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Das körperbezogene Bildungskonzept der Rhythmik

Dorothea Weise

 

[Beitrag als PDF]

Im Mod­ul „Musikalis­che Grup­pe­nar­beit“ biete ich für Lehramts-Studierende Musik an der Uni­ver­sität der Kün­ste Berlin die Ver­anstal­tung Rhyth­mik an. Diese kann nach einem einse­mes­tri­gen Grund­kurs mit einem Kurs zur Grup­pen­leitung fort­ge­führt und weit­erge­hend ins­ge­samt über vier Semes­ter als Pro­fil belegt wer­den. Die Ankündi­gung zum Grund­kurs Rhyth­mik lautet: „Im Mit­telpunkt der Ver­anstal­tung ste­ht ein bewe­gung­sori­en­tiert­er Zugang zu Musik. Die Ver­feinerung der Wahrnehmung, Explo­ration und Gestal­tung in Bewe­gung bilden dabei wesentliche Erfahrungs-, Aktions- und Inter­ak­tion­sräume für die Gruppe. Musik wird im Hin­blick auf ihre Gestal­tungse­le­mente wie z. B. Phrasierung, Dynamik, Artiku­la­tion, Rhyth­mus, For­mge­bung physisch erfahren und der Prozess des Hörens erweit­ert sich zu einem kör­per­lichen Akt — The Lis­ten­ing Body.“

Im ver­gan­genen Semes­ter äußerte ein Stu­dent am Schluss der let­zten Stunde, in der wir Rückschau auf das Semes­ter hiel­ten, er habe den Kurs als Übung dafür genom­men, seine Kom­fort-Zone zu ver­lassen. Aber es sei ihm zuweilen schw­erge­fall­en, sich auf die Impro­vi­sa­tion­sauf­gaben mit Bewe­gung einzu­lassen. Auf meine Nach­frage, was ihm daran schw­erge­fall­en sei, nan­nte er ‚Aus­druck‘. Aufge­fordert die Ursache seines gele­gentlichen Unwohl­seins noch präzis­er zu benen­nen, antwortete er, es sei über­haupt schwierig, sich mit seinem Kör­p­er in einem nicht ver­traut­en Kon­text zu zeigen; das sei manch­mal nachger­ade pein­lich. Glück­licher­weise ver­fügte er eine prag­ma­tis­che Ein­stel­lung und fand, dass die sehr exper­i­men­tier­freudi­ge Gruppe ihm die Sache erle­ichtert habe.

Zwei von vie­len möglichen Gedanken scheinen mir hier im Rah­men der Tagung kör­p­er. bewusst von Bedeu­tung zu sein:

  1. das ver­mut­lich geringe Maß an kör­per­lich­er Erfahrung und Ent­fal­tung in Verbindung mit Musik im Kon­text Unter­richt;
  2. die Wirk­samkeit von Bewusst­sein als Zen­sor, der das Ein­tauchen in die kör­per­liche Erfahrung ver­hin­dert und nicht wohlwol­lend, son­dern von der Warte eines kri­tis­chen Zuschauers aus, die unge­wohn­ten Bewe­gun­gen kom­men­tiert.

Entste­hung und Entwick­lung der Rhyth­mik im Überblick

Als der Gen­fer Musikpäd­a­goge und Kom­pon­ist Émile Jaques-Dal­croze zu Beginn des 20. Jahrhun­derts seine kün­st­lerisch-päd­a­gogis­che Lehre der Inter­me­di­al­ität von Musik und Bewe­gung entwick­elt, trifft er mit sein­er Hin­wen­dung zum Rhyth­mus und zur Kör­per­lichkeit den dama­li­gen Zeit­geist reform­päd­a­gogis­ch­er und leben­sre­formerisch­er Bestre­bun­gen. Er schreibt 1906 im Vor­wort seines Ban­des Rhyth­mis­che Gym­nas­tik: „Die Fähigkeit musikalis­chen Rhyth­mus zu empfind­en – der Sinn für Rhyth­mus – ist nicht lediglich Ver­standessache, sie ist im Wesen kör­per­lich.“[1]

Dal­croze bemän­gelt an seinen Klavier­schülern die fehlende Empfind­ungs­fähigkeit für Ton­dauern. Am Klavier ist dies ein häu­fig zu beobach­t­en­des Phänomen, da der Ton nach dem Anschlag der Taste nicht aktiv am Leben erhal­ten wird, wie das bei Stre­ich- und Blasin­stru­menten oder beim Sin­gen der Fall ist. Der Ton begin­nt unmit­tel­bar nach dem Auftr­e­f­fen des Häm­merchens an der Saite zu ster­ben. Das inner­liche Mitvol­lziehen ein­er Ton­dauer – nicht etwa das Aushalten als Ter­mi­nus des Erlei­dens – mit­tels Kör­per­be­we­gung als raumzeitlich­es Phänomen zu erfahren, ist zunächst die Basis der Dal­croze-Meth­ode.

Rhyth­mis­che Übung im Tessenow­er Son­nen­bad von Heller­au

Dal­croze iden­ti­fiziert Rhyth­mus als die stärk­ste Kraft der Musik ein­er­seits und als struk­turi­eren­des Merk­mal von Bewe­gung ander­er­seits, wodurch die Beze­ich­nung sein­er musikpäd­a­gogis­chen Lehre nachvol­lziehbar wird. Aber auch weit­ere Para­me­ter der Musik wie Artiku­la­tion, Dynamik, Har­monik und Klang­farbe lassen sich in ihrer zeitlichen Gestalt als rhyth­mis­che Ereignisse wahrnehmen. Die Darstel­lung musikalis­ch­er Struk­turen wer­den von Daniel Zwiener fol­gen­der­maßen beschrieben:[2]

  • Laut­stärke durch Muskel­dy­namik,
  • kurze Zeitwerte durch kleine und rasche, lange Zeitwerte durch langsame und weite Bewe­gun­gen,
  • Ton­höhe durch Bewe­gungsrich­tung, ins­beson­dere der Arme,
  • Har­moniefol­gen durch Abfolge charak­ter­is­tis­ch­er Bewe­gun­gen der Gruppe oder des Einzel­nen,
  • motivisch-the­ma­tis­che Arbeit in der Musik durch the­ma­tis­che Entwick­lung und motivisch-the­ma­tis­che Arbeit der Gesten.

Diesen Trans­for­ma­tion­s­mo­di füge ich hinzu:

  • Klang­far­ben durch Span­nungszu­s­tand und Kör­per­form,
  • Artiku­la­tion durch Gestal­tung des zeitlichen Bewe­gungsver­laufs.

Vor­führung im Fest­spiel­haus Heller­au während der Fest­spiele 1912

In seinen ful­mi­nan­ten Jahren 1911–1914 an der Bil­dungsanstalt für Musik und Rhyth­mus Heller­au bei Dres­den real­isiert Dal­croze die Umset­zung musikalis­ch­er Werke aus dem Barock, der Klas­sik und der Roman­tik in Bewe­gung als sicht­bare Musik und entwirft aus Bewe­gung, Klei­dung, Insze­nierung, Raumgestal­tung und Licht gesamtkün­st­lerisch wirk­ende Vor­führun­gen,  die von den dama­li­gen intellek­tuellen und kün­st­lerischen Pro­tag­o­nis­ten aus ganz Europa besucht wer­den.

War die Kör­per­be­we­gung für Dal­croze vor­wiegend ein Mit­tel für eine ver­fein­erte und empfind­ung­sori­en­tierte musikalis­che Bil­dung, wurde sie schon kurz nach seinem Weg­gang aus Heller­au 1914 von seinen Nach­fol­gern als der Musik eben­bür­tig aufge­fasst und das Fach Körperbildung/Tanz in den Aus­bil­dungskanon für Rhyth­mik aufgenom­men. Ab 1925 wird Rhyth­mik durch den Erlass des Musikpäd­a­gogen und Reform­poli­tik­ers Leo Kesten­berg Aus­bil­dungs­fach an Musikhochschulen.

Impro­vi­sa­tion Musik und Bewe­gung • UdK Berlin

In den deutschsprachi­gen Län­dern löst sich die Rhyth­mik im Ver­lauf ver­schieden­er Entwick­lun­gen von der stren­gen Umset­zung musikalis­ch­er Ver­läufe in Kör­per­be­we­gung und the­ma­tisiert heute stärk­er das Indi­vidu­elle in Wahrnehmung und Gestal­tung[3] sowie die Inter­ak­tion[4] der Beteiligten. In der kör­per­lich-han­del­nden Auseinan­der­set­zung mit Musik und Bewe­gung, mit Lit­er­atur und Werken der Bilden­den Kun­st entste­hen auf­grund inner­er Bilder, äußer­er Vor­gaben und dem sich steten Weit­er­tas­ten in der Befra­gung der Wahrnehmung­sob­jek­te ihrer­seits Wahrnehmung­sob­jek­te in Form von Impro­vi­sa­tio­nen und Gestal­tun­gen. Hier wird nun zunächst die Frage rel­e­vant, wie Wahrnehmung und Bewe­gung zusam­men­hän­gen.

Wahrnehmung und Bewe­gung

Der phänom­e­nol­o­gis­che Zugang mit Bezug auf die Klas­sik­er Edmund Husserl, Mau­rice Mer­leau-Pon­ty und Hel­muth Pless­ner betont eine umwelt­be­zo­gene Leib­lichkeit, die Wahrnehmen, Bewe­gen und Han­deln als Ein­heit ver­ste­ht. Der Leib-Begriff inte­gri­ert das Erlebte und das gegen­wär­tig Erlebende als Ver­flech­tung von inner­er und äußer­er Wahrnehmung im Unter­schied zum anatomisch-phys­i­ol­o­gis­chen Kör­p­er. Kurz gesagt: Ich »bin« ein Leib und »habe« einen Kör­p­er. Dem­nach lassen sich Men­tales und Kör­per­lich­es nicht voneinan­der tren­nen und noch weniger fol­gen unsere Bewe­gun­gen motorischen Pro­gram­men, die als im Gehirn abge­spe­icherte Aktivierungsmuster von Neu­ro­nen und Muskeln abgelegt sind, wie es tra­di­tionelle The­sen vorgeben. Der Neu­ro­bi­ologe und exper­i­mentelle Psy­chologe Franz Mech­sner favorisiert auf­grund sein­er Forschun­gen am Max-Planck-Insti­tut vielmehr die Idee, dass Bewe­gun­gen als men­tale Ereignisse geplant und ges­teuert wer­den: „Men­tale Bewe­gungss­teuerung bedeutet, dass das Erleben das fun­da­men­tale Medi­um der Bewe­gung ist.“[5] Eine unmit­tel­bar men­tale Bewe­gungss­teuerung bet­tet den sich bewe­gen­den Men­schen immer­siv in die wahrgenommene Szener­ie ein. Sie ermöglicht es, Aktio­nen, die Leib und Umwelt in inte­gri­ert­er aufeinan­der bezo­gen­er Form bein­hal­ten, unmit­tel­bar als Wahrnehmungen zu pla­nen und zu steuern. Bewe­gung ist dem­nach nichts anderes als gestal­tete Wahrnehmung.[6]

Im Kon­text der Rhyth­mik bedeutet dies, Sit­u­a­tio­nen herzustellen, die Struk­turen für das Gestal­ten von Wahrnehmungen anbi­eten. Holm­rike Oester­helt-Leis­er, ehe­ma­lige Pro­fes­sorin für Rhyth­mik an der Musikhochschule Köln, kommt zu dem Schluss, dass es nicht primär darum geht, den Men­schen als Ganzes anzus­prechen – da er ohne­hin als Ganzes funk­tion­iert – son­dern ihn auf der Ebene von Teilaspek­ten als Entität zu erfassen.[7] Es gilt also Schw­er­punk­te zu set­zen. Mit Vorstel­lungs­bildern, Mate­ri­alien und Objek­ten, For­men der Inter­ak­tion oder Trans­for­ma­tion­stech­niken existiert in der Rhyth­mik eine Vielzahl von Möglichkeit­en, Kör­per­be­we­gung in Bezug auf Musik oder musikalis­che Ver­laufs­for­men anzure­gen und zu gestal­ten.

Bewe­gungs­gestal­tung zum The­ma Pul­sa­tion • UdK Berlin

In einem Grun­draster für didak­tis­che, method­is­che, ana­lytis­che und ästhetis­che Über­legun­gen unter­schei­det Oester­helt-Leis­er vier Aspek­te:[8]

  • den mor­phol­o­gis­chen Aspekt: die Gliederung, Struk­tur und Geset­zmäßigkeit­en von For­men, Fig­uren und Gestal­ten in Musik und Bewe­gung betr­e­f­fend;
  • den neu­ro­phys­i­ol­o­gis­chen Aspekt: dieser meint die Bah­nung, Anpas­sung und Flex­i­bil­isierung von Bewe­gungs-abläufen und -ver­hal­ten in Reak­tion auf die exterozep­tive und interozep­tive Wahrnehmung;
  • den anthro­pol­o­gisch-psy­chol­o­gis­chen Aspekt: im Hin­blick auf indi­vidu­elle Gestal­tung und per­sön­lichen Aus­druck
  • und den kom­mu­nika­tiv-inter­ak­tiv­en Aspekt: die inter­per­son­elle Bezug­nahme, Selb­st- und Fremd­wahrnehmung, Part­ner- und Grup­penkon­tak­te betr­e­f­fend.

Die Aktions­for­men selb­st sind vielfältig und wer­den stets ent­lang der Maß­gabe indi­vidu­eller Erfahrungs- und Lern­prozesse inner­halb der Gruppe von der Lehrper­son method­isch verzah­nt. Zu nen­nen sind Explo­ration, Exper­i­ment, Spiel, Übung, Beobach­tung, men­tale Technik/inneres Vorstellen, Reflex­ion und Gespräch, Impro­vi­sa­tion und Kom­po­si­tion. Der von Oester­helt-Leis­er geprägte Begriff Tech­nik des Wan­derns[9] kann ins­ge­samt als method­is­che Leitlin­ie ver­standen wer­den, um mul­ti­modale, mul­ti­sen­sorische und dynamisch vielfältige Lern­prozesse zu gestal­ten.

Immer­sion und Bewuss­theit als Kon­stituenten rhyth­mis­chen Geschehens

In den als Rhyth­mu­s­ex­per­i­mente beze­ich­neten Gedanke­naus­führun­gen des amerikanis­chen Musik­the­o­retik­ers und Kom­pon­is­ten Christo­pher Hasty nimmt er Rhyth­mus „[…] als Form dauer­hafter Aufmerk­samkeit […]“ in den Blick, „[…] in der Fes­thal­ten und Bewe­gen zusam­menkom­men – Fes­thal­ten gegen­wär­tiger oder stat­tfind­en­der Ereignisse und Bewe­gung zwis­chen ihnen“.[10] Hasty begreift Rhyth­mus als Ver­laufs­form von Aufmerk­samkeit, als, wie er sagt, gefühlten Vol­lzug im Spüren von Verän­derung. Das Spüren ist bei Hasty aber nicht als pas­siv­er Akt zu ver­ste­hen, Rhyth­mus wird „als die kon­tinuier­liche Erzeu­gung neuer gefühlter Ereignisse“ gedacht.[11] Die Bil­dung solch­er Erfahrungsereignisse, man kön­nte auch sagen Erfahrungs-Gestal­ten geschieht durch Wieder­hol­ung und Ver­gle­ich.

Ein Beispiel: Beim Sehen ein­er tänz­erischen Bewe­gungs­gestal­tung und gle­ichzeit­igem Hören der dazu sich vol­lziehen­den Musik wird etwa ein bes­timmtes Bewe­gungsmo­tiv deut­lich, das sich mit dem entsprechen­dem Ges­tus in der Musik verbindet. D Wiedere­in­treten des Zusam­men­fal­l­ens von Bewe­gungsmo­tiv und musikalis­ch­er Geste wird erwartet, aber nur teil­weise erfüllt, da die Bewe­gung sich nun in einem anderen Kör­perteil vol­lzieht. Das Sehen der Bewe­gung löst möglicher­weise eine Assozi­a­tion aus, die mit mehreren gedanklichen Verknüp­fun­gen vom aktuellen Geschehen wegführt. Erst an ander­er Stelle verbindet sich die Wahrnehmung wieder damit, vielle­icht durch den gedanklichen Aus­flug in verän­dert­er Art.

Die sich in dieser Weise vol­lziehen­den Wech­sel der Fokussierung von Aufmerk­samkeit sind alle­samt Teil des rhyth­mis­chen Prozess­es. Hasty betra­chtet das ständi­ge Knüpfen von Bezü­gen auf ver­schiede­nen Ebe­nen als Aus­prä­gung von Kon­ti­nu­ität im Her­stellen von Verbindung zwis­chen Erfahrungsereignis­sen. Artiku­la­tion und Fluss sind dem­nach keine Gegen­sätze, vielmehr ver­stärken sie sich gegen­seit­ig zu ein­er kom­plex­en und sub­tilen Mis­chung aus unter­schiedlichen Qual­itäten des In-Verbindung-Seins. Hasty ist der Auf­fas­sung, „dass es in kom­plex­en Erfahrun­gen eine Mis­chung aus Verbindung und Verbindungslosigkeit geben muss und dass diese Mis­chung insta­bil ist, und zwar vielle­icht ger­ade in jenen Erfahrun­gen, die wir ›rhyth­misch‹ nen­nen« (Herv.i.O.).[12]

In der Rhyth­mik ist das kör­per­lich-sinnliche In-Verbindung-Kom­men mit Mate­ri­alien und mit Bewe­gung, sei es den eige­nen oder denen ander­er, und eben­so mit Werken aus Musik, Bilden­der Kun­st und Lit­er­atur[13] ein zen­traler Inhalt zur Bil­dung ästhetis­ch­er Erfahrun­gen. Die tätige Auseinan­der­set­zung und das Reflek­tieren darüber bewirken ‚Such-Bewe­gun­gen‘[14] im Spiel von Rezep­tivität, Spon­taneität und kog­ni­tiv­er Erfas­sung. Die Kul­tivierung des Wahrnehmungsver­mö­gens als ein umfassendes In-Verbindung- und In-Aus­tausch-Kom­men mit den Gegen­stän­den der Wahrnehmung erfordert Sen­si­tiv­ität, Mut und Offen­heit.[15]

Zusam­men­fas­sung

Rhyth­mik ist ein kün­st­lerisch-päd­a­gogis­ches Fach, das die Zusam­men­hänge und Wech­sel­wirkun­gen von Musik und Bewe­gung the­ma­tisiert und bear­beit­et. Im Fokus ste­ht der Umgang mit Musik durch einen kör­per­or­i­en­tierten Zugang und das Prinzip der Trans­for­ma­tion als Brücke zwis­chen Wahrnehmung und Aus­druck. Rhyth­mik ver­ste­ht sich als ästhetis­che Bil­dung, sie zielt auf eine ver­fein­erte Wahrnehmungs­fähigkeit und ästhetis­che Sen­si­bil­ität ab. In der päd­a­gogis­chen Prax­is find­et Rhyth­mik immer in Grup­pen statt, daher wird der Inter­ak­tion und Kom­mu­nika­tion in der Ausübung von Musik und Bewe­gung ein beson­der­er Stel­len­wert eingeräumt. Die Bezug­nahme erfol­gt über die Aktions­for­men Explo­ration, Impro­vi­sa­tion, Übung, Gestal­tung und Reflex­ion. Hier­bei wer­den Kör­per­be­we­gung, Instru­mente, Stimme/Sprache und Mate­ri­alien einge­set­zt. Das Nachvol­lziehen und Erfind­en dra­matur­gis­ch­er Konzep­tio­nen als Aus­prä­gung der kün­st­lerischen Pro­duk­tion in der Rhyth­mik bezieht überdies Neue Medi­en, die Kun­st­for­men Lit­er­atur und Bildende Kun­st sowie die Auseinan­der­set­zung mit ver­wandten Büh­nenkün­sten wie Tanz, Szene, Musik­the­ater, Per­for­mance ein.

Lit­er­atur

Hasty, Christo­pher: »Rhyth­mu­s­ex­per­i­mente – Halt und Bewe­gung«, in: Grüny, C./Nanni, M. (Hg.): Rhyth­mus – Bal­ance – Metrum. For­men raumzeitlich­er Organ­i­sa­tion in den Kün­sten, Biele­feld 2014, S. 155–208.

Jaques-Dal­croze, Émile: Rhyth­mis­che Gym­nas­tik. Meth­ode Jaques-Dal­croze, erster Band. Paris 1906.

Mech­sner, Franz: Bewe­gung ist gestal­tete Wahrnehmung in: Stef­fen-Wit­tek, Mar­i­anne / Weise, Dorothea / Zais­er, Dierk (Hg.): Rhyth­mik – Musik und Bewe­gung. Trans­diszi­plinäre Per­spek­tiv­en. Biele­feld: 2019.

Oester­helt-Leis­er, Holm­rike: Bewe­gungsim­pro­vi­sa­tion – Ein Konzept. In: Stef­fen-Wit­tek, Mar­i­anne / Dartsch, Michael (Hg.): Impro­vi­sa­tion. Reflex­io­nen und Prax­is­mod­elle aus Ele­mentar­er Musikpäd­a­gogik und Rhyth­mik, in:. Regens­burg 2014. S. 229–271.

Rit­telmey­er, Chris­t­ian: Ais­the­sis. Zur Bedeu­tung von Kör­p­er-Res­o­nanzen für die ästhetis­che Bil­dung, München 2014.

Schae­fer, Gudrun: Rhyth­mik als inter­ak­tion­späd­a­gogis­ches Konzept. Rem­scheid: 1992

Stef­fen-Wit­tek, Mar­i­anne / Weise, Dorothea / Zais­er, Dierk (Hg.): Rhyth­mik – Musik und Bewe­gung. Trans­diszi­plinäre Per­spek­tiv­en. Biele­feld 2019.

Weise, Dorothea: Der Geschmack der Worte in: Stef­fen-Wit­tek, Mar­i­anne / Dartsch, Michael (Hg.): Impro­vi­sa­tion. Reflex­io­nen und Prax­is­mod­elle aus Ele­mentar­er Musikpäd­a­gogik und Rhyth­mik. Regens­burg 2014. S. 294–301.

Weise, Dorothea: Rhyth­mus und Gestal­tung in: Stef­fen-Wit­tek, Mar­i­anne / Weise, Dorothea / Zais­er, Dierk (Hg.): Rhyth­mik – Musik und Bewe­gung. Biele­feld 2019. S. 113–124.

Zais­er, Dierk: Das Indi­vidu­elle in: Stef­fen-Wit­tek, Mar­i­anne / Weise, Dorothea / Zais­er, Dierk (Hg.): Rhyth­mik – Musik und Bewe­gung. Biele­feld 2019. S. 125–135.

Zwiener, Daniel: Als Bewe­gung sicht­bare Musik. Zur Entwick­lung und Ästhetik der Meth­ode Jaques-Dal­croze in Deutsch­land als musikpäd­a­gogis­che Konzep­tion. Essen 2008.


[1] Jaques-Dal­croze: Rhyth­mis­che Gym­nas­tik, S. VII.

[2] Zwiener: Als Bewe­gung sicht­bare Musik, S. 266.

[3]  Vgl. Zais­er: Das Indi­vidu­elle in: Stef­fen-Wit­tek/ Weise/ Zais­er: Rhyth­mik – Musik und Bewe­gung, S. 125ff.

[4]  Vgl. Schae­fer: Rhyth­mik als inter­ak­tion­späd­a­gogis­ches Konzept.

[5]  Mech­sner: Bewe­gung ist gestal­tete Wahrnehmung in: Stef­fen-Wit­tek/ Weise/ Zais­er (Hg.): Rhyth­mik – Musik   und Bewe­gung, S. 188.

[6]   Ebd. S. 187f.

[7]  Oester­helt-Leis­er: Bewe­gungsim­pro­vi­sa­tion – Ein Konzept in: Stef­fen-Wit­tek/ Dartsch (Hg.): Impro­vi­sa­tion, S.   233.

[8]  Vgl. ebd.: S. 235f.

[9]   Ebd.: S. 238.

[10]  Hasty: Rhyth­mu­s­ex­per­i­mente in: Grüny / Nan­ni (Hg.): Rhyth­mus – Bal­ance – Metrum, S. 155.

[11]  Ebd.: S. 158

[12] Ebd.: S. 167

[13] Vgl. Weise: Der Geschmack der Worte in: Stef­fen-Wit­tek/­Dartsch (Hg.): Impro­vi­sa­tion, S. 294–301.

[14] Rit­telmey­er: Ais­the­sis, S. 160.

[15] Weise: Rhyth­mus und Gestal­tung in: Stef­fen-Wit­tek/Weise/Zais­er (Hg.): Rhyth­mik – Musik und Bewe­gung, S. 121f.

  • 1. April 20207. Mai 2020
Zeit für Inklusion? — Überlegungen zur Relevanz von Zeit, Inklusion und Musik für ein gelingendes Leben
Ent-Bildung und Ent-Didaktisierung ästhetischer Bildung – ein paradoxes Vorhaben?
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