. Künstlerischer und wissenschaftlicher Anspruch
Die Studentin stellt die bildhafte Visualisierung des Zeichnens, die ihre Wahrnehmung schärft, fokussiert und strukturiert, in den Dienst eines erkenntnisgeleiteten Interesses. Aus dem videografierten Aktionsverlauf ausgewählter Szenen löst sie grafische Spuren heraus, die sich beim Nachfahren innerhalb eines zweidimensionalen Koordinatensystems gleichsam von selbst zu formen scheinen. Damit reduziert und abstrahiert sie das beobachtete Geschehen. Um Differenzen hervortreten zu lassen, wählt sie eine minimalisierte, serielle Art der Aufzeichnung. Nur so werden Parameter wie der Aktionsradius der Hände, die Dichte, Weite oder Frequenz von Bewegung im Zusammenspiel anschaulich und vergleichbar. Dabei erweist sich die Entscheidung, die Notate der rechten Hand auf halbtransparentes Papier zu zeichnen, für den künstlerischen Anspruch[14] so wirkungsvoll, wie für das fachdidaktische Interesse erkenntnisträchtig. Weil die Aufzeichnungen letztlich dieser doppelten Absicht verpflichtet sind, liegen ihnen bestimmte konzeptuelle Entscheidungen wie Papiergröße, Art und Strichstärke des Stifts, Positionierung des Blattes, Auswahl der Sequenzen zugrunde. Folglich zeigen die Resultate nicht ein Äquivalent der im Video sichtbaren Bewegungsverläufe der Kinderhände selbst, sie zeigen vielmehr, wie die Studentin uns diese zu sehen aufgibt.
Damit zu Tage tritt, was das ursprünglich Gegebene nicht als Gegebenes offenbart, was im situativen Kontext vor Ort und auf dem Video zwar sichtbar, aber nicht auf diese Art wahrnehmbar ist, wählt die Studentin die aufsichtige Kameraperspektive. Erst sie gibt die Aktivitäten der Kinderhände vor jenem Arbeitsgrund wieder, auf den sie im Tun bezogen sind, macht ihn zur Folie für ihr Erscheinen. Als medialer Zwischenschritt holt die Videografie eine bildhafte Fokussierung auf den Schirm (die papierbespannte Wand), die die Studentin, anders als im eingangs beschriebenen Werk von Wald, nicht als Filmsequenz – etwa auf einen leeren Arbeitsplatz – projiziert, sondern in das statische Medium der Zeichnung überführt. Dieser legt sie das wiedergebende Bewegtbild (Flusser zum Video) als eine Art der „Beweisführung“ zugrunde, das zeitversetzt abrufbar und mit analogen Mitteln in ein Material transformierbar wird, was nicht wiedergibt, sondern darstellt.
Mit Ursula Brandstätter lassen sich diese Transformationen von „Gesten des Machens“ in lineare Spuren näher bestimmen. Es handelt sich um jene vorab „definierten“ strukturellen Umformungen, die die Autorin von „offenen“ Verwandlungsprozessen unterscheidet. Ihrem Klassifizierungssystem im Ansatz zur Theorie der ästhetischen Transformation folgend (Brandstätter 2013, S. 120–127), haben wir es mit einem Übertragungsprozess zu tun, dem ein intentionaler Akt zugrunde liegt. Wie in einem „Vorgang der Analyse“ werden „aus einem Wahrnehmungskomplex, der als ein Bündel von Merkmalen beschrieben werden kann, […] einzelne Eigenschaften ‚ab(s)-trahiert‘, also herausgezogen“ (Ebd., S. 124) und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Zeichnung selbst verhält sich damit zur videografierten Szene wie ein „analytisches Werkzeug“. Sie ist prinzipiell nicht-sprachlicher Natur, verlangt eine andere Art der Wahrnehmung, kann aber im Nachhinein auch unter Zuhilfenahme des Videos in eine sprachliche Aussage überführt oder auf eine reale Situation rückbezogen werden.
Auch die Beschreibung einzelner Notate entspricht einer Transformation, die der bildhaften Bewegungsspur in Sprache. Hier wird deutlich: Als besonders ertragreich für die Analyse der Zeichnungen, wie für die sich aus dem Spannungsfeld von Kunst und Forschung ergebende methodologische Reflexion erweist sich der Vergleich. Die Studentin vergleicht sowohl Bewegungen mehrerer Akteure als auch Bewegungen bei unterschiedlichen Tätigkeiten. Weiterhin untersucht sie mit Blick auf das Ableiten begrifflich fassbarer und tragfähiger Aussagen Übereinstimmungen trotz oder Differenzen aufgrund unterschiedlicher Kodierungssysteme und ist damit einem Zusammenwirken ästhetischer und epistemischer Praxen auf der Spur. Damit korrespondiert die Tatsache, dass Gonschoreks Vorgehen selbst nicht durch fest umrissene Fragestellungen und kleinschrittige Versuchsanordnungen diktiert wird. Mit einem künstlerischen Arbeitsprozess, wie ihn Claus-Peter Buschkühle charakterisiert, teilt es die offene Ausgangssituation der Beobachtung, die Problem- und Handlungsorientierung in der Ausführung, das kritische und imaginäre Reflektieren sowie das Experimentieren mit dem Video- und Bildmaterial (Buschkühle 2005). In seinem experimentellen Charakter entspricht der Prozess zugleich einem kreativen Akt (auch im Sinn von John Deweys „Art as Experience“), der im Nachhinein einer hermeneutisch-rekonstruktiven Deutung unterzogen wird, die neben den bildnerischen Ergebnissen das Vorgehen selbst einschließt.
8. Kartografische Aufzeichnungen in Kunst und Forschung
Es wurde bereits betont, dass die Aufzeichnungen als Ergebnisse künstlerischen Tuns für sich stehen und im Rahmen der Kunst rezipiert werden können. Die Studentin selbst verweist auf die amerikanische Künstlerin Morgan O›Hara, die den Handbewegungen ausgewählter Akteure vor Ort mit einem Zeichenstift in jeder Hand nachspürt und sie seismographisch zu Papier zu bringt.[15] Anders als die durch variierten Druck zu Energiefeldern verdichteten Zeichnungen der Künstlerin, die sich einem Prozess des sensiblen Anähnelns, der unmittelbaren körperlichen Reaktion auf das Geschehen verdanken, erzeugt Gonschoreks einspuriges Nachfahren der im Video isolierten Handbewegungen eine objektivierende Distanz zu dem, was sie aufzeichnet.[16] ist Ausgangspunkt und Methode eines forschenden Zugriffs im Kontext kunstpädagogischen Handelns. Die Zeichnungen zeigen etwas, was der Anschauung im Allgemeinen entgeht, was Fragen generiert und sich vergleichend ausdeuten lässt. Dem solcherart Kartierten wächst ein repräsentativer Zeichencharakter insofern zu, als es die zeitlich begrenzte Sequenz von Handhabungen (bspw. eines Druckwerkzeugs durch Schüler*innen) unter Ausblendung anderer Informationen im orthogonalen System einer Bildfläche verortet, die einem Ausschnitt des Arbeitsplatzes entspricht. Paradoxerweise betont das solcherart Kartierte das Prozessuale der Aktivitäten durch Stillstellen derselben in einem fixierten Moment.
Die der geografischen, kulturwissenschaftlichen oder ethnologischen Forschung auch von Künstler*innen entlehnte Kartografie wurde für die Kunstdidaktik von Klaus-Peter Busse erschlossen (Busse 2007). Sie entspricht einer erkundende und analytisch-dokumentierenden, vor allem aber einer auf bestimmte Art visualisierenden Methode des In-Beziehung-Setzens, die unüberschaubare, oft selten wahrgenommene Situationen fokussiert, markiert und ordnet. Kartografie ist dabei Prozess und Produkt der Erkundung: Die im Prozesse eingenommene Haltung intensiviert den Blick auf Facetten von Wirklichkeit, das entstehende Produkte wiederum macht den subjektiven Zugriff darauf einer objektivierenden Analyse zugänglich. Neben Mapping hält Busse Kartografie für eine Methode, die zeigt, „wie wissenschaftliche Forschung von künstlerischen Verfahren profitieren kann oder wie außerkünstlerische Problemfelder mit künstlerischen Methoden gelöst werden“ (Busse 2004, S. 5).[17]
Kartografieren im Kontext von Schule und Hochschule eröffnet einen anderen Blick der (zukünftig) Lehrenden auf das (nicht minder komplexe) Geschehen von Unterricht oder Aktivitäten des Lehrens und Lernens und kann „künstlerischer Handlungsrahmen für die Performanz vieler Lernprozesse“ sein (Busse 2007, S. 158). Es rückt darüber hinaus Schule als möglichen Ort künstlerischer Interventionen in den Blick. Im gegebenen Beispiel entspricht dem Erkunden von Räumen mit künstlerischen Mitteln das Erkunden von individuellen Bewegungsabfolgen oder Aktivitätsmustern im gestalterischen Prozess der Schüler*innen. Über den Zwischenschritt der Videografie erlaubt Kartografieren hier das Festhalten des schnell Entgleitenden und macht es über die veranschaulichende Visualisierung in Form zweidimensionaler Kodifizierung der begrifflichen Ausdeutung zugänglich. Das Aufzeichnen der Handbewegungen bei laufender Videokamera, verbunden mit dem selektiven Ausschneiden von Segmenten und ihrer seriellen Zuordnung ist nicht nur ein kreativer Akt erweiterter Wahrnehmung, sondern regt Vergleiche von kunstdidaktischer Bedeutung an, da es hervortreten lässt, „was zuvor als Sinn oder konstituierende Bedeutung nicht sichtbar ist.“ (Busse 2007, S. 163)
9. Methodologische Reflexionen
Es bleibt zu fragen, ob und unter welchen Bedingungen das solcherart Kartierte, sich im Nachzeichnen einer Bewegung Formende, Relevanz im Rahmen wissenschaftlicher oder künstlerischer Forschung und/oder (kunstpädagogischer) Theoriebildung beanspruchen kann. Von welcher Forschung wäre hier zu reden? Indem Gonschorek ausgewählte Aspekte eines komplexen Unterrichtsgeschehens mit den Mitteln ästhetisch-künstlerischer Praxis visualisiert und die Ergebnisse unter didaktischen Gesichtspunkten analysiert, wird die dem Vorhaben zugrundeliegende künstlerische Haltung ein Stück weit objektiviert, die forschende ein Stück weit versinnlicht und subjektiviert. Die Praxis der Aufzeichnung dient hier weder der Illustration noch ausschließlich der Wissensproduktion. Ihr Ziel ist allererst eine Sensibilisierung und Strukturierung des so zuvor nicht Wahrgenommenem, das im Medium des Bildhaften einen anderen Stellenwert erhält. Zudem dient es der Vergegenwärtigung von Zusammenhängen sowie nicht zuletzt der Markierung blinder Flecken im Prozess eigener Professionalisierung.
Der Differenzierung von M. Rebstock in seiner Standortbestimmung des Verhältnisses von Kulturwissenschaften und ästhetischer Praxis folgend, haben wir es hier also weder mit einer Forschung über ästhetische Praxis noch mit einer in ästhetischer Praxis (artistic research, Kunst als Forschung) zu tun.[18] Was die Studentin praktiziert, ist eine Forschung durch Ästhetische Praxis. „Bei einer […] Forschung durch ästhetische Praxis“, argumentiert Rebstock, „treten künstlerische Prozesse […] integriert in wissenschaftlichen Forschungsfragen und -szenarien auf. Sie werden zum methodischen Bestandteil (Instrumentarium) der Forschung, stellen aber nicht die Forschungsergebnisse selbst dar, wie im […] Fall der künstlerischen Forschung.“ (Rebstock 2017, S. 38) Das, was die Studentin „durch“ ihre ästhetische Praxis hervorbringt, indem sie eine mehr oder weniger kunstfremde Problemstellung mit bildnerischen Verfahren untersucht, ist folglich nicht Ergebnis wissenschaftlicher Forschung, wohl aber Ausgangspunkt von wissenschaftlichen Reflexionen. Indem sie das Erkenntnispotenzial einer künstlerischen Strategie (der linearen Aufzeichnung) im Kontext der Bedingungsfaktoren von Unterricht befragt und mit ihr zugleich auf etwas zeigt, das Fragen aufwirft, gewinnt ihr Bildhandeln – nicht zuletzt durch Fokussierung kunstdidaktisch unterbeleuchteter Felder (der Handbewegungen von Schüler*innen relativ zu ihren Tätigkeiten und Arbeitsplätzen) an didaktischer Signifikanz. Zugleich geht es mit einer Lust am Visualisieren und Gestalten einher, ist nicht nur Registrieren sondern zu gleichen Teilen auch Nachvollziehen und -spüren. Diese Gestaltungsfreude führt abschließend zum Körper und seiner Rolle im vorgestellten Projekt zurück, ohne die die methodologische Frage nach einer Forschungspraxis mit ästhetischen Mitteln ins Leere läuft.
10. Subjektivität und Körperbezug des Forschens mit ästhetischen Mitteln
Zwar standen die auf besondere Art fokussierten Bewegungen der Kinderhände im Zentrum des Erkenntnisinteresses, dennoch durchlief auch der anleitende, (re)agierende und zeichnende Körper der Studentin einen Prozess des Erkennens. Zunächst korrespondierte Ihr Vorhaben mit individuellen Interessen und bereits erprobten bildnerischen Zugriffsweisen. In einer künstlerischen Abschlussarbeit hatte sie sich mit Handlinien und der Ausprägung von Schriftzügen beschäftigt, war den Handschriften mehrerer Generationen in ihrer Familie nachgegangen – systematisch vergleichend ebenso wie künstlerisch gestaltend (auf großformatigen Leinwandbildern malend und druckend). Ein für Motiv und Verfahren sensibilisiertes Gespür führte Gonschorek zur aufmerkenden Fokussierung der druckenden Kinderhände im eigenen Unterricht und ließ sie zur Videokamera greifen.[19]
Was sich im zweiten Schritt dann beim Nachfahren von Handbewegungen mit einem Stift als Spur materialisiert, verbindet über die Brücke des Videos letztlich zweierlei „Gesten des Machens“, die einer Kinderhand mit jener der Studentin, die sich aufzeichnend deren Rhythmen anpasst, sich mit ihnen synchronisiert. Letztlich ist die stiftführende Bewegung der Studentin am Zustandekommen der Zeichnungen nicht weniger beteiligt, als die sie auslösenden Handbewegungen. Beide bedingen sich gegenseitig.
Der Wechsel vom Beobachten zum tätigen und strukturierenden Nachvollziehen – der mit einer veränderten, hier nicht thematisierten Wahrnehmung von Zeit einhergeht – erschließt Sinn nicht nur in Form einer nachgeordneten und begrifflich fassbaren Ausdeutung der auf Papier sich abzeichnenden Linien. Sinn schreibt sich vielmehr durch die vollzogene Praxis, dem Gewahrwerden von Handbewegungen und ihrer kartografischen Notationen dem Körper der Akteurin als implizites Wissen ein, das im Zusammenspiel von Anschauen und (Nach-)Empfinden gewonnen wird. Ihre forschende Haltung geht eine Verbindung mit handelnder Vergegenwärtigung und der Sinnlichkeit des Nachspürens ein.[20]
Rückblickend auf die Arbeit von Johannes Wald, die uns im Ausstellungskontext mit dem bewegten Bild eines atmenden Oberkörpers auf einer spiegelartig präsentierten Marmorplatte konfrontiert, wäre zu prüfen, ob es vis-á-vis von „Cold veins, warm light“ zum mehr oder weniger bewussten Synchronisieren mit dem die minimale Körperbewegung hervorrufenden Atmen kommt. Anders gefragt: Welchen Stellenwert hat das von Gonschorek praktizierte Bildhandeln, ihr Anliegen, Bewegungen ihrer Schüler*Innen nicht nur videografisch auf besondere Weise zu fokussieren, sondern sie in ihrem lebendigen Re-Agieren auf das, was sie ihnen zu tun aufgibt, gestalthaft einzufangen, sie im Modus einer durch den eigenen Körper hindurch geschickten individuellen Geste des Machens als Spur – als nachgespürte Spur – aufzuzeichnen?
Inwieweit das Nachspüren mit dem Stift aufgrund einer impliziten Reflexivität ein intuitives Wissen generiert, das sich aus kinetischen, sensorischen oder somatischen Erfahrung speist, auf diese Frage mag abschließend eine kartografierende Künstlerin antworten. Wie Nanne Meyer anmerkt, ist
„Zeichnen […] immer auch ein körperliches Tun. Dabei weiß die Hand, in die sich die Bewegung einschreibt am Ende nicht unbedingt mehr, aber sie weiß anderes. Anders tritt uns das gegenüber, was wir nicht kennen. Was befremdlich oder abwegig erscheint, enthält jedoch oft ein unbekanntes Potenzial. So gesehen ist Zeichnung auch eine Bewegung ins Unbekannte, ins Fremdsein, ins Nichtverstehen. Es ist ein Unterwegssein mit offenem Ausgang, verbunden mit Risikobereitschaft und Mut.“ (Meyer 2014, S. 170)
Indem die Studentin in ihrer Arbeit zeichnend eher Beiläufiges fokussiert, indem sie Sinn im körperlichen Nachvollziehen von Bewegungen sucht, und diesen an der Schnittstelle von Kunst und ihrer Didaktik verortet, setzt sie sich mutig und risikobereit einer situativen Offenheit aus, die ihr im Umgang mit dem Bildmaterial, seiner Analyse und den unterrichtsbezogenen Schlussfolgerungen viel Freiheit lässt, ihr aber zugleich ein hohes Maß an Selbstreflexivität abverlangt. Der über das Erstellen von Bildern praktizierten Zugriff wäre mit Karl-Joseph Pazzini als „eine Strategie der Erkenntnisgewinnung, der Verdichtung, der Speicherung und überhaupt Mittel der Artikulation von Forschung“ zu verstehen (Pazzini u.a. 2014, S. 13). Dabei geht es darum, so der Kunstpädagoge, Bildungstheoretiker und Psychoanalytiker an gleicher Stelle, „der wachsenden Bedeutung von Bildern nicht nur im Alltag Rechnung zu tragen, sondern auch in der Wissenschaft und das nicht nur zur Veranschaulichung oder als Dokumentation oder Appetithäppchen. Der bildende, erziehende, sozialisierende und forschende Umgang mit Bildern ist kein Ornament.“ (Ebd. 2014, S. 12)
Literatur
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Selle, Gert: Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis. Reinbek: Rowohlt 1988.
Abbildungsnachweise
Bis auf die Abbildung des Werks von Johannes Wald, die dieser freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, handelt es sich durchweg um Fotografien von Pia Gonschorek und der Autorin.
[1] Marmor / Holz / Videoprojektion (Full HD Video, 5‹55« Min. loop), 178 x 100 x 4 cm, Sammlung Kunsthalle Bielefeld. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Künstlers (courtesy VG-Bildkunst, Daniel Marzona, Berlin; Galerie Greta Meert, Brüssel). 2015 war das Werk im Rahmen der Ausstellung „Whatness. Esther Kläs und Johannes Wald“ erstmalig in der Bielefelder Kunsthalle zu sehen. Es wurde angekauft und gehört seither zum Bestand des Hauses.
[2] Ein Interview mit Johannes Wald. Meta Marina Beeck. In: Friedrich Meschede (Hg.): Whatness. Esther Kläs. Johannes Wald. Katalog der Ausstellung. Kunsthalle Bielefeld, Köln: snoeck 2015, S. 204. Vgl. auch Kathke 2018.
[3] Ovid Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. Frankfurt a.M.: Fischer TB Verlag 1996, X, S. 243–245.
[4] Die Tonskulpturen des Italieners Giuseppe Penone bieten sich zum Vergleich an. Giuseppe Penone. Die Adern des Steins. Katalogbuch zur Ausstellung im Kunstmuseum Bonn 1997. Ostfildern-Ruit: Cantz 1997, S. 162–177.
[5] Der Begriff „Schirm“ wird hier in seiner verallgemeinerten Wortbedeutung verwendet, als (ehemals gewölbte) Fläche, die ein Bild erscheinen lässt. Die in der etymologischen Herleitung von Bildschirm, ècran oder screen inbegriffene schützende Abschirmung, wie sie u.a. im Zusammenhang mit Rückprojektionen (optische Abschirmung der bilderzeugenden Apparatur) oder dem Strahlenschutz (Röhrenfernseher) wichtig waren, bleibt unberücksichtigt.
[6] Vgl. u.a. Ausst.-Kat. Drawing Now, Museum of Modern Art. Baden-Baden 1976. Ausst.-Kat. Afterimage. Drawing through process, (Cornelia H. Butler), Museum of Contemporary Art. Los Angeles 1999. Ausst.-Kat. Gegen den Strich. Neue Formen der Zeichnung, Hg. Markus Heinzelmann u. Matthias Winzen, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden. Nürnberg 2004. Ausst.-Kat. Drawing from the Modern, 1975–2005, Mus. of Modern Art (Jordan Kantor). New York 2005. Glasmeier 2014.
[7] Der Kunstpädagoge Gert Selle hat in den neunzehnhundertachtziger Jahren die Bedeutung dieser Rückbindung an ein physisches Erleben für eine authentische, künstlerische Ausdrucksweise herausstellt und seine Studierenden durch elementarpraktischen Übungen dafür sensibilisierte. Vgl. Selle 1988.
[8] „Während Chandra mit einem Stift auf meinem Rücken malt, versuche ich die Bewegung zu verdoppeln und male auf der Wand. Ihre Bewegung stimuliert eine Art kinetischer Reaktion meiner Nerven. Sie malt daher ‚durch mich‘. Sinnesverzögerung verursacht die Differenzen zwischen den beiden Zeichnungen. Oppenheim hat das Konzept auf Farbfilm wie als Videovariante realisiert (ZKM Videosammlung). http://www.medienkunstnetz.de/werke/two-stage-transfer/ (Stand 19.12.19).
[9] Vgl. auch das Kapitel „Zeichnen als umgesetzte Bewegung“, Selle 1988, S. 189–206.
[10] Ich danke Pia Gonschorek für ihr Einverständnis, in diesem Beitrag aus ihrer Masterarbeit zitieren und ihre Abbildungen verwenden zu dürfen.
[11] Flusser beschreibt in seinem Buch weiterhin Gesten der Wahrnehmung, des Begreifens, Verstehens, Herstellens, Gesten des Untersuchens, des Erzeugens, der Entscheidung, des Werkzeugmachens, der Verwirklichung und der Darreichung des Gefertigten. Flusser 1991.
[12] Der geübte Vollzug von Handhabungen oder die ausschließliche Konzentration auf das im Entstehen begriffene Produkt können den Körpereinsatz auch weitgehend vergessen machen. Die Handhabungen laufen dann, vom impliziten Wissen koordiniert, weitgehend automatisiert ab oder sind dem Diktat eines geistigen Vorstellungsbildes untergeordnet.
[13] Stéphane Mallarmé bezeichnete damit in einem Sonett die bewusst unscharfen Fotografien von Tänzerinnen, die Edgar Degas in seinem Atelier angefertigt hatte. Vgl. Huschka, Sabine: Merce Cunningham und der Moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2000, S. 57.
[14] „Der künstlerische Wert meiner Arbeit liegt in den grafischen Notationen, die von einem spezifischen Erkenntnisinteresse, der Sichtbarmachung eines Prozesses, einer Handbewegung, geleitet ist. Jede Zeichnung stellt eine Art Bewegungsporträt dar, da sie den individuellen Bewegungsverlauf auf einen Blick zeigt. Die Graphiken haben diese Bewegungen verdichtet und können als eigenständige Zeichnungen für sich stehen.“ Gonschorek 2014, S. 28.
[15] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=z7-6ag8W2yA; https://vimeo.com/333567976; http://www.straebel.de/praxis/index.html?/praxis/text/t-ohara_d.htm (Stand 28.12.19).
[16] Von Aufzeichnungen, wie sie in der „Motografie“ durch motodiagnostische Registriertechniken von Bewegungen und Bewegungsmustern angestrebt werden, ist Gonschorek jedoch weit entfernt. Eher ließen sich Verbindungen zu den audiovisuellen Strategien der Künstlerin Anette Rose herstellen, mit denen sie implizites Wissen im Umgang mit Dingen sichtbar macht. Gegenstand ihrer Dokumentationen sind neben Arbeits- und Produktionsprozessen auch wissenschaftliche Praktiken, anhand derer die Künstlerin in einem Langzeitprojekt dem Zusammenspiel von haptischer Erfahrung und Denken, Greifen und Begreifen nachgeht. Auf diese Weise veranschaulicht sie Verbindungen zwischen Körper, Werkzeug und Gegenstand und fragt danach, wie sich manuelles Wissen im Umgang mit Materialien in den Körper einschreibt oder wie Handhabungen in Maschinenbewegungen übersetzt werden. Rose 2014.
[17] Untersuchungen von C. Heil zeigen, wie sich das analytisch-visualisierende Verfahren gewinnbringend im Rahmen kunstpädagogischer Forschung auf Bereiche des Lernens und Lehrens anwenden lässt. Heil 2009 u. 2012.
[18] M. Rebstock arbeitet in einer dreiteiligen Systematisierung folgende Unterscheidungen heraus: Forschung über ästhetische Praxis (bspw. über die ästhetische Praxis von Grundschulkindern), Forschung in ästhetischer Praxis (Forschung, die sich im Ästhetisch-Künstlerischen vollzieht, hier erhält das Artefakt den Status eines Forschungsergebnisses, artistic research) und Forschung durch Ästhetische Praxis, die zum methodischen Instrumentarium innerhalb wissenschaftlicher Forschung wird, indem sie auf etwas zeigt und Fragen aufwirft. Rebstock 2017, S. 29.
[19] Für das weiter gefasste Feld kulturellen Handelns sei, so Rebstock, auch „für die wissenschaftliche Beschäftigung mit ästhetischer Praxis […] ein gewisses Maß an eigener, verkörperter, gelebter ästhetischer Praxis nötig.“ Rebstock 2017, S. 37
[20] Zum körperlichen Nachvollzug als grundlegende Form des Verstehens vgl. den Beitrag von Matthias Vogel in dieser Ausgabe der ZÄB. Vogel, Matthias: Nicht ohne meinen Körper. Zur Erfahrung von Sinn in der bildenden Kunst und Musik, bes. Anm. 2.