Dirigieren als Zeigen lehren
1) Anleiten musikalischer Praxis als Lernfeld im Schulmusikstudium
Schüler zu musikalischer Praxis anzuleiten, impliziert eine Vielzahl an Tätigkeiten und erfordert mit diesen verbunden vielfältige Fähigkeiten des Lehrenden. Dabei unterscheidet sich eine musizierende Schulklasse in mehrerlei Hinsicht von einem Musikensemble, wie einem (Schul)Chor oder einem (Schul)Orchester. Für das Klassenmusizieren ist kennzeichnend, dass es in seinen Formen und Gegenständen in höherem Maße variiert, als dies bei feststehenden Ensembles der Fall ist: Heute kann es z.B. darum gehen, einen Popsong mit einem Becherspiel zu begleiten, morgen darum, auf Stabspielen mit der Bluestonleiter zu improvisieren und übermorgen soll vielleicht ein Kanon gesungen werden. Diese Vielfalt erklärt sich aus der besonderen Zielperspektive des Klassenmusizierens, das von Hermann Josef Kaiser als Hinführung zu verständiger Musikpraxis aufgefasst wird. (Kaiser 2001, 2010, 2011) Damit ist gemeint, dass das Klassenmusizieren auf Erfahrungen zielt, mit denen sich die Schüler ein artikuliertes Verhältnis zu ihren eigenen Musikpraxen aneignen: Sie sollen wissen, warum sie was wann mit wem tun und verschiedene Möglichkeiten musikalischer Praxis nicht nur kennenlernen, sondern zu ihren individuellen Musikpraxen ins Verhältnis setzen.
Damit Musizieren mit der Schulklasse gelingen kann, bedarf es von Seiten des Lehrenden einer umsichtigen Planung, die im Verlauf des Schuljahrs zu einer Verbesserung der musikalischen Fähigkeiten der Schüler führt. Dazu gehören eine motivierende Stückauswahl, ein fördernder Umgang mit der Stimme, die Einbeziehung funktionaler Warmups, eine abwechslungsreiche Probenmethodik sowie auch eine deutliche Körpersprache. Für die Leitung schulischer Ensembles wie Chor oder Orchester gilt im Prinzip das gleiche. Allerdings rückt hier die Möglichkeit der Aufführung vor Publikum stärker in den Vordergrund. Dies sowie die herkömmlichen Arbeitsprinzipien in feststehenden musikalischen Formationen lassen MusiklehrerInnen hier in die Rolle des Dirigenten bzw. „Probenleiters“ [1] schlüpfen. In der MusiklehrerInnenbildung sind die Fähigkeiten zur Anleitung musikalischer Praxis im Curriculum mehrfach als Zielperspektive berücksichtigt.[2]
Die im Rahmen des Tagungsthemas interessierende Frage nach Aspekten der Körperlichkeit in der Anleitung zu musikalischer Praxis tritt als Thema besonders deutlich im Unterrichtsfach Chordirigieren zutage.[3] Für mich als Didaktikerin stellt sich die Frage nach dem Stellenwert, den das Fach – gerade auch in seiner körperlich-gestischen Dimension – im Schulmusikstudium haben sollte. Wieviel „Dirigiertechnik“ brauchen ein angehende LehrerInnen, die in der Hauptsache Musizierprozesse im Unterricht anleiten können sollen? Für das Musizieren im Unterricht ist eine dirigentische Haltung des Lehrers wegen ihrer frontalen Ausrichtung fragwürdig; so trifft Christopher Wallbaum auf diesen Aspekt bezogen eine Unterscheidung zwischen „moderierter“ und „dirigierter Schulmusik“, wobei die moderierte Form (im Unterschied zur dirigierten) den an schulischen Unterricht allgemein gestellten Anspruch auf Partizipation offenkundig, nämlich an der räumlichen Konstellation sichtbar, erfüllen kann. (Wallbaum 2010, S. 2013) Dass dennoch Chorleitungsunterricht zu den grundlegenden Bestandteilen des Schulmusikstudiums gehört, hängt mit der Erwartung zusammen, dass sich das, was beim Chordirigieren gelernt wird, im Sinne einer allgemeinen Kompetenz des Anleitens von Musizierprozessen auswirkt. Diese Erwartung bildet für die vorliegende Untersuchung den Ausgangspunkt, indem die Spezifik des Dirigierens als Form musikalischen Zeigens[4] herausgearbeitet und anhand modellhafter Situationen veranschaulicht wird. Die Betrachtung hochschulischer Lehre erfolgt dabei auf der Grundlage beobachteter Lehrproben mit Schulmusikstudierenden, die im Rahmen von Bewerbungsverfahren auf Chorleitungsstellen für das Lehramt Musik gehalten wurden.
2) Dirigieren als Zeigen
Das Wort Zeigen hat im alltagssprachlichen Gebrauch vielfältige Konnotationen, wie an Zusammensetzungen – anzeigen, aufzeigen, hinzeigen, sich-zeigen – deutlich wird. Auch in theoretischen Bezugnahmen auf das Zeigen, etwa in der Kunstwissenschaft, der Anthropologie und der Philosophie, ergibt sich kein einheitlicher Begriff, so dass man das Wort als „Oberbegriff, unter dem sich verschiedene Disziplinen gut zum interdisziplinären Gespräch versammeln können“ (Stock & Volbers 2011, S. 10) betrachten kann. Ungeachtet dieser Uneinheitlichkeit der Begriffsverwendung gibt es aber doch ein Gravitationszentrum, das in dem Spannungsfeld zwischen Zeigen und Sagen liegt. (Stock & Volbers, S. 11) Dies legt eine Bezugnahme auf den Zeigen-Begriff nahe, wenn es um das Dirigieren, d.h. um eine gestische Tätigkeit, geht. Zur näheren Bestimmung dieser Tätigkeit als Form des Zeigens gehe ich von den Überlegungen Günter Figals aus, in dessen Ansatz einer sich mit Gadamer und Heidegger auseinandersetzenden hermeneutischen Philosophie das Zeigen resp. das Zeigen der Künste in den Zusammenhang von Sinnverstehen gestellt wird. (vgl. dazu auch Rora 2020)
Mit Günter Figal fasse ich Zeigen als Teil einer Korrelation von Zeigen und Sich-Zeigen auf:
Indem ich auf etwas deute, zeigt es sich. Zeigen ist ein Aufmerksamkeitsgeschehen; es lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Gegebenheit, die damit aus ihrer alltäglichen Unscheinbarkeit heraus in Erscheinung tritt: »Was gezeigt wird, ist in betonter Weise da« (Figal 2010, S. 107) Dabei ist die Umschlagstelle besonders zu beachten: Zeigen ist ein Tun, Sichzeigen ein Geschehen. (Figal 2009, S.206) Beides ist in der Weise aufeinander bezogen, dass es das eine ohne das andere nicht gibt. (Figal 2009, S. 207) Die Zusammengehörigkeit von Zeigen und Sich-Zeigen beinhaltet zugleich eine Differenz: Das Zeigen hat einen Ort, der von dem des Gezeigten unterschieden ist: Ich bin hier und zeige das Gegebene dort.
„Was sich zeigt, gehört nie zum Umkreis des Eigenen; alles, was gezeigt wird, tritt durch das Zeigen aus diesem Umkreis heraus. Was zuvor unauffällig und selbstverständlich war, verliert seine Unauffälligkeit und Selbstverständlichkeit, sobald es in die Aufmerksamkeit des Zeigens tritt. Was zuvor nah war, ist nun entfernt. Was schon entfernt war, tritt in seiner Entferntheit hervor.“ (Figal 2009, S. 207)
Die »deiktische Differenz« (Figal) zwischen Zeigen und Sichzeigen ist allerdings nicht nur in konkret räumlichem Sinne aufzufassen, sondern auch in gedanklichem. Wenn ich auf meinen eigenen Körper zeige, fallen die äußeren Orte des Zeigens und Sich-Zeigens zusammen, ohne dass die deiktische Differenz verschwindet. In besonderer Weise gilt dies für Ausdrucksgebärden: Wenn Peter lacht und sich freut, dann zeigt er in seinem Ausdrucksverhalten Freude und zugleich zeigt sich seine Freude in diesem Verhalten. Im Ausdruck ist die deiktische Differenz »in ein und demselben realisiert.« (Figal 2010, S. 108) Damit ist Ausdrucksverhalten wie Figal sagt »selbst zeigend« (ebd.).
Wie das Ausdrucksverhalten zeigen auch Kunstwerke etwas »an sich selbst«: »[M]it einem Kunstwerk ist etwas da, das für sich und nicht als Eigenschaft oder Zustand des Kunstwerks identifizierbar ist.« (Figal 2010, S. 109). Kunstwerke zeigen aber – anders als Lebewesen in ihrem Ausdrucksverhalten – das, was sie zeigen »vorbehaltlos«: Während Peter heute als sich-freuender Peter und morgen als wütender Peter in Erscheinung treten kann, ist das Zeigen des Kunstwerks nicht disponibel. Der energische Beginn von Beethovens 5. Sinfonie ist von dieser nicht austauschbar. Allerdings zeigt sich dieser energische Beginn für jeden Hörer in eigener Weise, denn das In-Erscheinung-treten bzw. Sich-Zeigen ist auf den Nachvollzug durch den Hörer angewiesen; etwas zeigt sich für jemanden. In Bezug auf Musik als Aufführungskunst ist dabei die Unterscheidung zwischen Partitur und Aufführung zu ergänzen; der Notentext ist unvollständig, er klingt nicht von sich aus, sondern muss zum Klingen gebracht werden. Als „ruhende Möglichkeit“, die „nur anders da sein [kann]– nicht an ihr selbst, sondern an Anderem und durch dieses“ (Figal 2009, S.118), gewinnt er seine klangliche Wirklichkeit erst in der performativen Interpretation, die ihrerseits auch ein Zeigen bzw. Darstellen ist: Performative Interpretation ist ein mimetisches Verhalten, bei dem der Aufführende sich der Musik ähnlich macht, d.h. seinen körperlich-mimischen Ausdruck in den Dienst dessen stellt, was sich zeigen soll.
Die anthropologische Verankerung des Musizierens in das Ausdrucksverhalten wird von Helmuth Plessner (Plessner 1980)[5] herausgearbeitet und hat unter dem Begriff der Verkörperung Eingang in musikpädagogische Argumentationen gefunden.[6]
Welche Funktion hat in dieser Konstellation das Dirigieren? Ich möchte zur Beantwortung dieser Frage von einem paradoxen Beispiel ausgehen:
Bei Youtube findet man unter dem Titel Jonathan dirigiert Beethoven die Videoaufzeichnung eines Dirigats des dreijährigen Jonathans.[7] Er steht auf einem kleinen Schaumstoffpodest in einem Wohnzimmer, das offenbar zugleich als Spielzimmer dient. Im Hintergrund ist eine Vitrine mit Geschirr zu sehen sowie ein Kinderspielzelt. Zu hören ist der 4. Satz aus Beethovens 5. Sinfonie, zu dessen Aufnahme der Dreijährige mit einem Stöckchen dirigiert. Er dirigiert temperamentvoll den dynamischen Verlauf: Im Crescendo werden seine Bewegungen groß und heftig, im Piano macht er sich klein und legt die Hand an die Lippen. Seine Bewegungen geben die wechselnden rhythmischen Impulse sowie auch den Spannungsverlauf des musikalischen Geschehens wieder. Gliederungsmomente – insbesondere die für Beethoven charakteristischen energischen Abschlüsse mit wiederholten kadenzierenden Akkordschlägen – sind an seinen Bewegungen deutlich ablesbar. Dabei kommt Jonathan den musikalischen Impulsen sogar zuvor; er kennt das Stück. In der Überleitung zur Reprise bringt er seine Vorfreude auf die Wiederkehr des kraftvollen Hauptthemas mit einem freudigen Ausruf zur Geltung. Dies dem musikalischen Geschehen Voraussein, das Führen des Stöckchens als Dirigierstab sowie auch ein Alternieren der Blickrichtung, mit dem Jonathan die Instrumentengruppen räumlich zu vergegenwärtigen scheint, erwecken den Eindruck einer Nachahmung. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Jonathan schon mehr als einmal einem Dirigenten zugeschaut hat. Aber es wäre verkürzt, sein Dirigat als bloße Nachahmung dirigentischen Verhaltens zu betrachten; denn seine Bewegungen beziehen sich eng auf die aktuell erklingende Musik, so dass mit gleichem Recht gesagt werden kann, er ahme die Musik nach. Und auch eine Beziehung zum Publikum – der auf dem Video nicht sichtbaren, aber zwischendurch mit ihrem Lachen hörbaren Person hinter der Kamera – ist zweifellos gegeben. Dieses komplexe Gefüge von Nachahmung, So-tun-als-ob und Vorführung scheint mit dem Begriff Spiel zutreffend bezeichnet.
Jonathan zeigt mit seinem Dirigat somit zweierlei: Zum einen stellt er die Tätigkeit des Dirigierens dar, dies geschieht im Modus des spielerischen Als-Ob. Zum anderen bringt er sein Erleben der Musik zum Ausdruck. Als ‚mimische Ausdruckshandlung’ (Stollberg) lässt sich sein Tun als Form thematischen Sinnverstehens auffassen, indem er zulässt, wie die Musik „ein psychisches Echo [weckt], um schließlich im Tanz Haltungen des Leibes hervorzurufen, die den psychischen Spannungen konform sind.« (Plessner 1980, S. 188) [8] Jonathan gelingt damit ein verstehender Zugang zu Musik, der dem erwachsenen Hörer, dessen „Ausdrucksstreben […] durch gesellschaftliche Rücksicht, Ungeschultheit und Trägheit der Seele sich nicht voll entfalten kann“ (Plessner 1980, S.243) aus Sicht Plessners häufig abgeht.
In diesem Zeigen eines »psychischen Echos« auf die Musik entspricht Jonathans Tun auch dem „pantomimischen Vormachen“ von Musik, wie es manche Dirigenten pflegen (Stollberg 2015, S. 17). Wie der Musikwissenschaftler Arne Stollberg deutlich macht, wird der Wert solcherart dirigentischer Körperbewegungen unterschiedlich eingeschätzt. Während die einen sie als Selbstdarstellung und Effekthascherei verurteilen, heben andere ihre Vermittlungsfunktion für das Publikum hervor: Das Publikum erhält die Möglichkeit zu mimetischer Partizipation, indem es die Bewegungen des Dirigenten als Stellvertretung eigener körperlicher Reaktionen auf die Expressivität der Musik erlebt.
Nun fehlt dem Dirigat von Jonathan aber als entscheidendes Element die Interaktion mit den Musikern. Selbst wenn darüber Einigkeit besteht, dass ein Dirigat immer auch auf das Publikum wirkt, bleiben doch seine Hauptadressaten die Musiker. Ihnen gegenüber erscheint der Dirigent nicht selten in einer machtvollen Position; er ist dann derjenige, der bestimmt, auf welche Art die Musik erklingen soll. Dieser Machtanspruch des Dirigenten ist geradezu sprichwörtlich – „Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten“ (Canetti) – und nicht selten werden Dirigenten als Despoten beschrieben. (vgl. Lesle 2002, S. 12) Seinen sachlichen Rückhalt hat der Herrscheranspruch des Dirigenten in seiner Aufgabe und Fähigkeit eine konzeptionelle Gesamtintention vorzugeben. »Der Dirigent hat eine Vision von der Musik, die erklingen soll«, heißt es in einem Buch zum Dirigieren für Chorleiter. (Brödel 2014, S. 12) Genau dieser Anspruch aber ist es, der die Figur und das Aufgabenfeld des Dirigenten als Rollenbild für MusiklehrerInnen verdächtig macht; mit einem zeitgemäßen pädagogischen Verständnis ist die Rolle des Lehrers als Visionär, der den Schülern vorgibt, wie ein Musikstück zu spielen und damit zu verstehen ist, schwer zu vereinbaren.
Für die hochschulische Lehre im Fach Dirigieren für Schulmusiker ergibt sich daraus die Aufgabe eines sensiblen reflektierten Umgangs mit den Möglichkeiten der Rollengestaltung des Dirigenten, in dem der Fokus auf die interaktive Wechselwirkung und gegenseitige Abhängigkeit der beiden Seiten – Musiker und Dirigenten – gelegt wird. Dies trifft zusammen mit modernen Formen der Chorleitung wie sie zum Beispiel von Garbow/Schönherr entfaltet werden, die den „Energiefluss“ zwischen den Sängern und dem Chorleiter thematisieren und Konstellationen vorschlagen, in denen die Sänger Verantwortung für die musikalische Gestaltung übernehmen. (Garbow/ Schönherr 2011, S. 29)
Eine Konzeption des Dirigierens als einkanalige Instruktion widerspricht auch der oben ausgeführten Figur der deiktischen Differenz, bei der dem Anspruch der Zeigehandlung das Sich-Zeigen als unverfügbares Geschehen antwortet. Für diese Differenz möchte ich ein konkretes Beispiel geben: Im Rahmen von Bewerbungsverfahren um Chorleitungsstellen (s.u.) ergab sich Gelegenheit Situationen zu beobachten, in denen die eingeladenen ChorleiterInnen jeweils die Aufgabe hatten, ein Stück mit einem ihnen unbekannten Chor zu proben. Die meisten begannen dies damit, das vorgegebene Stück – das sowohl von ihnen als auch von dem Chor unabhängig voneinander vorbereitet wurde – einmal vollständig unter ihrem Dirigat singen zu lassen. In diesem ersten nonverbalen Zusammenwirken zwischen Dirigent und Chor, die einander fremd sind, scheint es um einen Prozess gegenseitiger Anpassung zu gehen, bei dem offen ist, wessen musikalische Vorstellungen die Oberhand gewinnen. Dies wird besonders deutlich, wenn z.B. der Dirigent während des Durchgangs zeigt, dass die Phrasenenden länger ausklingen sollen. Seine Bewegungen passen dann auf einmal nicht mehr zu dem Fluss des Gesungenen, sie verharren, während der Chor schon Luft für die nächste Phrase holt; die Sänger werden aufmerksam, sie lächeln und folgen nun seinen Impulsen. Neben solcherart gestischem Aushandlungsprozess ist auch an verbalen Korrekturen im Nachgang ablesbar, dass der Chor die Musik in eigener Weise und unabhängig vom Dirigat gestaltet. Der Chor hat in Bezug auf die musikalische Gestaltung somit eine aktive Rolle und der Chorleiter arbeitet immer mit etwas, was schon da ist, d.h. mit dem, was die Sänger hervorbringen. Er modelliert den Klang, indem er einzelne Stimmen – gestisch oder verbal – auffordert hervor- bzw. zurückzutreten, indem er die Artikulation präzisiert; die Phrasierung festlegt. Das Umsetzen der Impulse durch die Sänger ist dabei nicht nur ein passives Folgen, sondern produktive Aktivität; die Sänger müssen die technisch oder bildhaft übermittelten Anweisungen übernehmen und in eigener Weise zu Klang werden lassen, nur so kann sich die interpretatorische Idee zeigen. Eine „Vision“ des Dirigenten von der Musik mag unabhängig von der aktuellen klanglichen Umsetzung gegeben sein – das, was der Dirigent aber in der Probe den Sängern zeigt, korrespondiert dem, was sich zeigt, und ist mit dem, was die Sänger tun, unlösbar verbunden. Der Chorleiter kann Eigenschaften der Musik und seine Interpretation nur in Auseinandersetzung mit der Darstellung der Musik durch die Sänger zeigen: „Schließlich ist es immer der Chor, der das Stück singt – egal ob beim Proben oder auf der Bühne.“ (Carbow/ Schönherr 2011, S. 23)[9]
3) Dirigieren unterrichten für Schulmusiker (Zeigen zeigen)
Wenn wir zu der Tätigkeit des Dirigierens nicht nur die gestische Beteiligung an der Aufführung zählen, sondern das Zeigen in der Probe, das – wie der Dirigent und Hochschullehrer Matthias Foremney sagt — zum „Öffnen der Ohren für die Musik“ (Sichardt 2018, S. 219) und damit zu ihrem Verstehen beitragen und die Interpretation artikulieren soll, hinzurechnen, ist das Erlernen dieser Tätigkeit von hoher Relevanz für angehende Musiklehrer. Wie wird in diesem Bereich gelehrt? Die Betrachtung von Lehrproben in Auswahlverfahren für Hochschulstellen bietet einen guten Anhaltspunkt für die Beantwortung dieser Frage, weil hier der Chorleitungsunterricht für alle Beteiligten zu einem exponierten Gegenstand wird. Die Bewerber zeigen in den Lehrproben nicht nur den Probanden, wie sie dirigieren sollen, sondern sie zeigen zugleich der Kommission, wie sie meinen, dass unterrichtet werden soll. Es ist daher anzunehmen, dass sie z.B. in Lehrproben, in denen sie Anfänger unterrichten, dasjenige, was sie am wichtigsten für Anfängerunterricht halten, in den Mittelpunkt stellen werden.
Was zeigt sich nun in den Lehrproben als wichtigste Elemente von Anfängerunterricht? Die Antwort ist einerseits einfach und deckt sich mit dem Aufbau von Chorleitungsbüchern: Körperhaltung/ Stand; Schlagbilder; Einsätze; Abschlüsse. Ein Ausgehen von dem musikalischen Text im Sinne einer vorgängigen Analyse der musikalisch-rhythmischen Struktur bildet die Ausnahme. Für Anfänger wird somit die körperliche Gestik in den Mittelpunkt des Lernens und Lehrens gestellt. Die Frage, wie in den Lehrproben diese Aspekte gelehrt werden, ist mit Blick auf die Figur des Zeigens in doppelter Weise zu bedenken: einmal in Bezug auf die zu lernenden dirigentischen Gesten als Formen des Zeigens und zum anderen in Bezug auf das Lehren. Interessant erscheint mir die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gegenstand und Form des Lehrens. Muss nicht möglicherweise das Zeigen des Lehrers dem Zeigen des Dirigenten verwandt sein, damit sich für die SchülerInnen der Sinn dirigentischen Zeigens zeigen kann?
Dem Lernpsychologen Hans Aebli zufolge gehört das Zeigen zu den Grundformen des Lehrens (Aebli 1971). Die von ihm dazu formulierten Regeln erscheinen so sinnvoll wie entfernt von einem Zeigen in der bisher von mir thematisierten Bedeutung. Während in dem von Figal entliehenen Begriff des Zeigens der Umschlagpunkt zwischen Zeigen und Sichzeigen hervorgehoben wird und damit die deiktische Differenz, d.h. die Eigenständigkeit des Sichzeigenden – dass es eben nicht vollständig verfügbar und berechenbar ist – ins Zentrum der Zeige-Situation gestellt wird, sieht Aebli das Zeigen des Lehrers als Weg, den zu lernenden Gegenstand umweglos und zielgenau dem Lernenden zugänglich zu machen. Die für das Vor-Zeigen durch den Lehrer aufgestellten Regeln sollen sicherstellen, dass das Gezeigte den Lernenden im Sinne des Zeigenden erscheint und zielen diesbezüglich auf ein Höchstmaß an Kontrolle über den Lerngegenstand: Der Lehrer soll langsam, deutlich, eindringlich die zu lernende Bewegung vormachen, er soll sie in Abschnitte einteilen und diese benennen, da Wortfolgen leichter zu behalten seien als Bewegungen. Die Schüler sollen dann beim Üben der Bewegung diese Benennungen mitsprechen. „Wenn es dann schließlich an die eigene Ausführung geht, wird der Schüler vor der Ausführung häufig innerlich wiederholen, was er in welcher Abfolge tun muß« (Aebli 1971, S. 75).
Es ist offensichtlich, dass dieses Zeigen einer anderen Logik folgt als das Zeigen des Dirigenten. Während dieser etwas zeigt, das sich nur in der Darstellung durch die Sänger zeigen kann, ist es dem vor-zeigende Lehrer aus Aeblis Sicht möglich, voll und ganz über das Gezeigte zu verfügen. Wie ist das nun in den Lehrproben? Werden Dirigiergesten gezeigt wie es Aebli für andere Bewegung (zum Beispiel Skifahren) vorschlägt oder rechnen die Lehrenden mit einem Umschlag zwischen Zeigen und Sichzeigen?
Um es kurz zu machen: Ein solch engmaschiges Vorzeigen, wie es Aebli empfiehlt, ließ sich nicht beobachten. Aber ein Gefälle zwischen Herangehensweisen wurde durchaus deutlich. Zwei aus meiner Sicht kontrastierende Unterrichtsausschnitte sollen das verdeutlichen:
Der Unterricht von Lehrer A läuft schon ein paar Minuten. A improvisiert am Klavier und die Probanden schlagen gemeinsam einen 2er Takt. Nun soll es um das Einsatzgeben gehen. A: „Für den Einsatz brauchen wir einen Vorbereitungsschlag. Welcher ist das hier?“ Sein Tonfall macht deutlich, dass er dies für eine leichte Frage hält. Die Tln antworten entsprechend und taktieren nun so, dass immer der 2. Schlag den Einsatzimpuls für den neuen Takt bildet. A taktiert mit ihnen zusammen und erklärt dabei, worauf zu achten ist. Zwischendurch