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Dirigieren als Zeigen lehren

Constanze Rora

 

[Beitrag als PDF]

1) Anleit­en musikalis­ch­er Prax­is als Lern­feld im Schul­musik­studi­um

Schüler zu musikalis­ch­er Prax­is anzuleit­en, impliziert eine Vielzahl an Tätigkeit­en und erfordert mit diesen ver­bun­den vielfältige Fähigkeit­en des Lehren­den. Dabei unter­schei­det sich eine musizierende Schulk­lasse in mehrerlei Hin­sicht von einem Musikensem­ble, wie einem (Schul)Chor oder einem (Schul)Orchester. Für das Klassen­mu­sizieren ist kennze­ich­nend, dass es in seinen For­men und Gegen­stän­den in höherem Maße vari­iert, als dies bei fest­ste­hen­den Ensem­bles der Fall ist: Heute kann es z.B. darum gehen, einen Pop­song mit einem Bech­er­spiel zu begleit­en, mor­gen darum, auf Stab­spie­len mit der Blue­ston­leit­er zu impro­visieren und über­mor­gen soll vielle­icht ein Kanon gesun­gen wer­den. Diese Vielfalt erk­lärt sich aus der beson­deren Zielper­spek­tive des Klassen­mu­sizierens, das von Her­mann Josef Kaiser als Hin­führung zu ver­ständi­ger Musikprax­is aufge­fasst wird. (Kaiser 2001, 2010, 2011) Damit ist gemeint, dass das Klassen­mu­sizieren auf Erfahrun­gen zielt, mit denen sich die Schüler ein artikuliertes Ver­hält­nis zu ihren eige­nen Musikprax­en aneignen: Sie sollen wis­sen, warum sie was wann mit wem tun und ver­schiedene Möglichkeit­en musikalis­ch­er Prax­is nicht nur ken­nen­ler­nen, son­dern zu ihren indi­vidu­ellen Musikprax­en ins Ver­hält­nis set­zen.

Damit Musizieren mit der Schulk­lasse gelin­gen kann, bedarf es von Seit­en des Lehren­den ein­er umsichti­gen Pla­nung, die im Ver­lauf des Schul­jahrs zu ein­er Verbesserung der musikalis­chen Fähigkeit­en der Schüler führt. Dazu gehören eine motivierende Stück­auswahl, ein fördern­der Umgang mit der Stimme, die Ein­beziehung funk­tionaler Warmups, eine abwech­slungsre­iche Proben­methodik sowie auch eine deut­liche Kör­per­sprache. Für die Leitung schulis­ch­er Ensem­bles wie Chor oder Orch­ester gilt im Prinzip das gle­iche. Allerd­ings rückt hier die Möglichkeit der Auf­führung vor Pub­likum stärk­er in den Vorder­grund. Dies sowie die herkömm­lichen Arbeit­sprinzip­i­en in fest­ste­hen­den musikalis­chen For­ma­tio­nen lassen Musik­lehrerIn­nen hier in die Rolle des Diri­gen­ten bzw. „Proben­leit­ers“ [1] schlüpfen. In der Musik­lehrerIn­nen­bil­dung sind die Fähigkeit­en zur Anleitung musikalis­ch­er Prax­is im Cur­ricu­lum mehrfach als Zielper­spek­tive berück­sichtigt.[2]

Die im Rah­men des Tagungs­the­mas inter­essierende Frage nach Aspek­ten der Kör­per­lichkeit in der Anleitung zu musikalis­ch­er Prax­is tritt als The­ma beson­ders deut­lich im Unter­richts­fach Chordi­rigieren zutage.[3] Für mich als Didak­tik­erin stellt sich die Frage nach dem Stel­len­wert, den das Fach – ger­ade auch in sein­er kör­per­lich-gestis­chen Dimen­sion – im Schul­musik­studi­um haben sollte. Wieviel „Dirigiertech­nik“ brauchen ein ange­hende LehrerIn­nen, die in der Haupt­sache Musizier­prozesse im Unter­richt anleit­en kön­nen sollen? Für das Musizieren im Unter­richt ist eine diri­gen­tis­che Hal­tung des Lehrers wegen ihrer frontal­en Aus­rich­tung frag­würdig; so trifft Christo­pher Wall­baum auf diesen Aspekt bezo­gen eine Unter­schei­dung zwis­chen „mod­eriert­er“ und „dirigiert­er Schul­musik“, wobei die mod­erierte Form (im Unter­schied zur dirigierten) den an schulis­chen Unter­richt all­ge­mein gestell­ten Anspruch auf Par­tizipa­tion offenkundig, näm­lich an der räum­lichen Kon­stel­la­tion sicht­bar, erfüllen kann. (Wall­baum 2010, S. 2013) Dass den­noch Chor­leitung­sun­ter­richt zu den grundle­gen­den Bestandteilen des Schul­musik­studi­ums gehört, hängt mit der Erwartung zusam­men, dass sich das, was beim Chordi­rigieren gel­ernt wird, im Sinne ein­er all­ge­meinen Kom­pe­tenz des Anleit­ens von Musizier­prozessen auswirkt. Diese Erwartung bildet für die vor­liegende Unter­suchung den Aus­gangspunkt, indem die Spez­i­fik des Dirigierens als Form musikalis­chen Zeigens[4] her­aus­gear­beit­et und anhand mod­ell­hafter Sit­u­a­tio­nen ver­an­schaulicht wird. Die Betra­ch­tung hochschulis­ch­er Lehre erfol­gt dabei auf der Grund­lage beobachteter Lehrproben mit Schul­musik­studieren­den, die im Rah­men von Bewer­bungsver­fahren auf Chor­leitungsstellen für das Lehramt Musik gehal­ten wur­den.

2) Dirigieren als Zeigen

Das Wort Zeigen hat im all­t­agssprach­lichen Gebrauch vielfältige Kon­no­ta­tio­nen, wie an Zusam­menset­zun­gen – anzeigen, aufzeigen, hinzeigen, sich-zeigen – deut­lich wird. Auch in the­o­retis­chen Bezug­nah­men auf das Zeigen, etwa in der Kunst­wissenschaft, der Anthro­polo­gie und der Philoso­phie, ergibt sich kein ein­heitlich­er Begriff, so dass man das Wort als „Ober­be­griff, unter dem sich ver­schiedene Diszi­plinen gut zum inter­diszi­plinären Gespräch ver­sam­meln kön­nen“ (Stock & Vol­bers 2011, S. 10) betra­cht­en kann. Ungeachtet dieser Unein­heitlichkeit der Begriffsver­wen­dung gibt es aber doch ein Grav­i­ta­tion­szen­trum, das in dem Span­nungs­feld zwis­chen Zeigen und Sagen liegt. (Stock & Vol­bers, S. 11) Dies legt eine Bezug­nahme auf den Zeigen-Begriff nahe, wenn es um das Dirigieren, d.h. um eine gestis­che Tätigkeit, geht. Zur näheren Bes­tim­mung dieser Tätigkeit als Form des Zeigens gehe ich von den Über­legun­gen Gün­ter Figals aus, in dessen Ansatz ein­er sich mit Gadamer und Hei­deg­ger auseinan­der­set­zen­den hermeneutis­chen Philoso­phie das Zeigen resp. das Zeigen der Kün­ste in den Zusam­men­hang von Sin­nver­ste­hen gestellt wird. (vgl. dazu auch Rora 2020)

Mit Gün­ter Figal fasse ich Zeigen als Teil ein­er Kor­re­la­tion von Zeigen und Sich-Zeigen auf:

Indem ich auf etwas deute, zeigt es sich. Zeigen ist ein Aufmerk­samkeits­geschehen; es lenkt die Aufmerk­samkeit auf eine Gegeben­heit, die damit aus ihrer alltäglichen Unschein­barkeit her­aus in Erschei­n­ung tritt: »Was gezeigt wird, ist in beton­ter Weise da« (Figal 2010, S. 107) Dabei ist die Umschlag­stelle beson­ders zu beacht­en: Zeigen ist ein Tun, Sichzeigen ein Geschehen. (Figal 2009, S.206) Bei­des ist in der Weise aufeinan­der bezo­gen, dass es das eine ohne das andere nicht gibt. (Figal 2009, S. 207) Die Zusam­menge­hörigkeit von Zeigen und Sich-Zeigen bein­hal­tet zugle­ich eine Dif­ferenz: Das Zeigen hat einen Ort, der von dem des Gezeigten unter­schieden ist: Ich bin hier und zeige das Gegebene dort.

„Was sich zeigt, gehört nie zum Umkreis des Eige­nen; alles, was gezeigt wird, tritt durch das Zeigen aus diesem Umkreis her­aus. Was zuvor unauf­fäl­lig und selb­stver­ständlich war, ver­liert seine Unauf­fäl­ligkeit und Selb­stver­ständlichkeit, sobald es in die Aufmerk­samkeit des Zeigens tritt. Was zuvor nah war, ist nun ent­fer­nt. Was schon ent­fer­nt war, tritt in sein­er Ent­fer­n­theit her­vor.“ (Figal 2009, S. 207)

Die »deik­tis­che Dif­ferenz« (Figal) zwis­chen Zeigen und Sichzeigen ist allerd­ings nicht nur in konkret räum­lichem Sinne aufz­u­fassen, son­dern auch in gedanklichem. Wenn ich auf meinen eige­nen Kör­p­er zeige, fall­en die äußeren Orte des Zeigens und Sich-Zeigens zusam­men, ohne dass die deik­tis­che Dif­ferenz ver­schwindet. In beson­der­er Weise gilt dies für Aus­drucks­ge­bär­den: Wenn Peter lacht und sich freut, dann zeigt er in seinem Aus­drucksver­hal­ten Freude und zugle­ich zeigt sich seine Freude in diesem Ver­hal­ten. Im Aus­druck ist die deik­tis­che Dif­ferenz »in ein und dem­sel­ben real­isiert.« (Figal 2010, S. 108) Damit ist Aus­drucksver­hal­ten wie Figal sagt »selb­st zeigend« (ebd.).

Wie das Aus­drucksver­hal­ten zeigen auch Kunst­werke etwas »an sich selb­st«: »[M]it einem Kunst­werk ist etwas da, das für sich und nicht als Eigen­schaft oder Zus­tand des Kunst­werks iden­ti­fizier­bar ist.« (Figal 2010, S. 109). Kunst­werke zeigen aber – anders als Lebe­we­sen in ihrem Aus­drucksver­hal­ten – das, was sie zeigen »vor­be­halt­los«: Während Peter heute als sich-freuen­der Peter und mor­gen als wüten­der Peter in Erschei­n­ung treten kann, ist das Zeigen des Kunst­werks nicht disponi­bel. Der ener­gis­che Beginn von Beethovens 5. Sin­fonie ist von dieser nicht aus­tauschbar. Allerd­ings zeigt sich dieser ener­gis­che Beginn für jeden Hör­er in eigen­er Weise, denn das In-Erschei­n­ung-treten bzw. Sich-Zeigen ist auf den Nachvol­lzug durch den Hör­er angewiesen; etwas zeigt sich für jeman­den. In Bezug auf Musik als Auf­führungskun­st ist dabei die Unter­schei­dung zwis­chen Par­ti­tur und Auf­führung zu ergänzen; der Noten­text ist unvoll­ständig, er klingt nicht von sich aus, son­dern muss zum Klin­gen gebracht wer­den. Als „ruhende Möglichkeit“, die „nur anders da sein [kann]– nicht an ihr selb­st, son­dern an Anderem und durch dieses“ (Figal 2009, S.118), gewin­nt er seine klan­gliche Wirk­lichkeit erst in der per­for­ma­tiv­en Inter­pre­ta­tion, die ihrer­seits auch ein Zeigen bzw. Darstellen ist: Per­for­ma­tive Inter­pre­ta­tion ist ein mimetis­ches Ver­hal­ten, bei dem der Auf­führende sich der Musik ähn­lich macht, d.h. seinen kör­per­lich-mimis­chen Aus­druck in den Dienst dessen stellt, was sich zeigen soll.

Die anthro­pol­o­gis­che Ver­ankerung des Musizierens in das Aus­drucksver­hal­ten wird von Hel­muth Pless­ner (Pless­ner 1980)[5] her­aus­gear­beit­et und hat unter dem Begriff der Verkör­pe­rung Ein­gang in musikpäd­a­gogis­che Argu­men­ta­tio­nen gefun­den.[6]

Welche Funk­tion hat in dieser Kon­stel­la­tion das Dirigieren? Ich möchte zur Beant­wor­tung dieser Frage von einem para­dox­en Beispiel aus­ge­hen:

Bei Youtube find­et man unter dem Titel Jonathan dirigiert Beethoven die Videoaufze­ich­nung eines Diri­gats des drei­jähri­gen Jonathans.[7] Er ste­ht auf einem kleinen Schaum­stoff­podest in einem Wohnz­im­mer, das offen­bar zugle­ich als Spielz­im­mer dient. Im Hin­ter­grund ist eine Vit­rine mit Geschirr zu sehen sowie ein Kinder­spielzelt. Zu hören ist der 4. Satz aus Beethovens 5. Sin­fonie, zu dessen Auf­nahme der Drei­jährige mit einem Stöckchen dirigiert. Er dirigiert tem­pera­mentvoll den dynamis­chen Ver­lauf: Im Crescen­do wer­den seine Bewe­gun­gen groß und heftig, im Piano macht er sich klein und legt die Hand an die Lip­pen. Seine Bewe­gun­gen geben die wech­sel­nden rhyth­mis­chen Impulse sowie auch den Span­nungsver­lauf des musikalis­chen Geschehens wieder. Gliederungsmo­mente – ins­beson­dere die für Beethoven charak­ter­is­tis­chen ener­gis­chen Abschlüsse mit wieder­holten kaden­zieren­den Akko­rd­schlä­gen – sind an seinen Bewe­gun­gen deut­lich ables­bar. Dabei kommt Jonathan den musikalis­chen Impulsen sog­ar zuvor; er ken­nt das Stück. In der Über­leitung zur Reprise bringt er seine Vor­freude auf die Wiederkehr des kraftvollen Haupt­the­mas mit einem freudi­gen Aus­ruf zur Gel­tung. Dies dem musikalis­chen Geschehen Voraus­sein, das Führen des Stöckchens als Dirigier­stab sowie auch ein Alternieren der Blick­rich­tung, mit dem Jonathan die Instru­menten­grup­pen räum­lich zu verge­gen­wär­ti­gen scheint, erweck­en den Ein­druck ein­er Nachah­mung. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Jonathan schon mehr als ein­mal einem Diri­gen­ten zugeschaut hat. Aber es wäre verkürzt, sein Diri­gat als bloße Nachah­mung diri­gen­tis­chen Ver­hal­tens zu betra­cht­en; denn seine Bewe­gun­gen beziehen sich eng auf die aktuell erklin­gende Musik, so dass mit gle­ichem Recht gesagt wer­den kann, er ahme die Musik nach. Und auch eine Beziehung zum Pub­likum – der auf dem Video nicht sicht­baren, aber zwis­chen­durch mit ihrem Lachen hör­baren Per­son hin­ter der Kam­era – ist zweifel­los gegeben. Dieses kom­plexe Gefüge von Nachah­mung, So-tun-als-ob und Vor­führung scheint mit dem Begriff Spiel zutr­e­f­fend beze­ich­net.

Jonathan zeigt mit seinem Diri­gat somit zweier­lei: Zum einen stellt er die Tätigkeit des Dirigierens dar, dies geschieht im Modus des spielerischen Als-Ob. Zum anderen bringt er sein Erleben der Musik zum Aus­druck. Als ‚mimis­che Aus­druck­shand­lung’ (Stoll­berg) lässt sich sein Tun als Form the­ma­tis­chen Sin­nver­ste­hens auf­fassen, indem er zulässt, wie die Musik „ein psy­chis­ches Echo [weckt], um schließlich im Tanz Hal­tun­gen des Leibes her­vorzu­rufen, die den psy­chis­chen Span­nun­gen kon­form sind.« (Pless­ner 1980, S. 188) [8]  Jonathan gelingt damit ein ver­ste­hen­der Zugang zu Musik, der dem erwach­se­nen Hör­er, dessen „Aus­drucksstreben […] durch gesellschaftliche Rück­sicht, Ungeschultheit und Trägheit der Seele sich nicht voll ent­fal­ten kann“ (Pless­ner 1980, S.243) aus Sicht Pless­ners häu­fig abge­ht.

In diesem Zeigen eines »psy­chis­chen Echos« auf die Musik entspricht Jonathans Tun auch dem „pan­tomimis­chen Vor­ma­chen“ von Musik, wie es manche Diri­gen­ten pfle­gen (Stoll­berg 2015, S. 17). Wie der Musik­wis­senschaftler Arne Stoll­berg deut­lich macht, wird der Wert solcher­art diri­gen­tis­ch­er Kör­per­be­we­gun­gen unter­schiedlich eingeschätzt. Während die einen sie als Selb­st­darstel­lung und Effek­thascherei verurteilen, heben andere ihre Ver­mit­tlungs­funk­tion für das Pub­likum her­vor: Das Pub­likum erhält die Möglichkeit zu mimetis­ch­er Par­tizipa­tion, indem es die Bewe­gun­gen des Diri­gen­ten als Stel­lvertre­tung eigen­er kör­per­lich­er Reak­tio­nen auf die Expres­siv­ität der Musik erlebt.

Nun fehlt dem Diri­gat von Jonathan aber als entschei­den­des Ele­ment die Inter­ak­tion mit den Musik­ern. Selb­st wenn darüber Einigkeit beste­ht, dass ein Diri­gat immer auch auf das Pub­likum wirkt, bleiben doch seine Haup­tadres­sat­en die Musik­er. Ihnen gegenüber erscheint der Diri­gent nicht sel­ten in ein­er machtvollen Posi­tion; er ist dann der­jenige, der bes­timmt, auf welche Art die Musik erklin­gen soll. Dieser Mach­tanspruch des Diri­gen­ten ist ger­adezu sprich­wörtlich – „Es gibt keinen anschaulicheren Aus­druck für Macht als die Tätigkeit des Diri­gen­ten“ (Canet­ti) – und nicht sel­ten wer­den Diri­gen­ten als Despoten beschrieben. (vgl. Lesle 2002, S. 12) Seinen sach­lichen Rück­halt hat der Herrscher­anspruch des Diri­gen­ten in sein­er Auf­gabe und Fähigkeit eine konzep­tionelle Gesamt­in­ten­tion vorzugeben. »Der Diri­gent hat eine Vision von der Musik, die erklin­gen soll«, heißt es in einem Buch zum Dirigieren für Chor­leit­er. (Brödel 2014, S. 12) Genau dieser Anspruch aber ist es, der die Fig­ur und das Auf­gaben­feld des Diri­gen­ten als Rol­len­bild für Musik­lehrerIn­nen verdächtig macht; mit einem zeit­gemäßen päd­a­gogis­chen Ver­ständ­nis ist die Rolle des Lehrers als Visionär, der den Schülern vorgibt, wie ein Musik­stück zu spie­len und damit zu ver­ste­hen ist, schw­er zu vere­in­baren.

Für die hochschulis­che Lehre im Fach Dirigieren für Schul­musik­er ergibt sich daraus die Auf­gabe eines sen­si­blen reflek­tierten Umgangs mit den Möglichkeit­en der Rol­lengestal­tung des Diri­gen­ten, in dem der Fokus auf die inter­ak­tive Wech­sel­wirkung und gegen­seit­ige Abhängigkeit der bei­den Seit­en – Musik­er und Diri­gen­ten – gelegt wird. Dies trifft zusam­men mit mod­er­nen For­men der Chor­leitung wie sie zum Beispiel von Garbow/Schönherr ent­fal­tet wer­den, die den „Energiefluss“ zwis­chen den Sängern und dem Chor­leit­er the­ma­tisieren und Kon­stel­la­tio­nen vorschla­gen, in denen die Sänger Ver­ant­wor­tung für die musikalis­che Gestal­tung übernehmen. (Garbow/ Schön­herr 2011, S. 29)

Eine Konzep­tion des Dirigierens als einkanalige Instruk­tion wider­spricht auch der oben aus­ge­führten Fig­ur der deik­tis­chen Dif­ferenz, bei der dem Anspruch der Zeige­hand­lung das Sich-Zeigen als unver­füg­bares Geschehen antwortet. Für diese Dif­ferenz möchte ich ein konkretes Beispiel geben: Im Rah­men von Bewer­bungsver­fahren um Chor­leitungsstellen   (s.u.) ergab sich Gele­gen­heit Sit­u­a­tio­nen zu beobacht­en, in denen die ein­ge­lade­nen Chor­lei­t­erIn­nen jew­eils die Auf­gabe hat­ten, ein Stück mit einem ihnen unbekan­nten Chor zu proben. Die meis­ten began­nen dies damit, das vorgegebene Stück – das sowohl von ihnen als auch von dem Chor unab­hängig voneinan­der vor­bere­it­et wurde – ein­mal voll­ständig unter ihrem Diri­gat sin­gen zu lassen. In diesem ersten non­ver­balen Zusam­men­wirken zwis­chen Diri­gent und Chor, die einan­der fremd sind, scheint es um einen Prozess gegen­seit­iger Anpas­sung zu gehen, bei dem offen ist, wessen musikalis­che Vorstel­lun­gen die Ober­hand gewin­nen. Dies wird beson­ders deut­lich, wenn z.B. der Diri­gent während des Durch­gangs zeigt, dass die Phrase­nen­den länger ausklin­gen sollen. Seine Bewe­gun­gen passen dann auf ein­mal nicht mehr zu dem Fluss des Gesun­genen, sie ver­har­ren, während der Chor schon Luft für die näch­ste Phrase holt; die Sänger wer­den aufmerk­sam, sie lächeln und fol­gen nun seinen Impulsen. Neben solcher­art gestis­chem Aushand­lung­sprozess ist auch an ver­balen Kor­rek­turen im Nach­gang ables­bar, dass der Chor die Musik in eigen­er Weise und unab­hängig vom Diri­gat gestal­tet. Der Chor hat in Bezug auf die musikalis­che Gestal­tung somit eine aktive Rolle und der Chor­leit­er arbeit­et immer mit etwas, was schon da ist, d.h. mit dem, was die Sänger her­vor­brin­gen. Er mod­el­liert den Klang, indem er einzelne Stim­men – gestisch oder ver­bal – auf­fordert her­vor- bzw. zurück­zutreten, indem er die Artiku­la­tion präzisiert; die Phrasierung fes­tlegt. Das Umset­zen der Impulse durch die Sänger ist dabei nicht nur ein pas­sives Fol­gen, son­dern pro­duk­tive Aktiv­ität; die Sänger müssen die tech­nisch oder bild­haft über­mit­tel­ten Anweisun­gen übernehmen und in eigen­er Weise zu Klang wer­den lassen, nur so kann sich die inter­pre­ta­torische Idee zeigen. Eine „Vision“ des Diri­gen­ten von der Musik mag unab­hängig von der aktuellen klan­glichen Umset­zung gegeben sein – das, was der Diri­gent aber in der Probe den Sängern zeigt, kor­re­spondiert dem, was sich zeigt, und ist mit dem, was die Sänger tun, unlös­bar ver­bun­den. Der Chor­leit­er kann Eigen­schaften der Musik und seine Inter­pre­ta­tion nur in Auseinan­der­set­zung mit der Darstel­lung der Musik durch die Sänger zeigen: „Schließlich ist es immer der Chor, der das Stück singt – egal ob beim Proben oder auf der Bühne.“ (Carbow/ Schön­herr 2011, S. 23)[9]

3) Dirigieren unter­richt­en für Schul­musik­er (Zeigen zeigen)

Wenn wir zu der Tätigkeit des Dirigierens nicht nur die gestis­che Beteili­gung an der Auf­führung zählen, son­dern das Zeigen in der Probe, das – wie der Diri­gent und Hochschullehrer Matthias Forem­ney sagt — zum „Öff­nen der Ohren für die Musik“ (Sichardt 2018, S. 219) und damit zu ihrem Ver­ste­hen beitra­gen und die Inter­pre­ta­tion artikulieren soll, hinzurech­nen, ist das Erler­nen dieser Tätigkeit von hoher Rel­e­vanz für ange­hende Musik­lehrer. Wie wird in diesem Bere­ich gelehrt? Die Betra­ch­tung von Lehrproben in Auswahlver­fahren für Hochschul­stellen bietet einen guten Anhalt­spunkt für die Beant­wor­tung dieser Frage, weil hier der Chor­leitung­sun­ter­richt für alle Beteiligten zu einem exponierten Gegen­stand wird. Die Bewer­ber zeigen in den Lehrproben nicht nur den Proban­den, wie sie dirigieren sollen, son­dern sie zeigen zugle­ich der Kom­mis­sion, wie sie meinen, dass unter­richtet wer­den soll. Es ist daher anzunehmen, dass sie z.B. in Lehrproben, in denen sie Anfänger unter­richt­en, das­jenige, was sie am wichtig­sten für Anfängerun­ter­richt hal­ten, in den Mit­telpunkt stellen wer­den.

Was zeigt sich nun in den Lehrproben als wichtig­ste Ele­mente von Anfängerun­ter­richt? Die Antwort ist ein­er­seits ein­fach und deckt sich mit dem Auf­bau von Chor­leitungs­büch­ern: Körperhaltung/ Stand; Schlag­bilder; Ein­sätze; Abschlüsse. Ein Aus­ge­hen von dem musikalis­chen Text im Sinne ein­er vorgängi­gen Analyse der musikalisch-rhyth­mis­chen Struk­tur bildet die Aus­nahme. Für Anfänger wird somit die kör­per­liche Gestik in den Mit­telpunkt des Ler­nens und Lehrens gestellt. Die Frage, wie in den Lehrproben diese Aspek­te gelehrt wer­den, ist mit Blick auf die Fig­ur des Zeigens in dop­pel­ter Weise zu bedenken: ein­mal in Bezug auf die zu ler­nen­den diri­gen­tis­chen Gesten als For­men des Zeigens und zum anderen in Bezug auf das Lehren. Inter­es­sant erscheint mir die Frage nach dem Ver­hält­nis zwis­chen Gegen­stand und Form des Lehrens. Muss nicht möglicher­weise das Zeigen des Lehrers dem Zeigen des Diri­gen­ten ver­wandt sein, damit sich für die Schü­lerIn­nen der Sinn diri­gen­tis­chen Zeigens zeigen kann?

Dem Lernpsy­cholo­gen Hans Aebli zufolge gehört das Zeigen zu den Grund­for­men des Lehrens (Aebli 1971). Die von ihm dazu for­mulierten Regeln erscheinen so sin­nvoll wie ent­fer­nt von einem Zeigen in der bish­er von mir the­ma­tisierten Bedeu­tung. Während in dem von Figal entliehenen Begriff des Zeigens der Umschlag­punkt zwis­chen Zeigen und Sichzeigen her­vorge­hoben wird und damit die deik­tis­che Dif­ferenz, d.h. die Eigen­ständigkeit des Sichzeigen­den – dass es eben nicht voll­ständig ver­füg­bar und berechen­bar ist – ins Zen­trum der Zeige-Sit­u­a­tion gestellt wird, sieht Aebli das Zeigen des Lehrers als Weg, den zu ler­nen­den Gegen­stand umwe­g­los und ziel­ge­nau dem Ler­nen­den zugänglich zu machen. Die für das Vor-Zeigen durch den Lehrer aufgestell­ten Regeln sollen sich­er­stellen, dass das Gezeigte den Ler­nen­den im Sinne des Zeigen­den erscheint und zie­len dies­bezüglich auf ein Höch­st­maß an Kon­trolle über den Lernge­gen­stand: Der Lehrer soll langsam, deut­lich, ein­dringlich die zu ler­nende Bewe­gung vor­ma­chen, er soll sie in Abschnitte ein­teilen und diese benen­nen, da Wort­fol­gen leichter zu behal­ten seien als Bewe­gun­gen. Die Schüler sollen dann beim Üben der Bewe­gung diese Benen­nun­gen mit­sprechen. „Wenn es dann schließlich an die eigene Aus­führung geht, wird der Schüler vor der Aus­führung häu­fig inner­lich wieder­holen, was er in welch­er Abfolge tun muß« (Aebli 1971, S. 75).

Es ist offen­sichtlich, dass dieses Zeigen ein­er anderen Logik fol­gt als das Zeigen des Diri­gen­ten. Während dieser etwas zeigt, das sich nur in der Darstel­lung durch die Sänger zeigen kann, ist es dem vor-zeigende Lehrer aus Aeb­lis Sicht möglich, voll und ganz über das Gezeigte zu ver­fü­gen. Wie ist das nun in den Lehrproben? Wer­den Dirigiergesten gezeigt wie es Aebli für andere Bewe­gung (zum Beispiel Ski­fahren) vorschlägt oder rech­nen die Lehren­den mit einem Umschlag zwis­chen Zeigen und Sichzeigen?

Um es kurz zu machen: Ein solch eng­maschiges Vorzeigen, wie es Aebli emp­fiehlt, ließ sich nicht beobacht­en. Aber ein Gefälle zwis­chen Herange­hensweisen wurde dur­chaus deut­lich. Zwei aus mein­er Sicht kon­trastierende Unter­richt­sauss­chnitte sollen das verdeut­lichen:

Der Unter­richt von Lehrer A läuft schon ein paar Minuten. A impro­visiert am Klavier und die Proban­den schla­gen gemein­sam einen 2er Takt. Nun soll es um das Ein­satzgeben gehen. A: „Für den Ein­satz brauchen wir einen Vor­bere­itungss­chlag. Welch­er ist das hier?“ Sein Ton­fall macht deut­lich, dass er dies für eine leichte Frage hält. Die Tln antworten entsprechend und tak­tieren nun so, dass immer der 2. Schlag den Ein­satz­im­puls für den neuen Takt bildet. A tak­tiert mit ihnen zusam­men und erk­lärt dabei, worauf zu acht­en ist. Zwis­chen­durch

  • 1. April 20207. Mai 2020
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