Doppelt belichtet oder: Der Augenblick zwischen zwei Körpern
Essay
„Beim Husten drehen meine Augen nach innen und ich sehe mein Gehirn, doch was vor mir droht sehe ich nicht mehr.“
Oswald Egger
I
Das poetisch-poetologische Oevre des Lyrikers Oswald Egger umkreist die Frage, „was ich sehe wenn ich denke was ich tue“ – und dieses Kreisen, das auch ein Tüpfeln oder Stricheln sein kann, wird sowohl in Worten als auch zeichnend mit feinem Tuschestift vollzogen – das vorgängige Bemühen, „eine Kunst in der Gestalt einer anderen [zu] begreifen.“[1]
Das Bemühen um kunstpädagogische Theoriebildung kann ähnlich begriffen werden. Der (griech.) theoretikos ist ursprünglich jemand, der einem Schauspiel – etwas, was den Augen und letztlich allen Sinnen dargeboten wird – beiwohnt und sich Gedanken dazu macht, die er versprachlicht. Was unsere Profession betrifft, ist diese nachklingende Versprachlichung auf neue Anreicherung in der Praxis ausgerichtet: Theorie für Praxis, Praxeologie. Ein in dieser Richtung vom Blick zur Handlung kultiviertes Denken könnte als artefaktisches bezeichnet werden, selbst dann, wenn es keine neuerliche Umsetzung findet:
„Ob nicht, zeitweise, die Sehnsucht, der Tagtraum, zu tun, zu schaffen, schon das Schaffen ist, zugleich mitgeschrieben und verzeichnet im Buch des Lebens?“[2]
Wenn ich etwas für die Augen Gemachtes vor Augen habe, denke ich häufig in zwei Richtungen; rückwärts: Wie ist es gemacht, vorwärts: Gern würde ich es selbst tun, und als Kunst Lehrende setze ich oft hinzu: gemeinsam mit anderen. Meine Blicke sind schon auf dem Weg zur Handlung, doch dazu wird ein ganzer, an den Geist angeschlossener Körper benötigt. Die Augen sind nur dem Hirn vorgelagerte, gallertig-weiche Kugeln in harten Höhlen.
Um einen Augen-Blick genauer zu untersuchen, bedarf es eines zweiten. Und was passiert zwischen zwei Augenblicken? Hat es mit dem Weißen zwischen zwei gedruckten Worten zu tun (und das Nichts, ist es weiß oder ist es durchsichtig?) und vielleicht mit der „Ruhe zwischen zweien Tönen“?[3] Was bleibt von alldem?
Das Untersuchte könnte ein Sprung sein, über ein Zwischen, und es könnten vielleicht auch mehrere Sprünge in der Abfolge Kontakt – Emotion – Wahrnehmung – Gedanke – Handlung sein. Ein Sprung ist ein Bruch, ein Riss im Material, aber auch der Akt des Absprungs, der sodann unabwendbar zum Übersprung wird. Uns Zweibeinern ist der Sprung dramatischer als den Vierbeinern; wir müssen uns in ihm loslassen.
Oder ein Widerfahrnis (griech. Pathos, Passion) im Da zwischen innen und außen, also im Und, und schon ist es fort, und dieses (Wider)Fahrnis hat zwei Richtungen: von innen nach außen und von außen nach innen, eine aktive und eine passive, Akt(ion) und Pass(ion). Oder Pathos.
„[…] die grundlegende Bedeutung [beider Wörter, CG] […] ist die des Widerfahrnisses. Gemeint ist etwas, das uns ohne unser eigenes Zutun zustößt oder entgegenkommt. Im Hintergrund steht die grammatische Form des Passivs, die Leideform, die sich von der Tätigkeitsform abhebt.“[4]
Es wird ausgelöst von dem, was widerfährt. Ich huste. Huste ich? Hustet es mich? Was sehe ich, wenn sich meine Augen in den Höhlen nach innen drehen? Sieht es mich? Oder: Wer dann? Ich denke. Oder denkt es mich?
Seit Descartes den Satz cogito, ergo sum formuliert hat, ist einiges passiert. Spätestens die Schriften Antonio Damasios[5] haben die neurologische Einsicht, dass ich fühle, bevor ich denke, bekannt und populär gemacht. Bisweilen gibt es begriffliche Überlappungen in den Übersetzungen seiner Bücher: Im Deutschen tun wir uns mit dem Fühlen schwer und müssen uns deshalb in jeder Rede neu auf den Gebrauch der Begriffe einigen: Sinneswahrnehmung, das wäre unter anderem auch ein Fühlen, Gefühl, das ist die kulturell geprägte Ausdeutung eines Fühlens, es fühlt mich also, wer? Ich werde gefühlt oder ich habe (im Perfekt) gefühlt, davon abzugrenzen, Emotion: eine neuronal wirksame Kombination aus Chemie und Physik, die einen Auslöser hat und Folgen zeitigt. Inzwischen wissen wir, dass eine Emotion kaum länger als 30–90 Sekunden dauert; danach wird sie durch eine andere, oft benachbarte abgelöst, aus Wut wird Selbstmitleid, das in den Wunsch umschlägt, genau deshalbzurückzuschlagen, weil, und dann – . Beißen wir uns in einer Emotion fest, kultivieren und nähren wir sie, wird eine Stimmung oder Gestimmtheit daraus, eine länger anhaltende Färbung, die sich über unsere Gedanken legt und diese beeinflusst. Die Reihe, in der es zu Rückkoppelungen und Zirkelschlüssen kommt, lässt sich messbar ausdifferenzieren in Kontakt (mit dem Objekt einer Sinneswahrnehmung), Emotion (durch den Kontakt ausgelöst, dann erst) wahr genommen (schon zu spät), jetzt folgt ein Urteil (Annahme/Ablehnung – der Ursprung des Denkens), das in eine Ent/scheidung mündet: Und jetzt handeln. Setzen wir das Handeln ausnahmsweise einmal aus, können wir uns selbst beim Denken zusehen. Wir glaubten, etwas derart Flüchtiges mache unser Sein aus. Immerhin: Wenn wir wollen, können wir einen Gedanken fassen.
Denke oder denkt ich? Huste oder hustet ich? Ich kann es nicht unterdrücken und wenn ich es unterdrücke, kehren sich erst recht meine Augen nach innen in Konvulsion, als hätte ich gehustet. Beim Drücken und Pressen springen Äderchen im Auge, und das Weiße färbt sich rot.
Zu Beginn der Untersuchung des Und sprang mich ein vor langer Zeit gelesenes Buch an: Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, eine seiner drei letzten Vorlesungsreihen, und es schlug sich beinahe von selbst bei der Sitzung vom 8. 12. 1979 auf. Lese ich oder widerfährt mir der gelesene Text? Roland Barthes denkt in dieser Reihe im besten Sinne artefaktisch: Die Vorbereitung des Romans ist geschrieben und gedacht, als sei er im Begriff, tatsächlich einen Roman zu schreiben. Ein Schreiben, das auf den Schreibenden zurückschlagen würde, was ihm beim Schreiben das Denken des Schreibens ermöglicht, welches das er ein absolutes nennt:
„Dennoch findet man in der Grammatik ein schönes Bild [für das absolute Schreiben, CG]: nicht im Französischen [oder Deutschen], wohl aber im Indoeuropäischen (Benveniste): Die Genera Verbi [voix] oder Diathesen. Diathese = grundsätzliche Haltung des Subjekts gegenüber (dia-) dem Vorgang. Wir kennen in unseren Sprachen zwei grundlegende Genera verbi (und halten das für selbstverständlich): Aktiv/Passiv. Im Griechischen gibt es noch eine dritte Verbform, die von den griechischen Grammatikern (wenngleich erst spät) Medium genannt wurde (mesótes. Zwischen enérgeia und páthos).“[6]
In die Strukturen der Sprache selbst, derer wir bedürfen, sind beide Blickrichtungen des Widerfahrenden eingeschrieben. In diesem Sinn ist Barthes‘ diathetische Bezugnahme keine metaphorische, sondern eine existentielle:
„[…] Im Indoeuropäischen gibt es zwei grundlegende Diathesen: Aktiv/Medium. Zum Verständnis dieser Unterscheidung muss man wissen, dass es das eigentliche Kennzeichen des indoeuropäischen Verbs ist, dass es nur auf das Subjekt und nicht auf das Objekt verweist […]. Im Indoeuropäischen wird alles auf das Subjekt bezogen und angeordnet. Wenn wir ‚subjektiv‘ sind, wenn unsere Philosophien vom Subjekt ausgehen oder über es streiten, wenn wir so häufig auf es zurückkommen, so geschieht das vielleicht nur, weil es ins Fundament der Sprache (unserer Sprache) eingeschrieben ist. Jedenfalls, Aktiv/Medium verweisen auf zwei unterschiedliche Positionen des Subjekts im Prozess.“[7]
Kurz gefasst:
Aktiv | Medium |
Der Prozess geht vom Subjekt aus und verläuft außerhalb seiner
Das Subjekt vollbringt etwas
|
Das Subjekt befindet sich innerhalb des Prozesses
Das Subjekt vollbringt etwas, was sich an ihm vollzieht |
Im Deutschen kennen wir diesen Medial nicht, der zwischen aktiv und passiv fällt. Medo/mai, ich meditiere und mir passiert etwas dabei: Auf diese Spur brachte mich ein tiefenentspannter Student. Wir wachsen, wir schlafen, aber wir werden erschüttert. Im Medial, den wir noch spüren, aber nicht mehr zur Verfügung haben, ist das Subjekt der Ort eines Prozesses; er vollzieht sich in ihm. Es gibt ein Tun, das einem, indem man es macht, geschieht: Ich sehe (zum Beispiel etwas Schlimmes), zu spät, das kann ich jetzt nicht mehr nicht sehen, nun habe ich diese Bilder im Kopf; meine Augen drehen sich nach innen, ich sehe Blut, Adern, Venen und durch den Nerv mein schleimiges Gehirn. Ich kann sie nicht nach außen kehren mich nicht von außen sehen.
Das Selfie ist nichts anderes als der prothetisch (durch eine Pro-These erfüllte) Wunsch, s/ich von außen zu sehen. Wen? Oder: Gesehen zu werden? Von wem genau? Medial mit einer Stange.
Ich fotografiere (also bin ich). Ich werde fotografiert – heißt das: in Zukunft oder im Passiv? Beide gleichen sich darin, dass sie uns widerfahren. Ich versuche mit Roland Barthes, intransitiv zu fotografieren:
„Übergang von [fotografieren, CG] + Akkusativobjekt zu [fotografieren, CG] ohne Satzergänzung oder, wie es in der Grammatik heißt: ‚absolut‘ gebraucht. […] Man könnte sagen: [fotografieren, CG], ein intransitives Verb […]. Tatsächlich kommt aber schließlich doch ein Akkusativobjekt; man kann auf die Dauer gar nicht nicht etwas [fotografieren]; seltsame Grammatik: die Satzergänzung bleibt in der Schwebe, in der Zukunft oder im Ungewissen.“[8]
Über das I (ich), das Selbsti (selfie) und die Stange (auch: Ego-Zepter) wollte ich nichts sagen, aber in/zwischen, medial, etwas über das Zwischen: zwei Augenblicken (wie auch über das Weiße zwischen zwei Worten und die Ruhe zwischen zweien Tönen), das ein Innen und ein Außen impliziert. Diese aisthetische und ästhetische Frage ist eine radikal ethische: Wer ist drinnen und wer ist dann draußen. Könnte ich beides sein. – Zu spät; jetzt schon nicht mehr.
Ich komme zu einem möglichen Medium der Untersuchung. Vielleicht ist es ein unmögliches: Die Doppelbelichtung hält auf einem Bild zwei Augenblicke fest, aber das dazwischen Passierte nicht. Das macht ihren epistemischen Reiz aus: Sie zwingt uns, das Übersprungene und den Sprung passiv und aktiv zu denken. Das, was wir nicht sehen können, müssen wir interpolieren – aber erst, nachdem wir erkannt haben, dass das, was uns zwiefach anblickt, nichts von uns will. Wir sind als Betrachter nicht gemeint. Müssen oder können? Ist das die Macht (in der das Machen im Perfekt steht) des Betrachters?
Ich wollte nicht in die Helle Kammer schauen, bevor ich – nach längerer Zeit – erneut über Photographie nachdenke. Nun ist es also geschehen. Und wieder kann ich mich dem Text nicht entziehen. Die Helle Kammer klingt erstmals in der Vorbereitung des Romans an, in der Sitzung vom 17. 2. 1979, der Überblendung von Haiku und Photographie (einem Versuch, das Medium mithilfe eines anderen zu verstehen) als Notiz eines Gedankens, dessen Ausführung bereits angekündigt wird. Verfasst wurde die Helle Kammer vom 14. 4. — 3. 6. 1979. Barthes schreibt darin, wie wir wissen, über das, was sich zwischen Operator (Photograph), Spektrum (Abbild) und Spektator (Betrachter) abspielt – unter besonderer Berücksichtigung dessen, was dem Spektator passiert. Diese Rolle ist ihm selbst – neben der des Spektrums – besonders vertraut.
Spektator und Spektakel sind abgeleitet von lat. spectaculum Schauspiel, das aus lat. spectare, schauen gebildet ist. Das Lehnwort Spiegel hat die gleiche Wurzel. Das Spektrum, eigentlich der Begriff für die Aufspaltung von weißem Licht in verschiedene Farben, entspringt der Vielfalt, Buntheit im visuellen Feld zu lat. spectrum, Abbild und spectare, schauen. Theoretisierend oder spekulierend, aus lat. speculari, spähen, beobachten, sich umsehen, ins Auge fassen zu lat. specere, sehen, schauen, kurz: seine Beobachtungen versprachlichend, operiert Barthes in den Genera Verbi Aktiv und Passiv, obwohl ihn das, was zwischen ihnen (und dem Geschehen, das sie fassen) liegt, offenkundig am meisten interessiert. Das Medium/der Medial tritt erst in der Vorlesung vom 8. 12. 1979 in Erscheinung. Der Gedanke wird noch anders gefaltet, in die seither weithin gebrauchten (und durch diesen Gebrauch oft schematisch/schemenhaft verdünnten)Begriffe Studium
„[…] was nicht innerster Linie Studium bedeutet, sondern die Hingabe an eine Sache […]. Als Angehöriger einer Kultur (diese Konnotation ist im Wort Studium enthalten] habe ich Teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen“[9]
und Punctum.
„Das zweite Element [das Punctum] durchbricht (oder skandiert) das Studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht […], sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. […] Das Punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“[10]
Was mir, dies lesend – und wie oft habe ich den Text schon gelesen? Zwanzig Mal? –widerfuhr. Ihn nun anwendend denke ich an die Doppelbelichtung, das Instrument für den Sprung, das Zwischen. Ihr ethischer (angewandter, an jemanden gewandter) Reiz besteht in der Möglichkeit eines Drehs im gedoppelten photo/graphischen Akt. Die Aufzeichnung wird unterbrochen. In der Zwischenzeit kann die Kamera die Hand wechseln. Die haltende Hand könnte nun am Arm des anderen hängen, muss aber nicht. Der Zwischenraum kann gleich bleiben, muss aber nicht, er kann auch größer oder kleiner werden. Inzwischen können Worte gewechselt, Ideen ausgetauscht werden, müssen aber nicht, klick-klick, so schnell geht es auch, ich konnte es nicht einmal aussprechen.
Aber selbst, wenn Augen und Hände dieselben bleiben: in/zwischen hat sich das Ge/sicht verändert. Ich habe eine etymologische Vermutung überprüft. Ich nahm an, Ge/sicht käme von dem, was gesehen wird, aber es ist eine andere Bildung, die eher dem Visier ähnelt: das, (durch das) man etwas sieht, weil die sich darin abzeichnenden Emotionen[11] sich, wie erwähnt, ein/ander in Sekundenschnelle ablösen. Habe ich mehr Zeit, kann ich in/zwischen auch meine Pose ändern. Ich werde fotografiert. Ich warte, dass er abdrückt, und weiß: es ist immer zu früh, es ist immer zu spät. Meine Pose? Frz. poser, sich/etwas hinstellen, aber auch poser son regard, seinen Blick auf etwas richten und poser une question. Einmal gedacht, kommt mir die mediale Form nicht mehr aus dem Sinn.
Ein Fotograf, der ein Gesicht fotografieren kann, ist ein Zauberer (oder Manipulator der Emotionen) und darf kein Zauderer sein, denn er muss den Augenblick einfangen, in dem ein Gesicht s/ich loslässt; das Ich loslässt. Losgelassen hat. Schon vorbei. Roland Barthes schrieb über die Photographie, die für ihn fast immer die Photographie (Lichtschrift, Lichtnotiz) eines Gesichts war:
„Ihr Noema ist stets eine Über/raschung des Bewusstseins.“[12]
Der Augenblick ist unwiederholbar, aber der wiederholte Druck auf den Auslöser (aktiv), der die Belichtung doppelt (passiv), schafft Möglichkeitsräume, Zwischenzeiten, Zwischenräume für alle, die keine berufenen Photographen sind. Laien, Kinder, Marginalisierte, du und ich. „Ein Innehalten bei der Notation“[13] ist nicht möglich, schreibt Barthes, der die Technik der Doppelbelichtung durchaus kannte. Sie macht es möglich, im visuellen Feld eine realzeitlich unmögliche Egalität für innen und außen, hineinschauen und hinausschauen, fotografieren und fotografiert werden, fotografisches Subjekt(sein) und fotografisches Objekt(sein) herzustellen. 1979 schreibt Barthes, „Sie können am Photo nichts hinzufügen“[14], doch das fort gesetzte Photo, die Doppel- oder Mehrfachbelichtung ist so alt wie die Belichtung, an welcher Stelle der Photographiegeschichte man auch ansetzen mag.
Historisch wurde mit dieser Findung gern gespielt: Man kann zwei in ein Bild holen, die nicht gleichzeitig vor der Kamera sein konnten. Man kann ein Bild in ein Bild von einem anderen holen. Oder ein Bild in ein anderes Bild. Die Geisterfotografie spielte damit, um zu betrügen und um zu trösten; verstorbene und Hinterbliebene gebannt auf der gleichen Platte. Gegenwärtig ist sie technisch sehr einfach geworden.
II
Es war ein schöner Tag. Die Sonne schien nach einer bitterkalten Phase des gerade überstandenen Winters. Die neuen Räume[15] waren nach Monaten des Drecks, der Umzugskisten, der Begehrlichkeiten, Gewinne und Verluste, nach Monaten der Heimatlosigkeit und der unfreiwilligen Unterbrechung der Arbeit endlich halbwegs fertig. Zwölf Frauen stiegen die Treppen in Schönlebers Himmel[16] hinauf. Sie hatten sich, das sah man gleich, obwohl sie es immer tun, extra schön gemacht. Mit eigener und geteilter Schminke und mit Funden aus der Kleiderkammer.
Hätten Sie es gesehen? Sie sehen (doppelbelichtete) Porträtaufnahmen von wohnungslosen Frauen. Und von Kunststudentinnen. Die Kunststudentinnen erkennt man vielleicht daran, dass sie sich nicht extra schön angezogen haben. Eine photographische Spielregel war mir wichtig: Es wird nichts nachbearbeitet. Die Lichtaufzeichnung gilt allein. Nachbearbeitung schafft Räume der Exklusion: Man braucht Zeit und Geräte und Wissen dazu. Nicht zuletzt wäre sie eine schwerwiegende Störung des epistemischen Potentials der Doppelbelichtung. Übrigens: Photographieren und Photographiert werden senkt (Hemm)Schwellen. Ich kann nicht zeichnen. – Ich kann nicht fotografieren? Ich kann nicht fotografiert werden?
Wohnungslose Frauen und Kunststudentinnen haben vieles gemeinsam. Sie sind achtsam im Feld des Visuellen: Wohnungslose Frauen wollen nicht gesehen werden, wissend, dass sie nicht unsichtbar sein können – aber sich unsichtbar machen. Zum Beispiel, indem sie sich sehr ordentlich anziehen. Das bedarf einiger Logistik, wenn man im Wald, im Auto oder bei Freunden oder Fremden aufwacht. Außerdem teilen sie ein ausgeprägtes Gespür für die Rhythmen eines Tages im öffentlichen/mit allen geteilten Raum und organisieren sich entsprechend. Natürlich pauschalisiere ich ein klein wenig, wenn ich sage, dass wohnungs- bzw. obdachlose Männer sich hingegen bisweilen in ihrer Lebensform exhibitionieren. – Diese Frauen sind also Lebenskünstlerinnen. Mit Student*innen konkurrieren um halbwegs bezahlbaren Wohnraum und mit Kunststudent*innen teilen sie ein schmerzlich erfahrungsbasiertes Wissen um innen und außen, drinnen und draußen, ausgewählt und abgelehnt, ingroup und outgroup.
Natürlich bleiben Unterschiede. Mir war wichtig, dass man sie nicht durch unbedachte Rede verstärkt, sondern einfach und vielfach im Feld künstlerischer Praxis zur gleichen Zeit im gleichen Raum das Gleiche (also etwas ganz Anderes) macht. Nachhaltig, über längere Zeit hinweg. Künstlerische Praxis? „Wenn ich Kunst mache, bin ich ganz bei mir.“ Wer sollte diesem Satz die Wahrheit absprechen? Egal, ob ihn Frau F. aus dem Wohnprogramm oder Frau P. aus dem Studentenwohnheim gesagt hat.
III
Die Doppelbelichtungen waren ein Experiment. Ich schlug vor, dass wir uns mischen. Nach Möglichkeit immer eine Kunststudentin und eine unserer Partnerinnen zusammen im Bild. Aber nicht immer. Alles kann, nichts muss. – Der Kontext, in dem die Doppelbelichtungen entstanden sind, ist ein Seminarformat, in dem jeweils ein Theorieseminar inhaltlich die Basis für ein Praxisprojekt[17] legt. Dieses Format schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Praxis, zwischen Hochschule und Umgebung sowie aus der Mitte zu den Rändern der Gesellschaft. In Theorieseminaren wird jeweils ein auf aktuellen Diskursen basierender Zugang zu einer sozial virulenten Fragestellung erarbeitet. In den zugeordneten Projektseminaren wird die gesellschaftlich wirksame Anwendung als (Selbst)Erprobung in der künstlerischen Lehrpraxis realisiert. Konzeptuelle Eckdaten sind hierbei (1) die nachhaltige Begegnung Studierender des gymnasialen Lehramts mit heterogenen, von Diversität und Benachteiligung tangierten Personengruppen, mit denen sie im Kontext ihrer exklusiven Studienbedingungen nicht in Berührung gekommen wären, (2) die Einnahme und Reflexion einer künstlerischen Perspektive in gemeinsamer, methodische Innovation herausfordernder künstlerischer Praxis mit diesen Personengruppen und (3) ein bildender und nachhaltiger Beitrag zum kulturellen Leben im Umfeld der Akademie durch Kooperation mit Partnern und Institutionen vor Ort in Form von vermittlungsbetonten Ausstellungsformaten.
Besondere Tragweite beweist in diesem Format die langfristige Kooperation mit einer Tageseinrichtung für wohnungslose Frauen: Kunststudierende und Personen ohne Wohnung treffen sich seit 2017 wöchentlich regelmäßig zur gemeinsamen künstlerischen Arbeit, die für die Studierenden ein Weg aus dem Atelier in die Öffentlichkeit, für die Wohnungslosen hingegen ein Weg aus dem öffentlichen Raum in ein temporäres Atelier ist. In diesem Raum-Zeitfenster werden Kommunikationsformen und Ausdrucksmöglichkeiten der Lebensformen der Beteiligten aus beiden Zielgruppen erkundet, die zwei überraschende Gemeinsamkeiten aufweisen: Die Konkurrenz um urbanen Wohnraum im untersten Preissegment und Erfahrungswissen über gesellschaftliche Ausschlussmechanismen. – Die Studierenden übernehmen methodisch und logistisch Verantwortung in der Gestaltung der Situationen und beraten individuell in künstlerischen Fragen. Dabei begegnen sie unvorhersehbaren künstlerischen Äußerungen, lernen biographische Brüche und deren Hintergründe, gesellschaftliche Ausschlussmechanismen und den – oft kreativen – Umgang der betroffenen Personen damit kennen. Im Zentrum steht die Praxis, nicht die Deutung: Weder die Kunst noch die Situation der Begegnung werden instrumentalisiert. Die Projektpartner*innen erfahren in der Formung von Materialien und Situationen Selbstwirksamkeit, die einerseits in den künstlerischen Arbeiten und andererseits in der (gelebten sozialen Plastik der) Verlaufsgestaltung Realität wird: die künstlerischen und methodischen Strategien werden bottom-um entwickelt. Hierbei hat sich das Porträt als wiederkehrender Bezugspunkt herauskristallisiert: Entdeckt aus dem gemeinsamen Wunsch, sich gegenseitig genauer ins Gesicht zu sehen, findet die Praxis des Porträts in verschiedenen künstlerischen Medien Eingang in jeden Projektturnus. Für sämtliche Beteiligten erweist sich dies nicht nur als Vergewisserung und Dokumentation einer Entwicklung und Reifung, sondern auch als – in Einzelfällen erschütternde – Konfrontation mit der Vergänglichkeit des eigenen Körpers wie jener eines sozialen Gefüges. Einige der Personen, die auf den Doppelbelichtungen zu sehen sind, haben sich in den letzten Monaten durch Krankheit und Schicksalsschläge – nicht nur äußerlich – stark verändert.
Die Kooperation war kein punktuelles Ereignis, das die temporär Integrierten nach einigen leuchtenden Augenblicken wieder allein ließ. Das Projekt hat inzwischen das Format einer heterogenen Künstler*innengruppe mit teilweise konstanten, teilweise wechselnden Akteur*innen angenommen, das für die wohnungslosen Partner*innen zu einem festen Bezugspunkt wurde. Während der semesterweisen Arbeitszyklen generieren Studierende und Wohnungslose gemeinsam selbst die Ressourcen für eine Fortsetzung: Medial durch die Entdeckung einer künstlerischen Arbeitsform, die künftig intensiviert werden soll, personell durch das Anlernen von Tutor*innen, Lehrbeauftragten und ehrenamtlich Engagierten sowie räumlich durch wechselnde Arbeitsorte und Ausstellungsformate.
IV
Unser Ausgangspunkt war der Augen-Blick, waren die Körper, aus denen und auf die jene Augen blicken. Um einen Augen-Blick genauer zu untersuchen, bedarf es eines zweiten. In diesem Fall wurden beide im gleichen Bild belichtet. Die Frage lautete: Was passiert zwischen zwei Augenblicken? Hat es mit dem Weißen zwischen zwei gedruckten Worten zu tun und vielleicht mit der „Ruhe zwischen zweien Tönen“?[18] Das Untersuchte war ein Sprung über ein Zwischen, bei dem beide Seiten Anlauf nehmen mussten – und einiges loslassen. Das Widerfahrnis (griech. Pathos, Passion) im Da zwischen innen und außen, hat in diesem Kontext nicht nur zwei Richtungen – von innen nach außen und von außen nach innen, eine aktive und eine passive, Akt(ion) und Pass(ion), sondern auch zwei Bedeutungsebenen, die zugleich Felder der Anwendung sind:
Auf der Bildebene gab es keine Nachbearbeitung, nur eine Auswahl. Auf diese Weise überlassen sich die Doppelbelichtungen ganz dem Auge des Betrachters. Das Feld des Visuellen kennt keine Negation, es kann nicht nichts zeigen und auch nicht, das jemand, der darauf abgebildet ist, auf anderen Ebenen vielleicht durch alle Raster fällt. Die Exklusion beginnt erst im Auge des Betrachters, und augenfällig war, dass die nicht-akademischen Projektpartnerinnen auch nach vielfacher Einladung dazu sich nicht an der Auswahl der Bilder für die erste Ausstellung beteiligen wollten: Für sie war jedes Bild schön, es ging nicht um das „Was“ (darauf ganz genau zu sehen ist und inwieweit es sich von einem anderen unterscheidet), sondern um das „dass“ (es überhaupt gemacht wurde).
Literatur
Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2008.
Damasio, Antonio: Der Spinoza-Effekt: Wie Gefühle unser Leben bestimmen, München 2004.
Ekman, Paul: Gefühle lesen: Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren; Heidelberg 2016.
Fischer, Andreas/Loers, Veit (Hg.): im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbarben (Ausst.-Kat.), Ostfildern 1997.
Handke, Peter: Vor der Baumschattenwand nachts, Wien 2016.
Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch, Frankfurt 1972.
Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt 2002.
Abbildungsverzeichnis
- 8 oben: Fischer, Andreas/Loers, Veit (Hg.): im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbarben (Ausst.-Kat.), Ostfildern 1997
- 8 unten: Analoge Doppelbelichtung aus dem Seminarprojekt „Bilder Fragen“ von Christina Griebel an der Universität der Künste Berlin 2012.
Alle anderen Abbildungen: Kollektive Autorschaft im Seminarprojekt „Outside“ von Christina Griebel an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe 2018 mit besonderem Dank an den Leiter der Fotowerkstatt, Pietro Pellini.
[1] Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2008, S. 127: Dort ausgeführt in einer Überblendung von Haiku und Photographie.
[2] Handke, Peter: Vor der Baumschattenwand nachts, Wien 2016, S. 242.
[3] Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch, Frankfurt 1972, S.
[4] Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt 2002, S. 15.
[5] Damasio, Antonio: Der Spinoza-Effekt: Wie Gefühle unser Leben bestimmen, München 2004.
[6] Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2008, S. 232.
[7] Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2008, S. 232.
[8] Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2008, S. 232
[9] Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt 1985, S. 33.
[10] Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt 1985, S. 35.
[11] Ekman, Paul: Gefühle lesen: Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren; Heidelberg 2016.
[12] Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2008, S. 129.
[13] Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2008, S. 133.
[14] Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2008, S. 132.
[15] Seit dem Wintersemester 2017/18 wird die Karlsruher „Villa Schönleber“ als Gebäude der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe genutzt.
[16] Das vom Bauherrn und ersten Bewohner des Hauses in der Karlsruher Jahnstr. 18 angebrachte Deckengemälde zeigt blauen Himmel mit weißen Wolken.
[17] http://www.kunstakademie-karlsruhe.de/studium/lehramt-an-gymnasien/vermittlungsprojekte/, zuletzt eingesehen: 10. 12. 2019
[18] Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch, Frankfurt 1972, S. 23.