Gelingendes Leben als Begeistertsein und Jüngerwerden im Fest – Platons Gesetze und die Idee eines Musikunterrichts als „Fest der Sinne“
Vorweg
Als Christoph Richter auf der 16. Bundesschulmusikwoche in Ludwigshafen 1986 das Verhältnis von Arbeit, Freizeit und Fest aus musikpädagogischem Gesichtswinkel problematisierte, nahm er nicht nur den Musikunterricht kritisch ins Visier, sondern das gesamte Bildungswesen. Anders als Richter werde ich im weiteren Verlauf meiner Überlegungen nicht die große Frage stellen: Brauchen wir eine andere Schule? (vgl. Richter 1986a, S. 40; 52–56. = 1986b, S. 107; 128–133.) Ebenso wenig untersuche ich die Eigenart von musikalisch erfüllten Schulfesten, wiewohl es reizvoll wäre, die Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit solcher Rituale genauer zu betrachten. Ich konzentriere mich allein auf den schulischen Unterricht im Fach Musik.
Hierbei greife ich zwei musikpädagogische Gedankenstränge der letzten zehn Jahre auf: einmal den von Christoph Khittl ausgebreiteten Interessenfaden der Ästhetischen Bildung als „Fest der Sinne“ (vgl. Khittl 2010), zum zweiten die von Brigitta Barandun unlängst analysierte Wahrnehmung von Enthusiasmus als auratischen „Faktor“ einer Lehrkraft (vgl. Barandun 2018). Wie Barandun anmerkt, stammt der enthousiasmós – das Erfasstsein von etwas Höherem – als belegbare Erscheinungsweise aus antiken Erfahrungswelten und ist insbesondere von Platon mehrfach bespiegelt worden (vgl. ebd., S. 61–63). Im Dialog Ion(533d-535a) erklärt der Athener Akademie-Gründer die dichterische Inspiration als zwingend possessiv, wobei die poetische „Raserei“ nur eine von vier Arten göttlicher manía bedeuten muss: Gemäß dem Phaidros (244a-245a) gibt es daneben den prophetischen, kathartischen und erotisch-philosophischen „Wahnsinn“.[1] Auch Platons Gesetze(Nomoi) kennen die göttliche Verzückung – sowohl in der Variante „ausschweifender“ (bakcheúontes) Entgleisungen des athenischen Volkes (vgl. III, 700d) als auch in der Form übernatürlicher „Anhauchung“ (epípnoia) des Gesetzgebers (siehe VII, 811c; ähnlich II, 657a; vergleichbar mit dem Entheastikón der Dichterzunft in III, 682a). In den Gesetzen hat das Phänomen des Außer-sich-seins zusätzlich eine musikpaideutische Seite. So findet sich das Ergriffenwerden in Platons Altersschrift im dionysischen Trinkgelage – in Tanz, Rausch und „Zaubergesang“ –, und zwar eingebettet in eine glücksphilosophisch intendierte Vision von einem gelingenden respektive „guten“ Leben im Polis-Fest.
Für die nachstehenden Reflexionen ergeben sich mithin drei Themenfelder:
I. In einem ersten Schritt stelle ich die Typologie des Festes vor, wie sie Christoph Khittl entwickelt und auf die neuzeitliche musikpädagogische Fachgeschichte bezogen hat (vgl. Khittl 2010). Khittls dreiteiliges Festmodell hilft nicht nur, die musikerzieherisch relevante Feierkultur seit der Aufklärung in ihrer Problematik grundsätzlich nachzuvollziehen, sondern es erweist sich gleichfalls als brauchbares heuristisches Mittel, um den festiven Lebensentwurf der platonischen Gesetze näher zu beleuchten.
II. In einem nächsten Zug geht es darum, einen einführenden Blick auf die Beziehung von Glück, Fest, Musikerziehung und Begeisterung in den Nomoi zu werfen. Diese ideengeschichtliche Sicht „retour“ dient dazu, einen Dialog ins Bewusstsein zu rufen, der wegen seiner ideologischen Rezeption durch Vertreter der Musischen Erziehung erst in den letzten Jahren wieder in der Historischen Musikpädagogik „angekommen“ ist (vgl. Raptis 2007, etwa 46–57; Weyer 2011, S. 221–228; anders noch bei Ehrenforth 2005, S. 60–70). Wer die Tragweite des dionysischen Begeistertseins in den Gesetzen ernst nimmt, wird zudem eine gängige Platon-Lesart hinterfragen müssen, „die von einem rigorosen intellektualistischen Idealismus und dem Primat noushafter Ordnung ausgeht“ (Schölles 2012, S. 145).
III. In einem letzten Gang komme ich auf Khittls Skizzierung eines Musikunterrichts als „Fest der Sinne“ zurück und erweitere sie um die Dimensionen des Begeistertseins und Jüngerwerdens aus den Nomoi. Wie offensichtlich werden wird, lassen sich die Denkfigur einer besonnen enthusiastischen Lehrkraft nach Barandun sowie die Idee eines „wildes Lehrens“ nach Khittl in diesen Zusammenhang integrieren und mit den unverfügbaren Momenten des Dionysischen bei Platon in Relation setzen (vgl. Barandun 2018; Khittl 2019, S. 41–63). Obzwar in ihrem Optimismus sicherlich angreifbar, versuchen die hiesigen Ausführungen über schulische Musikpraxis gewisse apollinische Anmutungen in der Musikpädagogik zu bereichern, die vorrangig einem „verständig“-durchrationalisierten Kompetenzerwerb im Musikunterricht das Wort reden.
I. Der Festduktus in der jüngeren Musikerziehungsgeschichte
Möglich, aber trist und öde: Weihnachten ohne Lieder, Sportereignisse ohne sonore Einzugszeremonie, Einschulungsveranstaltungen ohne musikalische Willkommensdarbietung. Kein (gelingendes, nicht unbedingt gelungenes) Fest also ohne Musik. Umgekehrt ließe sich behaupten: Keine Musikunterweisung ohne Festbezug. Denn in ihrer Geschichte hat sich musikpädagogische Praxis und Reflexion immer wieder zu dem wirkungsträchtigen Paradigma des Zeremonialen verhalten müssen. Wie die eben genannten Beispiele aus den Bereichen Religion, Sport und Bildung zeigen, sind Feste indes mit spezifischen kulturellen und mentalen Koloraturen angereichert. In seinem Aufsatz über Das Fest als (un-)geliebte Variable musikpädagogischen Denkens und Handelns hat Christoph Khittl daher drei Fälle feierlichen Tätigseins aufgeworfen (vgl. Khittl 2010, S. 287–304). Abgeleitet aus Hans Pfitzners Oper Palestrina (1917) bestimmt Khittl zunächst das geistliche Fest und charakterisiert diesen ersten Modus des Solemnischen als soziales Ereignis, das seine Geltungsmacht aus dem gebotsmäßig zu befolgenden Ritual gewinnt (vgl. ebd., S. 288f.). Demgegenüber steht ein zweiter Festtypus: die weltliche Feier. Säkulare Feste beinhalten nach Khittl allgemein Momente öffentlich sanktionierter, emotional regulierter Zelebration, kennen jedoch zugleich zwanglose Akte des Exzessiven, des komplementär Ekstatischen. Gemeint ist ein „Fest als weltliche Inszenierung von Freude, Heiterkeit und ihrer Integration des undomestizierbar Rauschhaften“ (ebd., S. 289). Zu dem dritten Muster des Festes zählt Khittl Projektionsflächen des Privat-Inwendigen, gespeist aus der freien Vorstellungskraft des Einzelnen. Es handelt sich um nicht-zeremonielle Intim-Welten, um „Feste ohne Öffentlichkeitscharakter, die als Produkt der eigenen Intention und Imagination sich vom Alltag abheben und […] ihre Bedeutsamkeit in einem eigenen Phantasieraum entwickeln“ (ebd.). Als Beispiel für Khittls Festtypus 3 möchte ich die theôría nennen, die verinnerlicht, was ursprünglich coram publico „geschaut“ wurde, nämlich die zu Festen pilgernde Gesandtschaft einer griechisch-antiken Polis.
Abb. 1: Festtypologie nach Christoph Khittl 2010.
Historisch betrachtet haben sich musikpädagogische Ambitionen des 18. und 19. Jahrhunderts zweifellos auf die Vorbereitung und Ausgestaltung kirchlicher wie (national-)politischer Feste des Typus 1 und 2 fokussiert. Khittl attestiert der Musikerziehung jener Tage einen „freudlose[n] Festbezug“ (ebd., S. 291), eine in zahllose Gesangsbildungslehren verstrickte Ausrichtung auf geistliche wie weltliche Feiern ohne persönlichkeitsbildende oder künstlerische Ansprüche an die eigene Zeit. Musikpädagogische Strömungen zwischen 1900 und 1950, vornehmlich von wandernden bis musischen Bewegungen geprägt, konzentrierten sich wiederum auf die Festtypen 2 und 3. Das galt sowohl „im Großen“, in der quasi-kultischen, sich selbst zelebrierenden „musikantischen“ Schar-Feier (Festtypus 2), äußerte sich aber auch „im Kleinen“, in der Kommunität der feierabendlich zum eigenen Ich Gekommenen (Festtypus 3). Die Aufbruchsgruppierungen nach dem fin de siècle wollten ihr festives, ästhetisch niederschwelliges Handeln als „Zivilisationspause“ verstanden wissen – als Rückzug in die Natur, in die Vergangenheit, ins Private. Das Zurschaustellen von Gemeinschaft war ihnen Selbstzweck und diente letztlich einer gefährlichen weltanschaulichen „Gleichschaltung“ (ebd., S. 297). Den reformpädagogischen, kulturpolitischen und künstlerisch-innovativen Alternativen zum Trotz konnte das jugendbewegte und musische Pathos insgesamt den 1910er bis 1940er Jahren seinen Stempel aufdrücken. So leitete die emphatische Feierkultur der Wandervogel-Anhänger und der Musischen Erziehung „störungsfrei“ in die fatale Hingabebereitschaft für zwei Weltkriege über. Alle kritischen musikdidaktischen Anschauungen und Entwürfe der Nachkriegszeit haben gegen den „offensichtlichen Fest- und Feiergedanken der musischen Erziehung“ deshalb „verständliche Aversionen“ (ebd., S. 300) entfaltet. In einer demgemäß kritischen Tradition steht auch Christoph Khittl. Als Schüler Wolfgang Roschers (1927–2002) liegt ihm die musikpädagogische Richtung der Ästhetischen Bildung am nächsten, die er auf einen sensualistischen Festtypus 3, auf ein „Fest der Sinne“ hin orientiert. Er plädiert für die Inszenierung eines im Innern der Schüler imaginierten Aktes, der den Zugang des Ichs zur Welt im Medium der Musik öffnet für eine auf Achtsamkeit beruhende „Schulung und Kultivierung der Wahrnehmungsfähigkeit, des Wahrnehmungsgenusses sowie der Wahrnehmungskritik“ (ebd.).
Vor dem oben umrissenen historischen Hintergrund ist die Skepsis Khittls gegenüber einer musikpädagogischen Verflechtung hauptsächlich zum öffentlich-weltlichen Fest verständlich. Das muss den Stab nicht über den zweiten Festmodus überhaupt brechen, dessen rasend-ausgelassene Augenblicke eine wichtige Ventilfunktion für eine Gesellschaft bereithalten. Doch greift so etwas wie Enthusiasmus auch in den Festtypus 3 hinein, der nach Khittl eine basale aisthetische Achtsamkeit zu fördern verspricht?
Abb. 2: Festbezüge innerhalb der jüngeren Geschichte der Schulmusik nach Khittl 2010.
Schulisch gewendet: Kann ein „von Höherem Erfasstsein“ nicht Anzeichen und Movens für eine solemnische Haltung im Inneren von Kindern und Jugendlichen sein, damit der Alltag des Musikunterrichts sich zu einem gelingenden „Fest der Sinne“ transformiert? Ist ein Begeistertsein vielleicht eine wichtige Variante des Achtgebens – ein Begeistertsein etwa für das In-sich-hinein-fühlen, für das Lauschen auf den anderen, auf das Hörbare, Unerhörte und Nichthörbare, für das vokale, instrumentale und tanzende Ausprobieren im Spiel (zu den Facetten des Spiel-Begriffs aus musikdidaktischer Warte vgl. paradigmatisch Richter 1975)? Hier vermag eine Schrift weiterzuhelfen, die mit inspiratorischer Ergriffenheit durchaus etwas zu tun hat, zumal im Passepartout des glückhaften sozialen Grundkonsenses wie dem Fest. Angesprochen sind die Nomoi des Platon von Athen (428/7 bis 348/7 v. Chr.).
II. Glück als gelingendes Leben im Fest – Platons Gesetze
In den zwölf Buchrollen der Nomoi meint „Glück“ (eudaimonía), vorab gesagt, keinen Affekt. Eudämonie, die „Begleitung durch einem guten Daimon“, steht vielmehr für (sittlich) „gute Daseinsführung“ (eu zên). Gelingende ethische Lebensgestaltung wird in den Gesetzen allerdings in emotionalen Momenten konkret, in denen sich die Bürgerschaft als feiernde Gemeinschaft konstituiert. Das Fest lädt „gutes Handeln“ (eu práttein) gewissermaßen mit einer freudigen Gestimmtheit auf und gibt darüber hinaus Raum für Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit. Als Festgenossinnen und -genossen sind alle Nomoi-Bürgerinnen und -Bürger untereinander ebenbürtig, weshalb von einer herrschaftsmächtigen Clique aus Wächtern und Philosophenherrschern wie in der Politeia nicht mehr die Rede ist (vgl. Horn 2013, S. 4).[2] Dank eines „gerechten Gesetzes“ (díkaios nómos: VII, 807c) erhalten die Polis-Angehörigen in den Gesetzen – neben Politik und militärischem Aktivsein – just im Fest die Möglichkeit (und die Pflicht), ihre Sorge ganz der eigenen moralischen „Vollkommenheit“ (aretê) zu widmen. Für eine fiktiv zu gründende Kolonie von Magnesierinnen und Magnesiern auf Kreta schlägt der namenlose athenische Dialogführer der Nomoisogar vor:
„Es soll nicht weniger als dreihundertfünfundsechzig Feste [für Götter und Dämonen] geben […] Das Gesetz wird nämlich [zusätzlich] bestimmen, daß es zwölf [Monats-]Feste […] geben soll […]; auch Feste für Frauen soll man anordnen […]“ (Platon, Gesetze VIII, 828b,c; Übersetzung: Klaus Schöpsdau 21990, S. 111.)
Dem antiken Polis-Elitarismus gemäß richtet sich die angeführte Regelung des Atheners nicht an alle Menschen, d. h. auch an Fremde und Sklaven, sondern lediglich an die Minderheit der in Bürgerlisten eingetragenen Freien. Indem jene exklusive Bürgerschaft in täglichen (sic!) und monatlichen Riten und Kulten zusammenkommt, eignet sie sich „erlesene Zeit“ (scholé: 828d) und ein „glückliches“ (eudaimôn: 829a) Dasein an und übt im Chortanz die Übereinstimmung der menschlichen Gefühlsregungen mit den – als gut erkannten – Gesetzen: Diese bedeuten eine „Darstellung“ (mímêsis) des schönsten und besten Lebens und realisieren Freundschaft, Freiheit und Tugendhaftigkeit durch Teilhabe an der gesetzeseigenen göttlichen Vernunftordnung (vgl. I, 631b; III, 693b-d; IV, 714a; VII, 817b).
Das so verstandene Glück im immerwährenden Festtreiben umschließt aktive Teilnahme wie trans-aktive Teilhabe am Höhermenschlichen und hat Konsequenzen für die Musikerziehung in Magnesia:
- Wesentlicher Bestandteil der Feste sind musische und gymnastische Wettkämpfe (vgl. VIII, 828c). Hier versammeln sich die unter 18-jährigen Polis-Mädchen und -Jungen als Musen-Chor und die 18- bis 31-Jährigen Jungbürgerinnen und -bürger als Apollon-Chor (vgl. II, 664c,d). Die Agone dürfen als wichtige Ergänzung zum Sprach- und Musikunterricht verstanden werden und zielen darauf ab, das in Gesang und Instrumentalspiel verlebendigte schöne und gute Leben von tapferen, besonnenen und gerechten Vorbildern gewohnheitsmäßig zu verinnerlichen und zu lieben (vgl. II, 652a-664b; VII, 796e-804c; 812b-813a). Wie in der „Schule“ geht es auch in den Wettkämpfen um die Habitualisierung von moralisch konformen Emotionen, wobei der dazu erforderliche Gesang – nach ägyptischem Vorbild – zum unveränderlichen Gesetz erhoben wird (vgl. VII, 799e-800b in Anspielung an die griechische Bedeutung von nómos für rechtliche Norm wie für melodische Setzung; zur antiken Praxis des Singens von Gesetzen siehe Höftmann 2014, S. 92, Fußnote 174). In den Chortänzen der Feste verleiblichen die jungen männlichen wie weiblichen Magnesier außerdem die mathematisch-kosmologische Gesetzhaftigkeit von Musik (siehe O’Meara 2012, S. 112; vgl. auch Platon, Timaios 40c).
- Auch die 31- bis 60-jährigen Kolonisten nehmen aktiv am religiösen Spiel der Siedlung teil. Sie bilden den Dionysos-Chor und damit die wichtigste Gruppierung innerhalb der Bürgerschaft. Unter ihnen übt die ältere Generation zwischen 50 und 60 die für den Polis-Erhalt notwendige Kunstrichterfunktion aus, denn nur diese Altersklasse verfügt über das entsprechende Wissen um die richtige Beschaffenheit und den sittlichen Gehalt von Texten, Melodien und Rhythmen (II, 664d-668c; VII, 812c). Zugleich treten die Senioren des Dionysos-Chores in abendlichen Trinkfesten (Symposien) durch das Vorsingen von „Zaubergesängen“ (epôdaí) hervor und spornen dadurch die jüngeren Anwesenden zur Tugendhaftigkeit an (II, 659e; 665c-666d; 670a-671a). Im Rausch des Alkohols erleben die dionysischen Symposiasten singend und tanzend die Erneuerung ihrer eigenen Erziehung, ja eine lustvolle Selbstverjüngung durch lebenslange (Selbst-)Pädagogisierung, die Magnesia an die glückliche Urzeit der Kronos-Regentschaft annähert (vgl. Schölles 2012, S. 146–154).
Nota bene: Die Gesetze erheben keinen Anspruch auf unmittelbare Verwirklichung, sondern betrachten sich als lediglich zweitbeste Verfassung hinter göttlichen Regierungsformen (vgl. V, 739d,e). Im Vergleich zu historischen Vorbildern wie Sparta oder zu philosophischen Konzeptionen wie Platons Politeia und Aristoteles’ Politik VII/VIII gibt sich die Festgesellschaft der Nomoi dennoch als wohl radikalster Versuch der griechischen Antike, das Glück des Einzelnen und die Einheit der Polis zusammenzudenken. Die umfassende chorische Harmonisierung aller Bürgerinnen und Bürger untereinander folgt in den Gesetzen der politischen Prämisse nach moralischer Selbstperfektionierung wie sozialer -disziplinierung in omnipräsenten Festen. Ein „Aus-der-Reihe-tanzen“ aus dem kultischen Spiel, etwa durch die Einführung von musikalischen Neuerungen (vgl. VII, 800a), käme einem Angriff auf die Normativität der Bürgerschaft gleich und würde das Damoklesschwert der damaligen griechischen Polis-Welt heraufbeschwören: die Gefahr von zermürbenden Bürgerkämpfen und endlosen Verfassungskonflikten (vgl. Höftmann 2014, S. 137f.).
Die uniformisierenden Formen der Feier in Platons Magnesia gehören zum Festmodus I, zur göttlich durchwirkten Aufhebung des Alltags.[3] Speziell die Nomoi-Bürger wissen, wie sich angemessen – den göttlichen „Spielregeln“[4]entsprechend – Feste begehen lassen, da die Magnesier in einer Polis leben, in der sich der Tugendkatalog aus Gerechtigkeit, Klugheit, Besonnenheit und Tapferkeit verwirklicht (vgl. I, 630d-632d). Besonnenheit ist dabei das Zentralthema der ersten drei Nomoi-Bücher und darüber hinaus wichtiges Mimesis-Objekt von Musikerziehung (vgl. II, 660a; 660e; siehe auch die paideutische Bevorzugung des [traditionell als mäßigend eingestuften] dorischen Tonrepertoires in II, 670b und die Einführung von besonnenen friedlichen Tänzen in VII, 814e-815b).[5] Sôphrosýnê, der Ausgleich zwischen den menschlichen Trieben und Gelüsten, wird in den Gesetzen zum Markenzeichen gelingenden Lebens im Fest und zum Prüfstein für diskussionsreiche wie unterhaltsam-gesellige Abende: für Symposien. Als Dionysos-Kult mit religiösen Reinigungshandlungen und festen Kommersregeln gehört das Gelage zum Festtypus I.[6] Gleichzeitig kultiviert die Zecherei das rauschhafte Aus-sich-heraustreten und ist über das Element des singend-tanzend Ekstatischen mit dem zweiten Festtypus verbunden. Die Zwittergestalt des Bacchanals – zugehörig zum ersten und zweiten Spielmodus – korrespondiert mit dem doppelten Aufgabenbereich des Symposions in den Nomoi. Die 30- bis 50-jährigen Bürger testen im gezügelten Weingenuss ihre Besonnenheit, bauen Hemmungen gegen das Singen ab und werden wieder erzieherisch aufnahmebereit wie die Jugend (vgl. I, 649b-650b; II, 665d,e; 671c,d). Die 50 bis 60 Jahre alten Zecher versetzen sich durch ungezwungenen Alkoholkonsum ferner in einen Bewusstseinszustand, der sie dazu befähigt, den jüngeren Polis-Angehörigen „begeisternde Gesänge“ (epôdaí) über die Schönheit tugendhaften Lebens anzustimmen (vgl. II, 659e; 665c; 666c; 670b; 670d,e).
Der Enthusiasmus der sangesfreudigen Symposiasten in den Gesetzen darf gewiss nicht als dionysische „Blackbox“ für anarchische Ausnahmesituationen gelten, sondern wird als ethisch unbedenkliche Sinnes-Alteration praktiziert und von über 60-jährigen nüchternen Geronten überwacht (vgl. II, 667e; 670e; 671d,e). Der Musikwissenschaftler Christian Kaden (1946–2015) interpretierte die Einspannung des Dionysos in die vernunftgeleitete „Ritualpädagogik“ der Nomoi folglich als Verharmlosung und Entmachtung des Rebengottes:
„Der unter die ‚Gesetze‘ geratene Dionysos ist Schirmherr der Unschädlich-Potenten = Impotenten. Und er wird deklassiert zum Gott der Ohnmacht, auch bei den Macht-Habenden. Intensiver kein sein Sturz nicht gedacht werden.“ (Kaden 2004, S. 87.)[7]
Gegen Kaden ist indes auch eine andere Einordnung des Dionysisch-Sympotischen in den Festkosmos der Gesetze vorstellbar, und zwar in Anlehnung an Gedanken des Philosophen Odo Marquard (1928–2015). In einem Essay von 1989 über das Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes sah Marquard das Fest bedroht, freilich weniger durch den Alltag und seine Anforderungen, sondern durch ein Übergreifen des Feierns auf alle Lebensbereiche.
„Aber man muß […] das Fest auch dadurch verteidigen, daß man den Alltag gegen das Fest verteidigt und dadurch das Fest gegen das Fest: gegen die Perversion des Festes. Denn das Fest – meine ich – hört auch dann auf, Fest zu sein, wenn es – statt neben den Alltag zu treten – an die Stelle des Alltags tritt und dadurch den Alltag auslöscht. Das Fest neben dem Alltag: das ist gut. Das Fest statt des Alltags: das ist problematisch und muß bös enden.“ (Marquard 1989, S. 685.)
Wenn das Fest jedoch zur Arbeitszeit und die Arbeitszeit zum Fest wird, entsteht der Wunsch nach einer alternativen Entlastung des durchgängig Gewohnten: der Wunsch nach Krieg bzw. nach Bürgerkrieg und Revolution, so die Behauptung Marquards (vgl. ebd., S. 686f.). Zu fordern sei darum neben der Stärkung des Alltags die Aufwertung des Sonntags, mithin eine Erneuerung des Festtypus I:
„Je mehr der Sonntag seine Kraft verliert, desto stärker wird das Bedürfnis, das ‚Moratorium des Alltags‘ als Krieg zu absolvieren, und je mehr das vermieden werden soll, desto mehr muß das religiöse Fest – exemplarisch der Sonntag – wieder an Kraft gewinnen. Die Perversion des Festes ruft – als Gegenmittel – nach dem Fest.“ (S. 690)
Auf Platon bezogen heißt das: Die Urbiquität der Festgänge, der Besonnenheits-Übungen in den Gesetzen birgt die Gefahr der Verödung des Alltags und des Feierns in sich. Wenn überall und an jedem Datum – selbst nur für eine begrenzte Zeit – Feste im Zeichen der sôphrosýnê zelebriert werden, braucht es ein Regulativ zur Dominante der Selbstbeherrschung. Omnipotente Contenance ruft nach einem Moratorium, nach einer Kanalisierung.
Tatsächlich erlebt der Festtypus I in Magnesia regelmäßig eine Erneuerung – nämlich ausgerechnet in dem erhabenen wie rauschenden Fest des Symposions. Innerhalb des „Alltags“ apollinischer Polis-Besonnenheit ist das Gelage das „Moratorium“: Das Bacchanal heiligt den dionysischen Enthusiasmus und erlaubt den reifen Bürger-Sängern, moralisch nachahmenswerte „Zauberlieder“ in „erfrischenden“ Variationen zu intonieren (vgl. II, 665c). Bakchos dient dem Lichtgott in den Nomoi nicht als Knecht, wie Kaden meinte; der Bringer von Fruchtbarkeit und Ekstase unterstützt vielmehr die tugendhafte Gefasstheit des Apollon-Chores und erlaubt in Rausch und Tanz eine Dynamik, die bei Platons aufs engste mit Festivität und Glück verknüpft ist: die Verjüngung. Für den Akademie-Gründer ruft speziell der Tanz einen Tauschvorgang zwischen unsterblicher Seele und sterblichem Körper hervor. Die órchêsis hebt den „lotrechten“ Verlauf der Gegenwart auf und initiiert ein Jüngerwerden, eine Hinwendung zum paradiesischen Ur-Muster der Gesetze aus der Ära des Kronos. Der Philosoph Manuel Schölles schreibt dazu:
„Der Tanz als höchste Vollzugsweise des Wechseltausch-Verhältnisses zwischen Körper und Seele führt für eine gewisse Zeit, für die Zeit des Tanzes, zu einer Verjüngung der Choreuten. In der Zeit des Tanzes ist unsere gewöhnliche Zeit des Alterns aufgehoben, und zwar indem sie verkehrt wird. […] Im freudigen Tanzen, in der verjüngenden Bewegung des in vollkommener Einheit tanzenden Organismus des Menschen, wähnt sich der Sterbliche unter der Herrschaft des Kronos, wo keine Mühen und Sorgen, aber auch keine Künste und Wissenschaft mehr existieren.“ (Schölles 2012, S. 153f.)
III. Begeistertsein und Jüngerwerden im Musikunterricht als „Fest der Sinne“
Ich möchte im Folgenden versuchen, Platons philosophische Grundierung einer gelingenden Existenz im Fest musikpädagogisch fruchtbar zu machen und mit der oben skizzierten Vorstellung von Ästhetischer Bildung nach Christoph Khittl zu verknüpfen. Ich fasse zunächst zusammen:
Die Nomoi enthalten im Kern zwei phänomenologische Erkenntnisse, die das Fest als Fest charakterisieren, auch wenn die feierlichen Akte Magnesias in dem Gewand einer rigoristischen und paternalistischen Erziehungs- und Gesellschaftskonzeption daherkommen. Die beiden grundlegenden Erscheinungsformen von solemnitas heißen bei Platon a) das Begeistertsein und b) das Jüngerwerden im (festlichen) Spiel.
Zu a) In den Gesetzen kann Besonnenheit und feiernd vergewissertes Glück nicht gelingen ohne ein Außer-sich-sein der Zelebranten, ohne ein Berührtsein von etwas Höherirdischem, ohne Transformation der eigenen Körper- und Gemütsverfassung in den Zustand des Anderen. Während die unter 31 Jahre alten Magnesier in ihren jeweiligen Chören die als göttlich verstandene Vernunft tanzend-singend erfahren, ja sich vom Divinen leiten lassen, steigern sich die über 31-jährigen dionysischen Choreuten altersgemäß in alkoholisierte Ekstase hinein – bis zu den 50- bis 60-jährigen berauschten Senioren, die der Jugend Zaubergesänge der Tugend vorsingen.
Zu b) Im Tanz der magnetischen Polis-Feste zeigt sich eine besondere Zeitlichkeit: Sie betrifft „die Aufhebung des Jung- und Altseins hin zu einer dritten lebenszeitlichen Bestimmung […: dem] Jüngerwerden des Chortänzers“ (Schölles 2012, S. 150). Wie sich die Tanz-Generation ab 31 Jahren im Augenblick dionysischer Entrückung ihrem eigenen Alter entzieht und wieder die Leichtigkeit der Jugend annimmt, so wähnt sich die gesamte Bürgerschaft dank ihrer Chortanz-Feste in der vorgeschichtlichen Glückszeit der Kronos-Herrschaft. Der Tanz – geradezu das Sinnbild für festives Spiel in Magnesia – hebt nicht nur für eine kurze Weile den Alltag der Menschen auf, sondern setzt gar unsere linear-fortlaufende Zeit diametral außer Kraft.
Ich kehre zu Christoph Khittl zurück. Als Fundament für sinnliche Festfähigkeit hatte Khittl eine besondere aisthetische Qualität bestimmt. Diese Qualität bedeutete die Voraussetzung für einen Musikunterricht als Festtypus III – als „Fest der Sinne“. Die Rede war von Achtsamkeit. Nach Khittl äußerte sich ein solches Aufmerksamsein für (inner)klangliche Wahrnehmungen von Welt in einem neugierigen „Lauschen, Schauen [und] Bilden“ der Schüler (Khittl 2010, S. 301). Die Instrumentalpädagogin Andrea Welte erklärt das Phänomen der Achtsamkeit genauer und verbindet es mit einer wachsamen Präsenz im Hier und Jetzt, mit einem „Gewahrsein für den lebendigen Augenblick“ (Welte 2015, S. 226). Im Anschluss an den US-amerikanischen Medizin-Professor Jon Kabat-Zinn zählt sie Wertneutralität, Anfängergeist, Geduld, Vertrauen, Akzeptanz, „Teflon-Geist“ und Loslassen auf, die das Charakteristische von awareness verdeutlichen (vgl. ebd., S. 228). Damit wird klar, dass Achtsamkeit keine rein kognitive Angelegenheit darstellt. Meine These lautet daher: Weitere Nuancen eines achtsamen Weltzugangs sind das Begeistertsein und das Jüngerwerden im Spiel. Ein „Sich-fesseln-lassen“ von der Klanglichkeit und Stille unseres Daseins betont die motivationale und empathische Seite von Achtsamkeit. Begeistertsein geht mit der Fähigkeit des heiteren Sich-öffnens auf neue und andere sinnliche Eindrücke einher und fordert Anteilnahme an gelingenden Wahrnehmungsprozessen. Es geht um eine lustvolle innere Festhaltung, die immer auch eine Ahnung von der Wirklichkeit außerhalb unseres Bewusstseins gibt. Wie das Begeistertsein umschließt ebenso das Jüngerwerden im Spiel Transzendenzerfahrungen. Dabei wird der „Flow“ der Zeit nicht nur aufgekündigt, sondern gleichsam umgeworfen in Richtung einer aisthetischen Anamnese. Das Spiel verjüngt den Spielenden hin zu einer Wiedererinnerung an die eigene kindliche Experimentierfreude, an die paidiá (nicht zufällig ist im Griechischen die Vokabel paîs für „Kind“ mit dem Ausdruck paidiá für „Spielerei“ verwandt). Eine demgemäß ludische „Regeneration“ führt zu jener Sicht auf das Leben zurück, die nach Kabat-Zinn zu den Grundzügen von Achtsamkeit gehört: zu der Haltung des Novizen. Der quasi mit einer kindlichen Untersuchung des Eigenen und des Anderen gekoppelte Anfängergeist „hilft, eingefahrene Routinen bewusst und spielerisch zu verlassen. Dadurch kann er zu neuen Erkenntnissen und Erfahrungen verhelfen.“ (Welte 2015, S. 228.)
Bei Platon geht der Funke für Begeistertsein und Jüngerwerden im Spiel allerdings von einem extrinsischen Momentum aus: von dem hingebungsvollen Genuss des Rebensaftes. An dessen Stelle tritt jetzt der hingebungsvolle Genuss der Musik, des Musikmachens und -wahrnehmens. Denn „Musik und Musizieren enthalten selbst schon die Merkmale und die Haltung des Festes [sowie] eine eigene Zeitstruktur und ein Wahrnehmungsangebot“ (Richter 1986a, S. 52 = 1986b, S. 127). Für die „Schulung und Kultivierung der Wahrnehmungsfähigkeit, des Wahrnehmungsgenusses sowie [die Anbahnung] der Wahrnehmungskritik“ (Khittl 2010, S. 300) seien zwei Beispiele des musikaktiven hingebungsvollen Genusses näher illustriert:
1) Der Unterricht ermöglicht berauschende Augenblicke im Flow sinnlich-musikalischen und musikbezogenen Tätigseins. Wie sich „Fluss“-Erfahrungen begreifen lassen, ist seit 1975 ein wesentliches Forschungsgebiet des ungarisch-US-amerikanischen Psychologen Mihály Csíkszentmihály. Unter das Flow-Erleben fallen nach Csikszentmihály: „Verschmelzung von Handlung und Bewusstsein, Aufmerksamkeitszentrierung auf ein begrenztes Feld, Verlust des Selbst, Gefühl der Kontrolle und Mühelosigkeit des Handlungsablaufs, Passung von Fähigkeiten und Anforderungen (weder Unter- noch Übertreibung), Aufhebung des normalen Zeitgefühls in einer Art Trance, Ausbleiben von Ängsten“ (Welte 2015, S. 219). Flow-Potenzial hat in der Schule etwa das singende, spielende und tanzende Erproben von Groove-Musik afrikanischer und afro-amerikanischer Provenienz bis hin zu Rock, Funk, Soul und Hip-Hop (vgl. die Studie über Groove aus der Perspektive einer kontextkritischen Musikdidaktik von Klingmann 2010). Flow-Anlässe bieten letztlich allgemein repetitive Musikgenres wie Minimal Music, Circle Songs, Kanons, Passacaglias, Toccata-Carillons, Lieder mit Ostinati, 4-Chord-Wendungen, Turnarounds, Call-Response-Mustern etc. (zu empirisch belegbaren Flow-Erlebnissen im Musikunterricht mit Beispielen von Barock bis Aleatorik siehe Volquartz 1999).
2) Ästhetische Bildung weckt Lust auf den hingebungsvollen Genuss von Verlangsamung und Stillwerden. In seinem Plädoyer für die Muße. Gedanken zu einem kontemplativen Musikunterricht listet Jürgen Oberschmidt sechs „Strategien der Entschleunigung“ auf: Konzentration auf das Musizieren; Von der Input- zur Outputorientierung; Kulturelle Wurzelerfahrungen; Kontemplatives Lernen; Vertiefen und Wiederholen; Über Pausen und das Wartenkönnen (vgl. Oberschmidt 2013, 55–62). Besondere Beachtung verdient hier die Meditation als Teil kontemplativen Lernens. „Die Musik kann uns zu solch einem meditativen Verweilen einladen: Eine Bach-Arie kann uns in dem ihr eigenen Dazwischen den Raum für kontemplative Beschaulichkeit und Nachdenklichkeit öffnen. Sie tut dies, indem sie den Handlungsverlauf anhält, dem Unterwegssein ein Ziel gibt, Abstand schafft und zugleich Anschlüsse für jenes bereithält, was sie auf Abstand bringt.“ (Ebd., S. 60.) Vergleichbar der Meditation ist die Kunst des Wartenkönnens keine passive Gehaltlosigkeit, sondern aktives Pausieren und handelndes Aufmerksamwerden für eine „Ästhetik des Unscheinbaren“ (vgl. den gleichnamigen interdisziplinären Sammelband von Rora/Roszak 2013). „Auch in der Musik sind Pausen nicht nichts, sondern Leerstellen, in denen Bedeutsames geschieht, als laut-loser Grund ist Stille das konstitutive Element der Musik. Wie die Pause in der Musik hat auch das Warten ganz unterschiedliche Qualitäten, die zum Lernen wie zum Leben existenziell dazugehören […]“ (Oberschmidt 2013, S. 61).
Welche „Zeremonialrolle“ füllen die Lernbegleiter im Unterrichtsrahmen eines „Festes der Sinne“ aus? Der Szenerie der platonischen Gesetze folgend, entsprechen Lehrer den älteren Dionysos-Anhängern, die im Symposion den Jüngeren begeisternde „Zaubergesänge“ vortragen. Anders formuliert: Unterrichtende überzeugen, motivieren und beglücken durch ihre Leidenschaft für Musik und durch ihre Weitergabe eines musikalischen Eros. Als künstlerische Persönlichkeit faszinieren sie ihre Schüler beispielsweise im Augenblick stilvollen Schulpraktischen Klavier- bzw. Gitarrenspiels oder enthusiasmieren als Sänger respektive Instrumentalisten zu Sing- und Musizierhaltungen in der Klasse, die ein Leben lang tragen. Brigitta Barandun hat in ihrer empirischen Dissertation Wie Begeisterung sich zeigtAspekte benannt, die den Enthusiasmus eines Lehrers aus der Sicht von Gesangs- und Instrumentalschülern beschreiben. Barandun zufolge kristallisierten sich für die begeisterte Lehrkraft neun Merkmale heraus: „Charisma, Freude, Engagement, Beziehung, Eros, Liebe, Präsenz (Zeit), Entrückung (Raum) und die Ganz eigene Art zu unterrichten“ (Barandun 2018, S. 218; Hervorhebungen im Original). Aber eine derartig auratische „Spiel“-Position des Lehrers ist mit Risiken behaftet. Solche Gefahren reichen von Überforderung des Selbst wie des Gegenübers bin hin zu einer übergriffigen Ausübung von Leistungsdruck und Macht (vgl. ebd., S. 228–236). Als Ausweg in Richtung einer ausgewogenen Unterrichtsform zeichnet Barandun deshalb das Profil einer besonnen enthusiastischen Lehrkraft. „[I]n der Kunst der Balance zwischen affektivem und kognitivem Vorgehen“ üben die Lehrenden „einerseits ihre Begeisterung und [wecken] andererseits eine feine innere Stimme in sich selbst […], welche sie immer wieder hinterfragen lässt, ob das, was sie tu[n], im Sinne ihrer Lernenden ist und nicht zuletzt, ob ihr Tun auch [ihnen] selbst zuträglich ist“ (ebd., S. 239). Das Muster des besonnenen Enthusiasmus geht seinerseits auf die Antike zurück (vgl. Bösel 2008, S. 179–182 mit Bezug zu Platons Phaidros) und findet auch in den Nomoi einen Anknüpfungspunkt: Im Symposion fallen die sophrosýnê als eine zentrale Tugend Magnesias und das Begeistertsein als dionysische Ausnahmekonstellation zusammen.
In einem anderen Lichte erscheint die Funktion des Lehrers jedoch, wenn der Unterrichtende die Aufgabe der über 60-jährigen nüchternen Nicht-Sänger des Trinkgelages übernimmt. Nunmehr ist die Lehrkraft nicht selbst aktive Mitzelebrantin des Festes, sondern dessen stille Beobachterin. Wie die Geronten bei Platon als Zeugen der Feier beiwohnen und für die Einhaltung der „Spielregeln“ sorgen, so stellt der Lehrer den didaktischen Festrahmen für die lustvolle sinnesschärfende Beschäftigung der Schüler mit Musik sicher. In seinem Aufsatz „Unbestimmtheitsstellen“ – Wildes Lehren und Lernen als musikdidaktisches Regulativ schraffiert Christoph Khittl die Konturen eines in diesem Zusammenhang interessanten Lehrerbildes. Hernach tritt der Unterrichtende nicht als Meister und Didaktisierer von kleinschrittigen Lernfolgen auf, sondern als „unwissender“ – d. h. sich „überflüssig“ machender, weil nicht belehrender – Initiator von schülereigenen musikalischen und musikbezogenen Probiersituationen (vgl. Khittl 2019, S. 41–63). Analog zu Gedanken des französischen Soziologen Claude Lévi-Strauss (1908–2009) und des polnischen Philosophen Roman Ingarden (1893–1970) spricht Khittl von einem „wilden“ (wildwüchsigen, nicht-gelenkt wachsenden, informellen) Lernen der Schüler. Dieses Lernen ereignet sich in ergebnisoffenen und unscharf vorhersagbaren Werkstatt- bzw. „bricolage“-Gelegenheiten, in denen sich „Unbestimmtheitsstellen“ jenseits didaktischer Planungen offenbaren. Lehren, das zu emanzipatorischer Selbstbildung und Selbstermächtigung durch „wildes Lernen“ führt, darf nach Khittl ebenfalls als „wild“ bezeichnet werden. Die besonnenen Greise der GesetzePlatons kultivieren insofern ein ähnliches „wildes Lehren“, als sie die Einhaltung der „Spielregeln“ in den Symposien Magnesias garantieren und auf nüchterne Weise an der berauschend-„wilden“ Begegnung der Jüngeren mit dem Göttlichen teilhaben. Als Geronten bezeugen sie „wildes Lernen“: das sich selbst erklärende, nicht pädagogisierbare Singen der alkoholisierten Dionysos-Sänger. Jene „Zaubergesänge“ sind als Folge dionysischer Epiphanie gewiss nicht „ergebnisoffen“ und emanzipatorisch im Khittl’schen Sinne, aber doch unverfügbar und selbstbildend. Man beachte, dass die singend-beseelten Symposiasten der Generation 50+ zu der gleichen Altersgruppe gehören wie die Philosophenherrscher in der Politeia, denen der platonische Sokrates ausdrücklich das Vermögen des „sich Selbstbildens“ (pláttein) zuerkennt (vgl. Platon, Politeia VI, 500d).
Ich bündele meine Ausführungen in einem abschließenden Schaubild:
Abb. 3: Begeistertsein und Jüngerwerden in einem Musikunterricht als „Fest der Sinne“.
Nachklang
Es wäre sicherlich überlegenswert, wie sich ein Musikunterricht als „Fest der Sinne“ auf Chor-, Orchester-, Band-, Tanz- und andere schulische Arbeitsgemeinschaften übertragen ließe. Gerade dort dürften Kinder und Jugendliche im Allgemeinen weniger freiheitlich für sich selbst aisthetisch „werkeln“ (in „bricolage“ arbeiten, um mit Lévi-Strauss zu sprechen), weil sie sich auf vorgegebene performance-Ansprüche des Festtyps I bzw. II vorbereiten, etwa auf das nächste Adventskonzert, die anstehende Abschlussfeier, den angekündigten Musikabend oder das kommende Sommerfest. Überdies bleibt zu fragen, ob Ästhetische Bildung als sinnesschärfender Festtyp III gegen den lärmend-narkotisierenden Alltag der Schüler, gegen die An-ästhesie von Umgebungs-Versoundung und Ohrstöpsel-Beschallung überhaupt eine Chance hat. Und dennoch: Ein Musikunterricht als „Fest der Sinne“ sollte nicht daran verzweifeln, wenn Schüler weiterhin an ihren Musikkonsum-Gewohnheiten festhalten, wenn Lernende zum Rhythmus der von ihnen bevorzugten Referenz-Musik ihren Alltag leben und gestalten. Alltag darf Alltag bleiben – umso wichtiger ist die Singularität des Festes. Zumal in einer Welt, in der Fest meist mit Party gleichgesetzt wird und zu perennierender „Fêten-Mucke“ aufruft. Ich zitierte noch einmal Odo Marquard:
„Wenn das Fest [besser gesagt: die Party] zur ganzen Wirklichkeit und die ganze Wirklichkeit zum Fest werden soll – zum einen einzigen Alleinfest: zu jenem absoluten Moratorium des Alltags, das weder den Alltag noch andere Feste neben sich duldet und nur noch Ausnahmezustand ist –, geht es nicht gut. Es kann daraus nichts menschlich Aushaltbares werden, denn wer – und das wäre ja die Intention dieses absoluten Festes – die Erde zum Himmel machen will, macht sie zuverlässig zur Hölle.“ (Marquard 1989, S. 689.)
Quelle und Kommentar
Schöpsdau, Klaus (21990) [1976/77]: Platon. Gesetze, 2 Bände (= Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, 8. Band). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Schöpsdau, Klaus (1994, 2003, 2011): Platon. Nomoi (Gesetze). Übersetzung und Kommentar, 3 Bände. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Literatur
Barandun, Brigitta: Wie die Begeisterung sich zeigt. Eine empirische Studie zum Enthusiasmus der Lehrkraft im Instrumental- und Gesangsunterricht. Münster: Waxmann 2018.
Bösel, Bernd: Philosophie und Enthusiasmus. Studien zu einem umstrittenen Verhältnis. Wien: Passagen 2008.
Ehrenforth, Karl Heinrich: Geschichte der musikalischen Bildung. Eine Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte in 40 Stationen. Von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart. Mainz: Schott 2005.
Höftmann, Andreas: Muße und Musikerziehung nach Aristoteles. Ein Beitrag zur musikpädagogischen Antike-Forschung. Augsburg: Wißner 2014.
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Kaden, Christian: Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel: Bärenreiter und Metzler 2004.
Khittl, Christoph: „Unbestimmtheitsstellen“ – Wildes Lehren und Lernen als musikdidaktisches Regulativ. In: Jürgen Oberschmidt; Stefan Zöllner-Dressler (Hg.): Musik – Bild – Bewegung – Sprache. Zu Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation. Essen: Die Blaue Eule 2019, S. 41–63.
Khittl, Christoph: Das Fest als (un-)geliebte Variable musikpädagogischen Denkens und Handelns. In: Martin Eybl / Stefan Jena / Andreas Vejvar (Hg.): Feste. Theophil Antonicek zum 70. Geburtstag. Tutzing: Hans Schneider 2010, S. 287–304.
Klingmann, Heinrich: Groove – Kultur – Unterricht. Studien zur pädagogischen Erschließung einer musikkulturellen Praktik. Bielefeld: transcript 2010.
Lehmhus, Antje: Kalokagathia versus funktionale Erziehung. Ernst Kriecks Platonzitate und ihre Bedeutung für die Musikpädagogik. Berlin: Die Blaue Eule 2008.
Marquard, Odo: Moratorium des Alltags – Eine kleine Philosophie des Festes. In: Walter Haug, Rainer Warning (Hgg.): Das Fest. München: Wilhelm Fink 1989.
Oberschmidt, Jürgen: Ein Plädoyer für die Muße. Gedanken zu einem kontemplativen Musikunterricht. In: Diskussion Musikpädagogik 2013, Heft 60, S. 55–62.
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Raptis, Theocharis: Den Logos willkommen heißen. Die Musikerziehung bei Platon und Aristoteles. Frankfurt/Main: Peter Lang 2007.
Richter, Christoph: Arbeit – Freizeit – Fest. Brauchen wir eine andere Schule? In: Karl Heinrich Ehrenforth (Hg.): Arbeit – Freizeit – Fest. Brauchen wir eine andere Schule? Kongressbericht 16. Schulmusikwoche Ludwigshafen 1986, Mainz: Schott 1986a, S. 40–56. = Christoph Richter (1986b): Arbeit – Freizeit – Schule. Musikerziehung in einer veränderten Freizeitkultur, Kassel: Bärenreiter 1986b, S. 107–133.
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[1] Infolgedessen verwenden kathartische Kulte sogenannte enthusiastische Melodien: siehe Aristoteles, Politik VIII 7, 1341b 32–1342a 15; dazu Höftmann 2014, S. 123–130.
[2] Zur Frage der politischen, nicht nur kultischen Gleichstellung von männlichen und weiblichen Bürgern in den Nomoi siehe Schöpsdau 1994, S. 110, Fußnote 29.
[3] Der Uniformismus der Festkultur in den Nomoi darf nicht mit Totalitarismus gleichgesetzt werden. Zwar hat sich der NS-Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck (1882–1947) ausdrücklich auf die Gesetze berufen, um eine totalitäre „Formung des Menschen“ durch musische Feiern zu propagieren. Allerdings speist sich ein solches Ideal aus einer „eklektizistisch[en]“ und „sinnentfremdend[en]“ Rezeption der Nomoi; vgl. Lehmhus 2008, 174–178. – Sinnfällig wird Platons Querständigkeit zum musischen Holismus des 20. Jahrhunderts erst recht dadurch, dass es in der musischen Erziehung um säkularisierte kultische Selbstvergewisserungen nach Khittls zweitem und drittem Festnaturell ging.
[4] Vgl. das Marionettengleichnis aus Nomoi I, 644c-645c: Vertraut der Mensch als „Wunderwerk“ (thaûma) der Götter einem höheren, existenziell lenkenden Golddraht der Vernunft, „so freut sich die Gottheit an seinem (und zugleich ihrem) ‚Spiel‘“ (Schöpsdau 1994, S. 234).
[5] Welche politischen Auswirkungen die Missachtung von tugendhafter Selbstbeherrschung hat, wird in den Nomoi an der zügellosen „Theaterherrschaft“ Athens (vgl. III, 700a-701d) sowie an der einseitigen Kriegsschulung der Spartaner (vgl. z. B. II, 667a; III, 668a; IV, 705d) festgemacht.
[6] Trinkgesetze haben sich sogar für Symposien der platonischen und aristotelischen Philosophenschule erhalten; Belege bei Schöpsdau 1994, S. 339.
[7] Kaden passte Platon hier in die kulturelle Umbruchszeit des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts ein: Diese soll eine ältere, sich ergänzende Spannung zwischen apollinischen und dionysischen Lebenswelten zugunsten des Musageten entschieden und deshalb zu einer heiklen „Verhaustierung des Dionysos“ (ebd., S. 88) geführt haben. Kadens Dekadenzgeschichte der hellenischen Bakchos-Kultur ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Jedenfalls lässt sie sich nicht mit Ressentiments Platons (und weiterer athenischer Kreise) gegenüber dem Aulos belegen, einem in orgiastisch-dionysischen Kulten häufig eingesetzten Doppelrohr-Instrument; vgl. ebd., S. 77–80. Zur Beliebtheit des Aulos in der griechischen Spätklassik siehe Höftmann 2014, 116–122 mit Bezug auch zum vermeintlich Aulos-feindlichen Hintergrund der seinerzeit populären Athene-Marsyas-Sage.