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Gelingendes Leben als Begeistertsein und Jüngerwerden im Fest – Platons Gesetze und die Idee eines Musikunterrichts als „Fest der Sinne“

Andreas Höftmann

[Beitrag als PDF]

Vor­weg

Als Christoph Richter auf der 16. Bun­dess­chul­musik­woche in Lud­wigshafen 1986 das Ver­hält­nis von Arbeit, Freizeit und Fest aus musikpäd­a­gogis­chem Gesichtswinkel prob­lema­tisierte, nahm er nicht nur den Musikun­ter­richt kri­tisch ins Visi­er, son­dern das gesamte Bil­dungswe­sen. Anders als Richter werde ich im weit­eren Ver­lauf mein­er Über­legun­gen nicht die große Frage stellen: Brauchen wir eine andere Schule? (vgl. Richter 1986a, S. 40; 52–56. = 1986b, S. 107; 128–133.) Eben­so wenig unter­suche ich die Eige­nart von musikalisch erfüll­ten Schulfesten, wiewohl es reizvoll wäre, die Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit solch­er Rit­uale genauer zu betra­cht­en. Ich konzen­triere mich allein auf den schulis­chen Unter­richt im Fach Musik.

Hier­bei greife ich zwei musikpäd­a­gogis­che Gedanken­stränge der let­zten zehn Jahre auf: ein­mal den von Christoph Khit­tl aus­ge­bre­it­eten Inter­essen­faden der Ästhetis­chen Bil­dung als „Fest der Sinne“ (vgl. Khit­tl 2010), zum zweit­en die von Brigit­ta Baran­dun unlängst analysierte Wahrnehmung von Enthu­si­as­mus als auratis­chen „Fak­tor“ ein­er Lehrkraft (vgl. Baran­dun 2018). Wie Baran­dun anmerkt, stammt der ent­hou­si­as­mós – das Erfasst­sein von etwas Höherem – als beleg­bare Erschei­n­ungsweise aus antiken Erfahrungswel­ten und ist ins­beson­dere von Pla­ton mehrfach bespiegelt wor­den (vgl. ebd., S. 61–63). Im Dia­log Ion(533d-535a) erk­lärt der Athen­er Akademie-Grün­der die dich­ter­ische Inspi­ra­tion als zwin­gend pos­ses­siv, wobei die poet­is­che „Raserei“ nur eine von vier Arten göt­tlich­er manía bedeuten muss: Gemäß dem Phaidros (244a-245a) gibt es daneben den prophetis­chen, kathar­tis­chen und ero­tisch-philosophis­chen „Wahnsinn“.[1] Auch Pla­tons Geset­ze(Nomoi) ken­nen die göt­tliche Verzück­ung – sowohl in der Vari­ante „auss­chweifend­er“ (bakcheúontes) Ent­gleisun­gen des athenis­chen Volkes (vgl. III, 700d) als auch in der Form über­natür­lich­er „Anhauchung“ (epíp­noia) des Geset­zge­bers (siehe VII, 811c; ähn­lich II, 657a; ver­gle­ich­bar mit dem Enth­eastikón der Dichterzun­ft in III, 682a). In den Geset­zen hat das Phänomen des Außer-sich-seins zusät­zlich eine musik­paideutis­che Seite. So find­et sich das Ergrif­f­en­wer­den in Pla­tons Alterss­chrift im dion­y­sis­chen Trinkge­lage – in Tanz, Rausch und „Zauberge­sang“ –, und zwar einge­bet­tet in eine glück­sphilosophisch intendierte Vision von einem gelin­gen­den respek­tive „guten“ Leben im Polis-Fest.

Für die nach­ste­hen­den Reflex­io­nen ergeben sich mithin drei The­men­felder:

I. In einem ersten Schritt stelle ich die Typolo­gie des Festes vor, wie sie Christoph Khit­tl entwick­elt und auf die neuzeitliche musikpäd­a­gogis­che Fachgeschichte bezo­gen hat (vgl. Khit­tl 2010). Khit­tls dre­it­eiliges Fest­mod­ell hil­ft nicht nur, die musik­erzieherisch rel­e­vante Feierkul­tur seit der Aufk­lärung in ihrer Prob­lematik grund­sät­zlich nachzu­vol­lziehen, son­dern es erweist sich gle­ich­falls als brauch­bares heuris­tis­ches Mit­tel, um den fes­tiv­en Lebensen­twurf der pla­tonis­chen Geset­ze näher zu beleucht­en.

II. In einem näch­sten Zug geht es darum, einen ein­führen­den Blick auf die Beziehung von Glück, Fest, Musik­erziehung und Begeis­terung in den Nomoi zu wer­fen. Diese ideengeschichtliche Sicht „retour“ dient dazu, einen Dia­log ins Bewusst­sein zu rufen, der wegen sein­er ide­ol­o­gis­chen Rezep­tion durch Vertreter der Musis­chen Erziehung erst in den let­zten Jahren wieder in der His­torischen Musikpäd­a­gogik „angekom­men“ ist (vgl. Rap­tis 2007, etwa 46–57; Wey­er 2011, S. 221–228; anders noch bei Ehren­forth 2005, S. 60–70). Wer die Trag­weite des dion­y­sis­chen Begeis­tert­seins in den Geset­zen ernst nimmt, wird zudem eine gängige Pla­ton-Lesart hin­ter­fra­gen müssen, „die von einem rig­orosen intellek­tu­al­is­tis­chen Ide­al­is­mus und dem Pri­mat noushafter Ord­nung aus­ge­ht“ (Schölles 2012, S. 145).

III. In einem let­zten Gang komme ich auf Khit­tls Skizzierung eines Musikun­ter­richts als „Fest der Sinne“ zurück und erweit­ere sie um die Dimen­sio­nen des Begeis­tert­seins und Jünger­w­er­dens aus den Nomoi. Wie offen­sichtlich wer­den wird, lassen sich die Denk­fig­ur ein­er beson­nen enthu­si­astis­chen Lehrkraft nach Baran­dun sowie die Idee eines „wildes Lehrens“ nach Khit­tl in diesen Zusam­men­hang inte­gri­eren und mit den unver­füg­baren Momenten des Dion­y­sis­chen bei Pla­ton in Rela­tion set­zen (vgl. Baran­dun 2018; Khit­tl 2019, S. 41–63). Obzwar in ihrem Opti­mis­mus sicher­lich angreif­bar, ver­suchen die hiesi­gen Aus­führun­gen über schulis­che Musikprax­is gewisse apollinis­che Anmu­tun­gen in der Musikpäd­a­gogik zu bere­ich­ern, die vor­rangig einem „verständig“-durchrationalisierten Kom­pe­ten­z­er­werb im Musikun­ter­richt das Wort reden.

I. Der Fest­duk­tus in der jün­geren Musik­erziehungs­geschichte

Möglich, aber trist und öde: Wei­h­nacht­en ohne Lieder, Sportereignisse ohne sonore Einzugsz­er­e­monie, Ein­schu­lungsver­anstal­tun­gen ohne musikalis­che Willkom­mens­dar­bi­etung. Kein (gelin­gen­des, nicht unbe­d­ingt gelun­ge­nes) Fest also ohne Musik. Umgekehrt ließe sich behaupten: Keine Musikun­ter­weisung ohne Fes­t­bezug. Denn in ihrer Geschichte hat sich musikpäd­a­gogis­che Prax­is und Reflex­ion immer wieder zu dem wirkungsträchti­gen Par­a­dig­ma des Zer­e­mo­ni­alen ver­hal­ten müssen. Wie die eben genan­nten Beispiele aus den Bere­ichen Reli­gion, Sport und Bil­dung zeigen, sind Feste indes mit spez­i­fis­chen kul­turellen und men­tal­en Koloraturen angere­ichert. In seinem Auf­satz über Das Fest als (un-)geliebte Vari­able musikpäd­a­gogis­chen Denkens und Han­delns hat Christoph Khit­tl daher drei Fälle feier­lichen Tätig­seins aufge­wor­fen (vgl. Khit­tl 2010, S. 287–304). Abgeleit­et aus Hans Pfitzn­ers Oper Palest­ri­na (1917) bes­timmt Khit­tl zunächst das geistliche Fest und charak­ter­isiert diesen ersten Modus des Solem­nis­chen als soziales Ereig­nis, das seine Gel­tungs­macht aus dem gebotsmäßig zu befol­gen­den Rit­u­al gewin­nt (vgl. ebd., S. 288f.). Demge­genüber ste­ht ein zweit­er Fest­ty­pus: die weltliche Feier. Säku­lare Feste bein­hal­ten nach Khit­tl all­ge­mein Momente öffentlich sank­tion­iert­er, emo­tion­al reg­uliert­er Zel­e­bra­tion, ken­nen jedoch zugle­ich zwan­glose Akte des Exzes­siv­en, des kom­ple­men­tär Eksta­tis­chen. Gemeint ist ein „Fest als weltliche Insze­nierung von Freude, Heit­erkeit und ihrer Inte­gra­tion des undo­mes­tizier­bar Rauschhaften“ (ebd., S. 289). Zu dem drit­ten Muster des Festes zählt Khit­tl Pro­jek­tions­flächen des Pri­vat-Inwendi­gen, gespeist aus der freien Vorstel­lungskraft des Einzel­nen. Es han­delt sich um nicht-zer­e­monielle Intim-Wel­ten, um „Feste ohne Öffentlichkeitscharak­ter, die als Pro­dukt der eige­nen Inten­tion und Imag­i­na­tion sich vom All­t­ag abheben und […] ihre Bedeut­samkeit in einem eige­nen Phan­tasier­aum entwick­eln“ (ebd.). Als Beispiel für Khit­tls Fest­ty­pus 3 möchte ich die theôría nen­nen, die verin­ner­licht, was ursprünglich coram pub­li­co „geschaut“ wurde, näm­lich die zu Fes­ten pil­gernde Gesandtschaft ein­er griechisch-antiken Polis.

       Abb. 1: Fest­ty­polo­gie nach Christoph Khit­tl 2010.

His­torisch betra­chtet haben sich musikpäd­a­gogis­che Ambi­tio­nen des 18. und 19. Jahrhun­derts zweifel­los auf die Vor­bere­itung und Aus­gestal­tung kirch­lich­er wie (national-)politischer Feste des Typus 1 und 2 fokussiert. Khit­tl attestiert der Musik­erziehung jen­er Tage einen „freudlose[n] Fes­t­bezug“ (ebd., S. 291), eine in zahllose Gesangs­bil­dungslehren ver­strick­te Aus­rich­tung auf geistliche wie weltliche Feiern ohne per­sön­lichkeits­bildende oder kün­st­lerische Ansprüche an die eigene Zeit. Musikpäd­a­gogis­che Strö­mungen zwis­chen 1900 und 1950, vornehm­lich von wan­dern­den bis musis­chen Bewe­gun­gen geprägt, konzen­tri­erten sich wiederum auf die Fest­typen 2 und 3. Das galt sowohl „im Großen“, in der qua­si-kul­tischen, sich selb­st zele­bri­eren­den „musikan­tis­chen“ Schar-Feier (Fest­ty­pus 2), äußerte sich aber auch „im Kleinen“, in der Kom­mu­nität der feier­abendlich zum eige­nen Ich Gekomme­nen (Fest­ty­pus 3). Die Auf­bruchs­grup­pierun­gen nach dem fin de siè­cle woll­ten ihr fes­tives, ästhetisch nieder­schwelliges Han­deln als „Zivil­i­sa­tion­spause“ ver­standen wis­sen – als Rück­zug in die Natur, in die Ver­gan­gen­heit, ins Pri­vate. Das Zurschaustellen von Gemein­schaft war ihnen Selb­stzweck und diente let­ztlich ein­er gefährlichen weltan­schaulichen „Gle­ich­schal­tung“ (ebd., S. 297). Den reform­päd­a­gogis­chen, kul­tur­poli­tis­chen und kün­st­lerisch-inno­v­a­tiv­en Alter­na­tiv­en zum Trotz kon­nte das jugend­be­wegte und musis­che Pathos ins­ge­samt den 1910er bis 1940er Jahren seinen Stem­pel auf­drück­en. So leit­ete die emphatis­che Feierkul­tur der Wan­der­vo­gel-Anhänger und der Musis­chen Erziehung „störungs­frei“ in die fatale Hingabebere­itschaft für zwei Weltkriege über. Alle kri­tis­chen musik­di­dak­tis­chen Anschau­un­gen und Entwürfe der Nachkriegszeit haben gegen den „offen­sichtlichen Fest- und Feiergedanken der musis­chen Erziehung“ deshalb „ver­ständliche Aver­sio­nen“ (ebd., S. 300) ent­fal­tet. In ein­er demgemäß kri­tis­chen Tra­di­tion ste­ht auch Christoph Khit­tl. Als Schüler Wolf­gang Rosch­ers (1927–2002) liegt ihm die musikpäd­a­gogis­che Rich­tung der Ästhetis­chen Bil­dung am näch­sten, die er auf einen sen­su­al­is­tis­chen Fest­ty­pus 3, auf ein „Fest der Sinne“ hin ori­en­tiert. Er plädiert für die Insze­nierung eines im Innern der Schüler imag­inierten Aktes, der den Zugang des Ichs zur Welt im Medi­um der Musik öffnet für eine auf Acht­samkeit beruhende „Schu­lung und Kul­tivierung der Wahrnehmungs­fähigkeit, des Wahrnehmungs­genuss­es sowie der Wahrnehmungskri­tik“ (ebd.).

Vor dem oben umris­se­nen his­torischen Hin­ter­grund ist die Skep­sis Khit­tls gegenüber ein­er musikpäd­a­gogis­chen Ver­flech­tung haupt­säch­lich zum öffentlich-weltlichen Fest ver­ständlich. Das muss den Stab nicht über den zweit­en Fest­modus über­haupt brechen, dessen rasend-aus­ge­lassene Augen­blicke eine wichtige Ven­til­funk­tion für eine Gesellschaft bere­i­thal­ten. Doch greift so etwas wie Enthu­si­as­mus auch in den Fest­ty­pus 3 hinein, der nach Khit­tl eine basale ais­thetis­che Acht­samkeit zu fördern ver­spricht?

     Abb. 2: Fes­t­bezüge inner­halb der jün­geren Geschichte der Schul­musik nach Khit­tl 2010.

Schulisch gewen­det: Kann ein „von Höherem Erfasst­sein“ nicht Anze­ichen und Movens für eine solem­nis­che Hal­tung im Inneren von Kindern und Jugendlichen sein, damit der All­t­ag des Musikun­ter­richts sich zu einem gelin­gen­den „Fest der Sinne“ trans­formiert? Ist ein Begeis­tert­sein vielle­icht eine wichtige Vari­ante des Acht­gebens – ein Begeis­tert­sein etwa für das In-sich-hinein-fühlen, für das Lauschen auf den anderen, auf das Hör­bare, Uner­hörte und Nichthör­bare, für das vokale, instru­men­tale und tanzende Aus­pro­bieren im Spiel (zu den Facetten des Spiel-Begriffs aus musik­di­dak­tis­ch­er Warte vgl. par­a­dig­ma­tisch Richter 1975)? Hier ver­mag eine Schrift weit­erzuhelfen, die mit inspi­ra­torisch­er Ergrif­f­en­heit dur­chaus etwas zu tun hat, zumal im Passep­a­rtout des glück­haften sozialen Grund­kon­sens­es wie dem Fest. Ange­sprochen sind die Nomoi des Pla­ton von Athen (428/7 bis 348/7 v. Chr.).

II. Glück als gelin­gen­des Leben im Fest – Pla­tons Geset­ze

In den zwölf Buchrollen der Nomoi meint „Glück“ (eudai­monía), vor­ab gesagt, keinen Affekt. Eudä­monie, die „Begleitung durch einem guten Dai­mon“, ste­ht vielmehr für (sit­tlich) „gute Daseins­führung“ (eu zên). Gelin­gende ethis­che Lebens­gestal­tung wird in den Geset­zen allerd­ings in emo­tionalen Momenten konkret, in denen sich die Bürg­er­schaft als feiernde Gemein­schaft kon­sti­tu­iert. Das Fest lädt „gutes Han­deln“ (eu prát­tein) gewis­ser­maßen mit ein­er freudi­gen Ges­timmtheit auf und gibt darüber hin­aus Raum für Gerechtigkeit im Sinne von Gle­ich­heit. Als Festgenossin­nen und -genossen sind alle Nomoi-Bürg­erin­nen und -Bürg­er untere­inan­der eben­bür­tig, weshalb von ein­er herrschaftsmächti­gen Clique aus Wächtern und Philosophen­herrsch­ern wie in der Politeia nicht mehr die Rede ist (vgl. Horn 2013, S. 4).[2] Dank eines „gerecht­en Geset­zes“ (díkaios nómos: VII, 807c) erhal­ten die Polis-Ange­höri­gen in den Geset­zen – neben Poli­tik und mil­itärischem Aktiv­sein – just im Fest die Möglichkeit (und die Pflicht), ihre Sorge ganz der eige­nen moralis­chen „Vol­lkom­men­heit“ (aretê) zu wid­men. Für eine fik­tiv zu grün­dende Kolonie von Mag­ne­sierin­nen und Mag­ne­siern auf Kre­ta schlägt der namen­lose athenis­che Dialogführer der Nomoisog­ar vor:

„Es soll nicht weniger als drei­hun­dert­fün­fund­sechzig Feste [für Göt­ter und Dämo­nen] geben […] Das Gesetz wird näm­lich [zusät­zlich] bes­tim­men, daß es zwölf [Monats-]Feste […] geben soll […]; auch Feste für Frauen soll man anord­nen […]“ (Pla­ton, Geset­ze VIII, 828b,c; Über­set­zung: Klaus Schöps­dau 21990, S. 111.)

Dem antiken Polis-Eli­taris­mus gemäß richtet sich die ange­führte Regelung des Athen­ers nicht an alle Men­schen, d. h. auch an Fremde und Sklaven, son­dern lediglich an die Min­der­heit der in Bürg­erlis­ten einge­tra­ge­nen Freien. Indem jene exk­lu­sive Bürg­er­schaft in täglichen (sic!) und monatlichen Riten und Kul­ten zusam­menkommt, eignet sie sich „erlesene Zeit“ (scholé: 828d) und ein „glück­lich­es“ (eudaimôn: 829a) Dasein an und übt im Chor­tanz die Übere­in­stim­mung der men­schlichen Gefühlsre­gun­gen mit den – als gut erkan­nten –  Geset­zen: Diese bedeuten eine „Darstel­lung“ (mímê­sis) des schön­sten und besten Lebens und real­isieren Fre­und­schaft, Frei­heit und Tugend­haftigkeit durch Teil­habe an der geset­ze­seige­nen göt­tlichen Ver­nun­ftord­nung (vgl. I, 631b; III, 693b-d; IV, 714a; VII, 817b).

Das so ver­standene Glück im immer­währen­den Fest­treiben umschließt aktive Teil­nahme wie trans-aktive Teil­habe am Höher­men­schlichen und hat Kon­se­quen­zen für die Musik­erziehung in Mag­ne­sia:

  • Wesentlich­er Bestandteil der Feste sind musis­che und gym­nas­tis­che Wet­tkämpfe (vgl. VIII, 828c). Hier ver­sam­meln sich die unter 18-jähri­gen Polis-Mäd­chen und -Jun­gen als Musen-Chor und die 18- bis 31-Jähri­gen Jung­bürg­erin­nen und -bürg­er als Apol­lon-Chor (vgl. II, 664c,d). Die Agone dür­fen als wichtige Ergänzung zum Sprach- und Musikun­ter­richt ver­standen wer­den und zie­len darauf ab, das in Gesang und Instru­men­tal­spiel ver­lebendigte schöne und gute Leben von tapfer­en, besonnenen und gerecht­en Vor­bildern gewohn­heitsmäßig zu verin­ner­lichen und zu lieben (vgl. II, 652a-664b; VII, 796e-804c; 812b-813a). Wie in der „Schule“ geht es auch in den Wet­tkämpfen um die Habit­u­al­isierung von moralisch kon­for­men Emo­tio­nen, wobei der dazu erforder­liche Gesang – nach ägyp­tis­chem Vor­bild – zum unverän­der­lichen Gesetz erhoben wird (vgl. VII, 799e-800b in Anspielung an die griechis­che Bedeu­tung von nómos für rechtliche Norm wie für melodis­che Set­zung; zur antiken Prax­is des Sin­gens von Geset­zen siehe Höft­mann 2014, S. 92, Fußnote 174). In den Chortänzen der Feste ver­leib­lichen die jun­gen männlichen wie weib­lichen Mag­ne­si­er außer­dem die math­e­ma­tisch-kos­mol­o­gis­che Geset­zhaftigkeit von Musik (siehe O’Meara 2012, S. 112; vgl. auch Pla­ton, Timaios 40c).
  • Auch die 31- bis 60-jähri­gen Kolonis­ten nehmen aktiv am religiösen Spiel der Sied­lung teil. Sie bilden den Dionysos-Chor und damit die wichtig­ste Grup­pierung inner­halb der Bürg­er­schaft. Unter ihnen übt die ältere Gen­er­a­tion zwis­chen 50 und 60 die für den Polis-Erhalt notwendi­ge Kun­strichter­funk­tion aus, denn nur diese Alter­sklasse ver­fügt über das entsprechende Wis­sen um die richtige Beschaf­fen­heit und den sit­tlichen Gehalt von Tex­ten, Melo­di­en und Rhyth­men (II, 664d-668c; VII, 812c). Zugle­ich treten die Senioren des Dionysos-Chores in abendlichen Trink­festen (Sym­posien) durch das Vorsin­gen von „Zaubergesän­gen“ (epô­daí) her­vor und spornen dadurch die jün­geren Anwe­senden zur Tugend­haftigkeit an (II, 659e; 665c-666d; 670a-671a). Im Rausch des Alko­hols erleben die dion­y­sis­chen Sym­posi­as­ten sin­gend und tanzend die Erneuerung ihrer eige­nen Erziehung, ja eine lustvolle Selb­stver­jün­gung durch lebenslange (Selbst-)Pädagogisierung, die Mag­ne­sia an die glück­liche Urzeit der Kro­nos-Regentschaft annähert (vgl. Schölles 2012, S. 146–154).

Nota bene: Die Geset­ze erheben keinen Anspruch auf unmit­tel­bare Ver­wirk­lichung, son­dern betra­cht­en sich als lediglich zweitbeste Ver­fas­sung hin­ter göt­tlichen Regierungs­for­men (vgl. V, 739d,e). Im Ver­gle­ich zu his­torischen Vor­bildern wie Spar­ta oder zu philosophis­chen Konzep­tio­nen wie Pla­tons Politeia und Aris­tote­les’ Poli­tik VII/VIII gibt sich die Fest­ge­sellschaft der Nomoi den­noch als wohl radikalster Ver­such der griechis­chen Antike, das Glück des Einzel­nen und die Ein­heit der Polis zusam­men­zu­denken. Die umfassende cho­rische Har­mon­isierung aller Bürg­erin­nen und Bürg­er untere­inan­der fol­gt in den Geset­zen der poli­tis­chen Prämisse nach moralis­ch­er Selb­st­per­fek­tion­ierung wie sozialer -diszi­plin­ierung in omnipräsen­ten Fes­ten. Ein „Aus-der-Rei­he-tanzen“ aus dem kul­tischen Spiel, etwa durch die Ein­führung von musikalis­chen Neuerun­gen (vgl. VII, 800a), käme einem Angriff auf die Nor­ma­tiv­ität der Bürg­er­schaft gle­ich und würde das Damok­less­chw­ert der dama­li­gen griechis­chen Polis-Welt her­auf­beschwören: die Gefahr von zer­mür­ben­den Bürg­erkämpfen und end­losen Ver­fas­sungskon­flik­ten (vgl. Höft­mann 2014, S. 137f.).

Die uni­formisieren­den For­men der Feier in Pla­tons Mag­ne­sia gehören zum Fest­modus I, zur göt­tlich durch­wirk­ten Aufhe­bung des All­t­ags.[3] Speziell die Nomoi-Bürg­er wis­sen, wie sich angemessen – den göt­tlichen „Spiel­regeln“[4]entsprechend – Feste bege­hen lassen, da die Mag­ne­si­er in ein­er Polis leben, in der sich der Tugend­kat­a­log aus Gerechtigkeit, Klugheit, Beson­nen­heit und Tapfer­keit ver­wirk­licht (vgl. I, 630d-632d). Beson­nen­heit ist dabei das Zen­tralthe­ma der ersten drei Nomoi-Büch­er und darüber hin­aus wichtiges Mime­sis-Objekt von Musik­erziehung (vgl. II, 660a; 660e; siehe auch die paideutis­che Bevorzu­gung des [tra­di­tionell als mäßi­gend eingestuften] dorischen Ton­reper­toires in II, 670b und die Ein­führung von besonnenen friedlichen Tänzen in VII, 814e-815b).[5] Sôphrosýnê, der Aus­gle­ich zwis­chen den men­schlichen Trieben und Gelüsten, wird in den Geset­zen zum Marken­ze­ichen gelin­gen­den Lebens im Fest und zum Prüf­stein für diskus­sion­sre­iche wie unter­halt­sam-gesel­lige Abende: für Sym­posien. Als Dionysos-Kult mit religiösen Reini­gung­shand­lun­gen und fes­ten Kom­mer­sregeln gehört das Gelage zum Fest­ty­pus I.[6] Gle­ichzeit­ig kul­tiviert die Zecherei das rauschhafte Aus-sich-her­aus­treten und ist über das Ele­ment des sin­gend-tanzend Eksta­tis­chen mit dem zweit­en Fest­ty­pus ver­bun­den. Die Zwit­tergestalt des Bac­cha­nals – zuge­hörig zum ersten und zweit­en Spielmodus – kor­re­spondiert mit dem dop­pel­ten Auf­gaben­bere­ich des Sym­po­sions in den Nomoi. Die 30- bis 50-jähri­gen Bürg­er testen im gezügel­ten Wein­genuss ihre Beson­nen­heit, bauen Hem­mungen gegen das Sin­gen ab und wer­den wieder erzieherisch auf­nah­me­bere­it wie die Jugend (vgl. I, 649b-650b; II, 665d,e; 671c,d). Die 50 bis 60 Jahre alten Zech­er ver­set­zen sich durch ungezwun­genen Alko­holkon­sum fern­er in einen Bewusst­sein­szu­s­tand, der sie dazu befähigt, den jün­geren Polis-Ange­höri­gen „begeis­ternde Gesänge“ (epô­daí) über die Schön­heit tugend­haften Lebens anzus­tim­men (vgl. II, 659e; 665c; 666c; 670b; 670d,e).

Der Enthu­si­as­mus der sanges­freudi­gen Sym­posi­as­ten in den Geset­zen darf gewiss nicht als dion­y­sis­che „Black­box“ für anar­chis­che Aus­nahme­si­t­u­a­tio­nen gel­ten, son­dern wird als ethisch unbe­den­kliche Sinnes-Alter­ation prak­tiziert und von über 60-jähri­gen nüchter­nen Geron­ten überwacht (vgl. II, 667e; 670e; 671d,e). Der Musik­wis­senschaftler Chris­t­ian Kaden (1946–2015) inter­pretierte die Einspan­nung des Dionysos in die ver­nun­ft­geleit­ete „Rit­u­alpäd­a­gogik“ der Nomoi fol­glich als Ver­harm­lo­sung und Ent­mach­tung des Reben­gottes:

„Der unter die ‚Geset­ze‘ ger­atene Dionysos ist Schirmherr der Unschädlich-Poten­ten = Impo­ten­ten. Und er wird deklassiert zum Gott der Ohn­macht, auch bei den Macht-Haben­den. Inten­siv­er kein sein Sturz nicht gedacht wer­den.“ (Kaden 2004, S. 87.)[7]

Gegen Kaden ist indes auch eine andere Einord­nung des Dion­y­sisch-Sym­po­tis­chen in den Fes­tkos­mos der Geset­ze vorstell­bar, und zwar in Anlehnung an Gedanken des Philosophen Odo Mar­quard (1928–2015). In einem Essay von 1989 über das Mora­to­ri­um des All­t­ags. Eine kleine Philoso­phie des Festes sah Mar­quard das Fest bedro­ht, freilich weniger durch den All­t­ag und seine Anforderun­gen, son­dern durch ein Über­greifen des Feierns auf alle Lebens­bere­iche.

„Aber man muß […] das Fest auch dadurch vertei­di­gen, daß man den All­t­ag gegen das Fest vertei­digt und dadurch das Fest gegen das Fest: gegen die Per­ver­sion des Festes. Denn das Fest – meine ich – hört auch dann auf, Fest zu sein, wenn es – statt neben den All­t­ag zu treten – an die Stelle des All­t­ags tritt und dadurch den All­t­ag aus­löscht. Das Fest neben dem All­t­ag: das ist gut. Das Fest statt des All­t­ags: das ist prob­lema­tisch und muß bös enden.“ (Mar­quard 1989, S. 685.)

Wenn das Fest jedoch zur Arbeit­szeit und die Arbeit­szeit zum Fest wird, entste­ht der Wun­sch nach ein­er alter­na­tiv­en Ent­las­tung des durchgängig Gewohn­ten: der Wun­sch nach Krieg bzw. nach Bürg­erkrieg und Rev­o­lu­tion, so die Behaup­tung Mar­quards (vgl. ebd., S. 686f.). Zu fordern sei darum neben der Stärkung des All­t­ags die Aufw­er­tung des Son­ntags, mithin eine Erneuerung des Fest­ty­pus I:

„Je mehr der Son­ntag seine Kraft ver­liert, desto stärk­er wird das Bedürf­nis, das ‚Mora­to­ri­um des All­t­ags‘ als Krieg zu absolvieren, und je mehr das ver­mieden wer­den soll, desto mehr muß das religiöse Fest – exem­plar­isch der Son­ntag – wieder an Kraft gewin­nen. Die Per­ver­sion des Festes ruft – als Gegen­mit­tel – nach dem Fest.“ (S. 690)

Auf Pla­ton bezo­gen heißt das: Die Urbiq­ui­tät der Fest­gänge, der Beson­nen­heits-Übun­gen in den Geset­zen birgt die Gefahr der Verö­dung des All­t­ags und des Feierns in sich. Wenn über­all und an jedem Datum – selb­st nur für eine begren­zte Zeit – Feste im Zeichen der sôphrosýnê zele­bri­ert wer­den, braucht es ein Reg­u­la­tiv zur Dom­i­nante der Selb­st­be­herrschung. Omnipo­tente Con­te­nance ruft nach einem Mora­to­ri­um, nach ein­er Kanal­isierung.

Tat­säch­lich erlebt der Fest­ty­pus I in Mag­ne­sia regelmäßig eine Erneuerung – näm­lich aus­gerech­net in dem erhabenen wie rauschen­den Fest des Sym­po­sions. Inner­halb des „All­t­ags“ apollinis­ch­er Polis-Beson­nen­heit ist das Gelage das „Mora­to­ri­um“: Das Bac­cha­nal heiligt den dion­y­sis­chen Enthu­si­as­mus und erlaubt den reifen Bürg­er-Sängern, moralisch nachah­menswerte „Zauber­lieder“ in „erfrischen­den“ Vari­a­tio­nen zu intonieren (vgl. II, 665c). Bak­chos dient dem Licht­gott in den Nomoi nicht als Knecht, wie Kaden meinte; der Bringer von Frucht­barkeit und Ekstase unter­stützt vielmehr die tugend­hafte Gefass­theit des Apol­lon-Chores und erlaubt in Rausch und Tanz eine Dynamik, die bei Pla­tons aufs eng­ste mit Fes­tiv­ität und Glück verknüpft ist: die Ver­jün­gung. Für den Akademie-Grün­der ruft speziell der Tanz einen Tauschvor­gang zwis­chen unsterblich­er Seele und sterblichem Kör­p­er her­vor. Die órchê­sis hebt den „lotrecht­en“ Ver­lauf der Gegen­wart auf und ini­ti­iert ein Jünger­w­er­den, eine Hin­wen­dung zum paradiesis­chen Ur-Muster der Geset­ze aus der Ära des Kro­nos. Der Philosoph Manuel Schölles schreibt dazu:

„Der Tanz als höch­ste Vol­lzugsweise des Wech­seltausch-Ver­hält­niss­es zwis­chen Kör­p­er und Seele führt für eine gewisse Zeit, für die Zeit des Tanzes, zu ein­er Ver­jün­gung der Choreuten. In der Zeit des Tanzes ist unsere gewöhn­liche Zeit des Alterns aufge­hoben, und zwar indem sie verkehrt wird. […] Im freudi­gen Tanzen, in der ver­jün­gen­den Bewe­gung des in vol­lkommen­er Ein­heit tanzen­den Organ­is­mus des Men­schen, wäh­nt sich der Sterbliche unter der Herrschaft des Kro­nos, wo keine Mühen und Sor­gen, aber auch keine Kün­ste und Wis­senschaft mehr existieren.“ (Schölles 2012, S. 153f.)

III. Begeis­tert­sein und Jünger­w­er­den im Musikun­ter­richt als „Fest der Sinne“

Ich möchte im Fol­gen­den ver­suchen, Pla­tons philosophis­che Grundierung ein­er gelin­gen­den Exis­tenz im Fest musikpäd­a­gogisch frucht­bar zu machen und mit der oben skizzierten Vorstel­lung von Ästhetis­ch­er Bil­dung nach Christoph Khit­tl zu verknüpfen. Ich fasse zunächst zusam­men:

Die Nomoi enthal­ten im Kern zwei phänom­e­nol­o­gis­che Erken­nt­nisse, die das Fest als Fest charak­ter­isieren, auch wenn die feier­lichen Akte Mag­ne­sias in dem Gewand ein­er rig­oris­tis­chen und pater­nal­is­tis­chen Erziehungs- und Gesellschaft­skonzep­tion daherkom­men. Die bei­den grundle­gen­den Erschei­n­ungs­for­men von solem­ni­tas heißen bei Pla­ton a) das Begeis­tert­sein und b) das Jünger­w­er­den im (fes­tlichen) Spiel.

Zu a) In den Geset­zen kann Beson­nen­heit und feiernd vergewis­sertes Glück nicht gelin­gen ohne ein Außer-sich-sein der Zel­e­bran­ten, ohne ein Berührt­sein von etwas Höherirdis­chem, ohne Trans­for­ma­tion der eige­nen Kör­p­er- und Gemütsver­fas­sung in den Zus­tand des Anderen. Während die unter 31 Jahre alten Mag­ne­si­er in ihren jew­eili­gen Chören die als göt­tlich ver­standene Ver­nun­ft tanzend-sin­gend erfahren, ja sich vom Divi­nen leit­en lassen, steigern sich die über 31-jähri­gen dion­y­sis­chen Choreuten alters­gemäß in alko­holisierte Ekstase hinein – bis zu den 50- bis 60-jähri­gen berauscht­en Senioren, die der Jugend Zaubergesänge der Tugend vorsin­gen.

Zu b) Im Tanz der mag­netis­chen Polis-Feste zeigt sich eine beson­dere Zeitlichkeit: Sie bet­rifft „die Aufhe­bung des Jung- und Alt­seins hin zu ein­er drit­ten leben­szeitlichen Bes­tim­mung […: dem] Jünger­w­er­den des Chortänz­ers“ (Schölles 2012, S. 150). Wie sich die Tanz-Gen­er­a­tion ab 31 Jahren im Augen­blick dion­y­sis­ch­er Entrück­ung ihrem eige­nen Alter entzieht und wieder die Leichtigkeit der Jugend annimmt, so wäh­nt sich die gesamte Bürg­er­schaft dank ihrer Chor­tanz-Feste in der vorgeschichtlichen Glück­szeit der Kro­nos-Herrschaft. Der Tanz – ger­adezu das Sinnbild für fes­tives Spiel in Mag­ne­sia – hebt nicht nur für eine kurze Weile den All­t­ag der Men­schen auf, son­dern set­zt gar unsere lin­ear-fort­laufende Zeit diame­tral außer Kraft.

Ich kehre zu Christoph Khit­tl zurück. Als Fun­da­ment für sinnliche Fes­t­fähigkeit hat­te Khit­tl eine beson­dere ais­thetis­che Qual­ität bes­timmt. Diese Qual­ität bedeutete die Voraus­set­zung für einen Musikun­ter­richt als Fest­ty­pus III – als „Fest der Sinne“. Die Rede war von Acht­samkeit. Nach Khit­tl äußerte sich ein solch­es Aufmerk­sam­sein für (inner)klangliche Wahrnehmungen von Welt in einem neugieri­gen „Lauschen, Schauen [und] Bilden“ der Schüler (Khit­tl 2010, S. 301). Die Instru­men­talpäd­a­gogin Andrea Welte erk­lärt das Phänomen der Acht­samkeit genauer und verbindet es mit ein­er wach­samen Präsenz im Hier und Jet­zt, mit einem „Gewahr­sein für den lebendi­gen Augen­blick“ (Welte 2015, S. 226). Im Anschluss an den US-amerikanis­chen Medi­zin-Pro­fes­sor Jon Kabat-Zinn zählt sie Wert­neu­tral­ität, Anfängergeist, Geduld, Ver­trauen, Akzep­tanz, „Teflon-Geist“ und Loslassen auf, die das Charak­ter­is­tis­che von aware­ness verdeut­lichen (vgl. ebd., S. 228). Damit wird klar, dass Acht­samkeit keine rein kog­ni­tive Angele­gen­heit darstellt. Meine These lautet daher: Weit­ere Nuan­cen eines acht­samen Weltzu­gangs sind das Begeis­tert­sein und das Jünger­w­er­den im Spiel. Ein „Sich-fes­seln-lassen“ von der Klan­glichkeit und Stille unseres Daseins betont die moti­va­tionale und empathis­che Seite von Acht­samkeit. Begeis­tert­sein geht mit der Fähigkeit des heit­eren Sich-öff­nens auf neue und andere sinnliche Ein­drücke ein­her und fordert Anteil­nahme an gelin­gen­den Wahrnehmung­sprozessen. Es geht um eine lustvolle innere Fes­thal­tung, die immer auch eine Ahnung von der Wirk­lichkeit außer­halb unseres Bewusst­seins gibt. Wie das Begeis­tert­sein umschließt eben­so das Jünger­w­er­den im Spiel Tran­szen­den­z­er­fahrun­gen. Dabei wird der „Flow“ der Zeit nicht nur aufgekündigt, son­dern gle­ich­sam umge­wor­fen in Rich­tung ein­er ais­thetis­chen Anam­nese. Das Spiel ver­jüngt den Spie­len­den hin zu ein­er Wiedererin­nerung an die eigene kindliche Exper­i­men­tier­freude, an die paidiá (nicht zufäl­lig ist im Griechis­chen die Vok­a­bel paîs für „Kind“ mit dem Aus­druck paidiá für „Spiel­erei“ ver­wandt). Eine demgemäß lud­is­che „Regen­er­a­tion“ führt zu jen­er Sicht auf das Leben zurück, die nach Kabat-Zinn zu den Grundzü­gen von Acht­samkeit gehört: zu der Hal­tung des Novizen. Der qua­si mit ein­er kindlichen Unter­suchung des Eige­nen und des Anderen gekop­pelte Anfängergeist „hil­ft, einge­fahrene Rou­ti­nen bewusst und spielerisch zu ver­lassen. Dadurch kann er zu neuen Erken­nt­nis­sen und Erfahrun­gen ver­helfen.“ (Welte 2015, S. 228.)

Bei Pla­ton geht der Funke für Begeis­tert­sein und Jünger­w­er­den im Spiel allerd­ings von einem extrin­sis­chen Momen­tum aus: von dem hinge­bungsvollen Genuss des Reben­saftes. An dessen Stelle tritt jet­zt der hinge­bungsvolle Genuss der Musik, des Musik­machens und -wahrnehmens. Denn „Musik und Musizieren enthal­ten selb­st schon die Merk­male und die Hal­tung des Festes [sowie] eine eigene Zeit­struk­tur und ein Wahrnehmungsange­bot“ (Richter 1986a, S. 52 = 1986b, S. 127). Für die „Schu­lung und Kul­tivierung der Wahrnehmungs­fähigkeit, des Wahrnehmungs­genuss­es sowie [die Anbah­nung] der Wahrnehmungskri­tik“ (Khit­tl 2010, S. 300) seien zwei Beispiele des musikak­tiv­en hinge­bungsvollen Genuss­es näher illus­tri­ert:

1) Der Unter­richt ermöglicht berauschende Augen­blicke im Flow sinnlich-musikalis­chen und musik­be­zo­ge­nen Tätig­seins. Wie sich „Fluss“-Erfahrungen begreifen lassen, ist seit 1975 ein wesentlich­es Forschungs­ge­bi­et des ungarisch-US-amerikanis­chen Psy­cholo­gen Mihá­ly Csík­szent­mi­há­ly. Unter das Flow-Erleben fall­en nach Csik­szent­mi­há­ly: „Ver­schmelzung von Hand­lung und Bewusst­sein, Aufmerk­samkeit­szen­trierung auf ein begren­ztes Feld, Ver­lust des Selb­st, Gefühl der Kon­trolle und Müh­elosigkeit des Hand­lungsablaufs, Pas­sung von Fähigkeit­en und Anforderun­gen (wed­er Unter- noch Übertrei­bung), Aufhe­bung des nor­malen Zeit­ge­fühls in ein­er Art Trance, Aus­bleiben von Äng­sten“ (Welte 2015, S. 219). Flow-Poten­zial hat in der Schule etwa das sin­gende, spie­lende und tanzende Erproben von Groove-Musik afrikanis­ch­er und afro-amerikanis­ch­er Prove­nienz bis hin zu Rock, Funk, Soul und Hip-Hop (vgl. die Studie über Groove aus der Per­spek­tive ein­er kon­tex­tkri­tis­chen Musik­di­dak­tik von Kling­mann 2010). Flow-Anlässe bieten let­ztlich all­ge­mein repet­i­tive Musik­gen­res wie Min­i­mal Music, Cir­cle Songs, Kanons, Pas­sacaglias, Toc­ca­ta-Car­il­lons, Lieder mit Osti­nati, 4-Chord-Wen­dun­gen, Turn­arounds, Call-Response-Mustern etc. (zu empirisch beleg­baren Flow-Erleb­nis­sen im Musikun­ter­richt mit Beispie­len von Barock bis Aleatorik siehe Volquartz 1999).

2) Ästhetis­che Bil­dung weckt Lust auf den hinge­bungsvollen Genuss von Ver­langsamung und Still­w­er­den. In seinem Plä­doy­er für die Muße. Gedanken zu einem kon­tem­pla­tiv­en Musikun­ter­richt lis­tet Jür­gen Ober­schmidt sechs „Strate­gien der Entschle­u­ni­gung“ auf: Konzen­tra­tion auf das Musizieren; Von der Input- zur Out­puto­ri­en­tierung; Kul­turelle Wurzel­er­fahrun­gen; Kon­tem­pla­tives Ler­nen; Ver­tiefen und Wieder­holen; Über Pausen und das Wartenkön­nen (vgl. Ober­schmidt 2013, 55–62). Beson­dere Beach­tung ver­di­ent hier die Med­i­ta­tion als Teil kon­tem­pla­tiv­en Ler­nens. „Die Musik kann uns zu solch einem med­i­ta­tiv­en Ver­weilen ein­laden: Eine Bach-Arie kann uns in dem ihr eige­nen Dazwis­chen den Raum für kon­tem­pla­tive Beschaulichkeit und Nach­den­klichkeit öff­nen. Sie tut dies, indem sie den Hand­lungsver­lauf anhält, dem Unter­wegs­sein ein Ziel gibt, Abstand schafft und zugle­ich Anschlüsse für jenes bere­i­thält, was sie auf Abstand bringt.“ (Ebd., S. 60.) Ver­gle­ich­bar der Med­i­ta­tion ist die Kun­st des Wartenkön­nens keine pas­sive Gehalt­losigkeit, son­dern aktives Pausieren und han­del­ndes Aufmerk­samw­er­den für eine „Ästhetik des Unschein­baren“ (vgl. den gle­ich­nami­gen inter­diszi­plinären Sam­mel­band von Rora/Roszak 2013). „Auch in der Musik sind Pausen nicht nichts, son­dern Leer­stellen, in denen Bedeut­sames geschieht, als laut-los­er Grund ist Stille das kon­sti­tu­tive Ele­ment der Musik. Wie die Pause in der Musik hat auch das Warten ganz unter­schiedliche Qual­itäten, die zum Ler­nen wie zum Leben exis­ten­ziell dazuge­hören […]“ (Ober­schmidt 2013, S. 61).

Welche „Zer­e­mo­ni­al­rolle“ füllen die Lern­be­gleit­er im Unter­richt­srah­men eines „Festes der Sinne“ aus? Der Szener­ie der pla­tonis­chen Geset­ze fol­gend, entsprechen Lehrer den älteren Dionysos-Anhängern, die im Sym­po­sion den Jün­geren begeis­ternde „Zaubergesänge“ vor­tra­gen. Anders for­muliert: Unter­rich­t­ende überzeu­gen, motivieren und beglück­en durch ihre Lei­den­schaft für Musik und durch ihre Weit­er­gabe eines musikalis­chen Eros. Als kün­st­lerische Per­sön­lichkeit faszinieren sie ihre Schüler beispiel­sweise im Augen­blick stil­vollen Schul­prak­tis­chen Klavier- bzw. Gitar­ren­spiels oder enthu­si­as­mieren als Sänger respek­tive Instru­men­tal­is­ten zu Sing- und Musizier­hal­tun­gen in der Klasse, die ein Leben lang tra­gen. Brigit­ta Baran­dun hat in ihrer empirischen Dis­ser­ta­tion Wie Begeis­terung sich zeigtAspek­te benan­nt, die den Enthu­si­as­mus eines Lehrers aus der Sicht von Gesangs- und Instru­men­talschülern beschreiben. Baran­dun zufolge kristallisierten sich für die begeis­terte Lehrkraft neun Merk­male her­aus: „Charis­ma, Freude, Engage­ment, Beziehung, Eros, Liebe, Präsenz (Zeit), Entrück­ung (Raum) und die Ganz eigene Art zu unter­richt­en“ (Baran­dun 2018, S. 218; Her­vorhe­bun­gen im Orig­i­nal). Aber eine der­ar­tig auratis­che „Spiel“-Position des Lehrers ist mit Risiken behaftet. Solche Gefahren reichen von Über­forderung des Selb­st wie des Gegenübers bin hin zu ein­er über­grif­fi­gen Ausübung von Leis­tungs­druck und Macht (vgl. ebd., S. 228–236). Als Ausweg in Rich­tung ein­er aus­ge­wo­ge­nen Unter­richts­form zeich­net Baran­dun deshalb das Pro­fil ein­er beson­nen enthu­si­astis­chen Lehrkraft. „[I]n der Kun­st der Bal­ance zwis­chen affek­tivem und kog­ni­tivem Vorge­hen“ üben die Lehren­den „ein­er­seits ihre Begeis­terung und [weck­en] ander­er­seits eine feine innere Stimme in sich selb­st […], welche sie immer wieder hin­ter­fra­gen lässt, ob das, was sie tu[n], im Sinne ihrer Ler­nen­den ist und nicht zulet­zt, ob ihr Tun auch [ihnen] selb­st zuträglich ist“ (ebd., S. 239). Das Muster des besonnenen Enthu­si­as­mus geht sein­er­seits auf die Antike zurück (vgl. Bösel 2008, S. 179–182 mit Bezug zu Pla­tons Phaidros) und find­et auch in den Nomoi einen Anknüp­fungspunkt: Im Sym­po­sion fall­en die sophrosýnê als eine zen­trale Tugend Mag­ne­sias und das Begeis­tert­sein als dion­y­sis­che Aus­nah­mekon­stel­la­tion zusam­men.

In einem anderen Lichte erscheint die Funk­tion des Lehrers jedoch, wenn der Unter­rich­t­ende die Auf­gabe der über 60-jähri­gen nüchter­nen Nicht-Sänger des Trinkge­lages übern­immt. Nun­mehr ist die Lehrkraft nicht selb­st aktive Mitzel­e­bran­tin des Festes, son­dern dessen stille Beobach­terin. Wie die Geron­ten bei Pla­ton als Zeu­gen der Feier bei­wohnen und für die Ein­hal­tung der „Spiel­regeln“ sor­gen, so stellt der Lehrer den didak­tis­chen Fes­trah­men für die lustvolle sin­ness­chär­fende Beschäf­ti­gung der Schüler mit Musik sich­er. In seinem Auf­satz „Unbes­timmtheitsstellen“ – Wildes Lehren und Ler­nen als musik­di­dak­tis­ches Reg­u­la­tiv schraf­fiert Christoph Khit­tl die Kon­turen eines in diesem Zusam­men­hang inter­es­san­ten Lehrerbildes. Her­nach tritt der Unter­rich­t­ende nicht als Meis­ter und Didak­tisier­er von klein­schrit­ti­gen Lern­fol­gen auf, son­dern als „unwis­sender“ – d. h. sich „über­flüs­sig“ machen­der, weil nicht belehren­der – Ini­tia­tor von schülereige­nen musikalis­chen und musik­be­zo­ge­nen Pro­bier­si­t­u­a­tio­nen (vgl. Khit­tl 2019, S. 41–63). Ana­log zu Gedanken des franzö­sis­chen Sozi­olo­gen Claude Lévi-Strauss (1908–2009) und des pol­nis­chen Philosophen Roman Ingar­den (1893–1970) spricht Khit­tl von einem „wilden“ (wild­wüch­si­gen, nicht-gelenkt wach­senden, informellen) Ler­nen der Schüler. Dieses Ler­nen ereignet sich in ergeb­nisof­fe­nen und unscharf vorher­sag­baren Werk­statt- bzw. „bricolage“-Gelegenheiten, in denen sich „Unbes­timmtheitsstellen“ jen­seits didak­tis­ch­er Pla­nun­gen offen­baren. Lehren, das zu emanzi­pa­torisch­er Selb­st­bil­dung und Selb­ster­mäch­ti­gung durch „wildes Ler­nen“ führt, darf nach Khit­tl eben­falls als „wild“ beze­ich­net wer­den. Die besonnenen Greise der Geset­zePla­tons kul­tivieren insofern ein ähn­lich­es „wildes Lehren“, als sie die Ein­hal­tung der „Spiel­regeln“ in den Sym­posien Mag­ne­sias garantieren und auf nüchterne Weise an der berauschend-„wilden“ Begeg­nung der Jün­geren mit dem Göt­tlichen teil­haben. Als Geron­ten bezeu­gen sie „wildes Ler­nen“: das sich selb­st erk­lärende, nicht päd­a­gogisier­bare Sin­gen der alko­holisierten Dionysos-Sänger. Jene „Zaubergesänge“ sind als Folge dion­y­sis­ch­er Epiphanie gewiss nicht „ergeb­nisof­fen“ und emanzi­pa­torisch im Khittl’schen Sinne, aber doch unver­füg­bar und selb­st­bildend. Man beachte, dass die sin­gend-beseel­ten Sym­posi­as­ten der Gen­er­a­tion 50+ zu der gle­ichen Alters­gruppe gehören wie die Philosophen­herrsch­er in der Politeia, denen der pla­tonis­che Sokrates aus­drück­lich das Ver­mö­gen des „sich Selb­st­bildens“ (plát­tein) zuerken­nt (vgl. Pla­ton, Politeia VI, 500d).

Ich bün­dele meine Aus­führun­gen in einem abschließen­den Schaubild:

 Abb. 3: Begeis­tert­sein und Jünger­w­er­den in einem Musikun­ter­richt als „Fest der Sinne“.

Nachk­lang

Es wäre sicher­lich über­legenswert, wie sich ein Musikun­ter­richt als „Fest der Sinne“ auf Chor-, Orch­ester-, Band-, Tanz- und andere schulis­che Arbeits­ge­mein­schaften über­tra­gen ließe. Ger­ade dort dürften Kinder und Jugendliche im All­ge­meinen weniger frei­heitlich für sich selb­st ais­thetisch „werkeln“ (in „brico­lage“ arbeit­en, um mit Lévi-Strauss zu sprechen), weil sie sich auf vorgegebene per­for­mance-Ansprüche des Fest­typs I bzw. II vor­bere­it­en, etwa auf das näch­ste Adventskonz­ert, die anste­hende Abschlussfeier, den angekündigten Musik­abend oder das kom­mende Som­mer­fest. Überdies bleibt zu fra­gen, ob Ästhetis­che Bil­dung als sin­ness­chär­fend­er Fest­typ III gegen den lär­mend-narko­tisieren­den All­t­ag der Schüler, gegen die An-ästhe­sie von Umge­bungs-Ver­soundung und Ohrstöpsel-Beschal­lung über­haupt eine Chance hat. Und den­noch: Ein Musikun­ter­richt als „Fest der Sinne“ sollte nicht daran verzweifeln, wenn Schüler weit­er­hin an ihren Musikkon­sum-Gewohn­heit­en fes­thal­ten, wenn Ler­nende zum Rhyth­mus der von ihnen bevorzugten Ref­erenz-Musik ihren All­t­ag leben und gestal­ten. All­t­ag darf All­t­ag bleiben – umso wichtiger ist die Sin­gu­lar­ität des Festes. Zumal in ein­er Welt, in der Fest meist mit Par­ty gle­ichge­set­zt wird und zu peren­nieren­der „Fêten-Mucke“ aufruft. Ich zitierte noch ein­mal Odo Mar­quard:

„Wenn das Fest [bess­er gesagt: die Par­ty] zur ganzen Wirk­lichkeit und die ganze Wirk­lichkeit zum Fest wer­den soll – zum einen einzi­gen Alle­in­fest: zu jen­em absoluten Mora­to­ri­um des All­t­ags, das wed­er den All­t­ag noch andere Feste neben sich duldet und nur noch Aus­nah­mezu­s­tand ist –, geht es nicht gut. Es kann daraus nichts men­schlich Aushalt­bares wer­den, denn wer – und das wäre ja die Inten­tion dieses absoluten Festes – die Erde zum Him­mel machen will, macht sie zuver­läs­sig zur Hölle.“ (Mar­quard 1989, S. 689.)

 

Quelle und Kom­men­tar

Schöps­dau, Klaus (21990) [1976/77]: Pla­ton. Geset­ze, 2 Bände (= Pla­ton. Werke in acht Bän­den. Griechisch und Deutsch, 8. Band). Darm­stadt: Wis­senschaftliche Buchge­sellschaft.

Schöps­dau, Klaus (1994, 2003, 2011): Pla­ton. Nomoi (Geset­ze). Über­set­zung und Kom­men­tar, 3 Bände. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht.

 

Lit­er­atur

Baran­dun, Brigit­ta: Wie die Begeis­terung sich zeigt. Eine empirische Studie zum Enthu­si­as­mus der Lehrkraft im Instru­men­tal- und Gesang­sun­ter­richt. Mün­ster: Wax­mann 2018.

Bösel, Bernd: Philoso­phie und Enthu­si­as­mus. Stu­di­en zu einem umstrit­te­nen Ver­hält­nis. Wien: Pas­sagen 2008.

Ehren­forth, Karl Hein­rich: Geschichte der musikalis­chen Bil­dung. Eine Kul­tur-, Sozial- und Ideengeschichte in 40 Sta­tio­nen. Von den antiken Hochkul­turen bis zur Gegen­wart. Mainz: Schott 2005.

Höft­mann, Andreas: Muße und Musik­erziehung nach Aris­tote­les. Ein Beitrag zur musikpäd­a­gogis­chen Antike-Forschung. Augs­burg: Wißn­er 2014.

Horn, Christoph: Poli­tis­che Philoso­phie in Pla­tons Nomoi – Das Prob­lem von Kon­ti­nu­ität und Diskon­ti­nu­ität. In: Christoph Horn (Hg.): Pla­ton. Geset­ze – Nomoi. Berlin: Akademie-Ver­lag 2013, S. 1–21.

Kaden, Chris­t­ian: Das Uner­hörte und das Unhör­bare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kas­sel: Bären­re­it­er und Met­zler 2004.

Khit­tl, Christoph: „Unbes­timmtheitsstellen“ – Wildes Lehren und Ler­nen als musik­di­dak­tis­ches Reg­u­la­tiv. In: Jür­gen Ober­schmidt; Ste­fan Zöll­ner-Dressler (Hg.): Musik – Bild – Bewe­gung – Sprache. Zu The­o­rie und Prax­is der ästhetis­chen Trans­for­ma­tion. Essen: Die Blaue Eule 2019, S. 41–63.

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Kling­mann, Hein­rich: Groove – Kul­tur – Unter­richt. Stu­di­en zur päd­a­gogis­chen Erschließung ein­er musikkul­turellen Prak­tik. Biele­feld: tran­script 2010.

Lehmhus, Antje: Kalok­a­gath­ia ver­sus funk­tionale Erziehung. Ernst Kriecks Pla­tonz­i­tate und ihre Bedeu­tung für die Musikpäd­a­gogik. Berlin: Die Blaue Eule 2008.

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Rap­tis, Theocharis: Den Logos willkom­men heißen. Die Musik­erziehung bei Pla­ton und Aris­tote­les. Frankfurt/Main: Peter Lang 2007.

Richter, Christoph: Arbeit – Freizeit – Fest. Brauchen wir eine andere Schule? In: Karl Hein­rich Ehren­forth (Hg.): Arbeit – Freizeit – Fest. Brauchen wir eine andere Schule? Kon­gress­bericht 16. Schul­musik­woche Lud­wigshafen 1986, Mainz: Schott 1986a, S. 40–56. = Christoph Richter (1986b): Arbeit – Freizeit – Schule. Musik­erziehung in ein­er verän­derten Freizeitkul­tur, Kas­sel: Bären­re­it­er 1986b, S. 107–133.

Richter, Christoph: Musik als Spiel. Ori­en­tierun­gen des Musikun­ter­richts an einem fachüber­greifend­en Begriff. Ein didak­tis­ches Mod­ell. Wolfen­büt­tel: Mösel­er 1975.

Rora, Con­stanze / Roszak, Ste­fan (Hg.): Ästhetik des Unschein­baren – Annäherun­gen aus der Per­spek­tive der Kün­ste, der Philoso­phie und der Ästhetis­chen Bil­dung. Ober­hausen: Athena 2013.

Schölles, Manuel: Umkehr der Zeit. Tanz, Leben­salter und die zweitbeste Ver­fas­sung in Pla­tons Nomoi. In: Diet­mar Koch / Irm­gard Männlein-Robert / Niels Wei­dt­mann (Hg.): Pla­ton und die Mousiké. Tübin­gen: Attemp­to 2012, S. 136–154.

Volquartz, Ove: Impro­vi­sa­tion und „Flow“-Erlebnis. Empirische Unter­suchung von Möglichkeit­en und Gren­zen der Flußer­fahrung im Musikun­ter­richt ein­er gym­nasialen Ober­stufe, Essen: Die Blaue Eule 1999.

Welte, Andrea: Erfüll­ter Augen­blick und Glück der Fülle. Acht­samkeit als Glücks­fak­tor beim Musizieren, in: Katha­ri­na Bradler / Mar­tin Losert / Andrea Welte (Hg.): Musizieren und Glück. Per­spek­tiv­en der Musikpäd­a­gogik. Mainz: Schott 2015, S. 217–234.

Wey­er, Rein­hold: Musikpäd­a­gogis­che The­o­rie und Prax­is in der griechis­chen Antike. In: Eckard Nolte; Rein­hold Wey­er (Hg.): Musikalis­che Unter­weisung im Alter­tum. Mesopotamien – Chi­na – Griechen­land, Frankfurt/Main: Peter Lang 2011, S. 183–329, beson­ders S. 209–228.

 


[1] Infolgedessen ver­wen­den kathar­tis­che Kulte soge­nan­nte enthu­si­astis­che Melo­di­en: siehe Aris­tote­les, Poli­tik VIII 7, 1341b 32–1342a 15; dazu Höft­mann 2014, S. 123–130.

[2] Zur Frage der poli­tis­chen, nicht nur kul­tischen Gle­ich­stel­lung von männlichen und weib­lichen Bürg­ern in den Nomoi siehe Schöps­dau 1994, S. 110, Fußnote 29.

[3] Der Uni­formis­mus der Fes­tkul­tur in den Nomoi darf nicht mit Total­i­taris­mus gle­ichge­set­zt wer­den. Zwar hat sich der NS-Erziehungswis­senschaftler Ernst Krieck (1882–1947) aus­drück­lich auf die Geset­ze berufen, um eine total­itäre „For­mung des Men­schen“ durch musis­che Feiern zu propagieren. Allerd­ings speist sich ein solch­es Ide­al aus ein­er „eklektizistisch[en]“ und „sinnentfremdend[en]“ Rezep­tion der Nomoi; vgl. Lehmhus 2008, 174–178. – Sin­n­fäl­lig wird Pla­tons Quer­ständigkeit zum musis­chen Holis­mus des 20. Jahrhun­derts erst recht dadurch, dass es in der musis­chen Erziehung um säku­lar­isierte kul­tische Selb­stvergewis­serun­gen nach Khit­tls zweit­em und drit­tem Fes­t­na­turell ging.

[4] Vgl. das Mar­i­onet­ten­gle­ich­nis aus Nomoi I, 644c-645c: Ver­traut der Men­sch als „Wun­der­w­erk“ (thaû­ma) der Göt­ter einem höheren, exis­ten­ziell lenk­enden Gold­draht der Ver­nun­ft, „so freut sich die Got­theit an seinem (und zugle­ich ihrem) ‚Spiel‘“ (Schöps­dau 1994, S. 234).

[5] Welche poli­tis­chen Auswirkun­gen die Mis­sach­tung von tugend­hafter Selb­st­be­herrschung hat, wird in den Nomoi an der zügel­losen „The­ater­herrschaft“ Athens (vgl. III, 700a-701d) sowie an der ein­seit­i­gen Kriegss­chu­lung der Spar­tan­er (vgl. z. B. II, 667a; III, 668a; IV, 705d) fest­gemacht.

[6] Trinkge­set­ze haben sich sog­ar für Sym­posien der pla­tonis­chen und aris­totelis­chen Philosophen­schule erhal­ten; Belege bei Schöps­dau 1994, S. 339.

[7] Kaden passte Pla­ton hier in die kul­turelle Umbruch­szeit des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhun­derts ein: Diese soll eine ältere, sich ergänzende Span­nung zwis­chen apollinis­chen und dion­y­sis­chen Lebenswel­ten zugun­sten des Musageten entsch­ieden und deshalb zu ein­er heiklen „Ver­haustierung des Dionysos“ (ebd., S. 88) geführt haben. Kadens Dekaden­zgeschichte der hel­lenis­chen Bak­chos-Kul­tur ist allerd­ings mit Vor­sicht zu genießen. Jeden­falls lässt sie sich nicht mit Ressen­ti­ments Pla­tons (und weit­er­er athenis­ch­er Kreise) gegenüber dem Aulos bele­gen, einem in orgiastisch-dion­y­sis­chen Kul­ten häu­fig einge­set­zten Dop­pel­rohr-Instru­ment; vgl. ebd., S. 77–80. Zur Beliebtheit des Aulos in der griechis­chen Spätk­las­sik siehe Höft­mann 2014, 116–122 mit Bezug auch zum ver­meintlich Aulos-feindlichen Hin­ter­grund der sein­erzeit pop­ulären Athene-Marsyas-Sage.

  • 1. April 20207. Mai 2020
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Zeit für Inklusion? — Überlegungen zur Relevanz von Zeit, Inklusion und Musik für ein gelingendes Leben
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