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Körper-Leib-Instrument — MusikInstrumentalpädagogische Überlegungen zu einer komplexen Beziehung

Wolfgang Lessing

 

[Beitrag als PDF]

  1. Yus­suf revis­it­ed

Eine kurze Vorbe­merkung: Zu Beginn meines Beitrages „Üben als Han­deln“ (Less­ing 2018) doku­men­tierte ich eine Unter­richtsse­quenz, die ich im Rah­men mein­er instru­men­talpäd­a­gogis­chen Aus­bil­dungstätigkeit an der Dres­d­ner Musikhochschule beobacht­en kon­nte. Wenn ich in dem vor­liegen­den Text noch ein­mal auf diese Sequenz zurück­komme, so soll damit keineswegs der Gedanken­gang jenes Beitrags wieder­holt wer­den. Vielmehr scheint mir die beobachtete Szene in Hin­blick auf das Dreiecksver­hält­nis von Kör­p­er, Instru­ment und Musik einen Facetten­re­ich­tum aufzuweisen, der mit dem älteren Text noch keineswegs abge­golten ist. Daher seien auch die fol­gen­den Über­legun­gen mit dieser Sequenz eröffnet:

„Eine Szene aus dem instru­men­tal­en Grup­pe­nun­ter­richt, beobachtet in ein­er Dres­d­ner Grund­schule: vier Kinder im Alter von zehn Jahren haben die erste Gitar­ren­stunde ihres Lebens. Die Stim­mung ist aus­ge­lassen und fröh­lich. Schnell haben alle ihre neuen Instru­mente aus­gepackt und steuern erwartungsvoll auf ihre Plätze im Sitzkreis zu. Dabei „spie­len“ sie unabläs­sig auf ihren Instru­menten. Yus­suf hat die Gitarre eng an seinen Bauch gepresst und macht ein starkes Hohlkreuz; dazu bewegt er rhyth­misch den Hals des Instru­ments nach oben und unten. Zweifel­sohne imi­tiert er die exaltierte Pose eines Rock­gi­tar­ris­ten. Mit sein­er recht­en Hand schlägt er schnelle Arpeg­gien auf den leeren Sait­en an, während er mit starken Gri­massen, verz­er­rter Stimme und ver­dreht­en Augen ein paar Töne auf Fan­tasiesil­ben singt. Das Lachen der anderen Kinder ani­miert ihn, seine Per­for­mance fortzuset­zen und auszubauen. Nur mit Mühe gelingt es dem Lehrer – einem Stu­den­ten, der erst­ma­lig eine Gruppe unter­richtet –, ihn zu unter­brechen und die Gruppe zur Ruhe zu brin­gen. Im weit­eren Stun­den­ver­lauf kommt es immer wieder zu Momenten, in denen die Kinder die von Yus­suf so ein­drück­lich vorgemachte Pose des Rock­gi­tar­ris­ten ihrer­seits zu imi­tieren ver­suchen, wobei der Lehrer dies stets zu unterbinden ver­sucht. Und zwar nicht allein aus diszi­pli­nar­ischen Grün­den, son­dern – wie er im Nachge­spräch äußert –, um die Kinder von vorn­here­in vor ein­er „falschen“, phys­i­ol­o­gisch völ­lig ungeeigneten Gitar­ren­hal­tung zu bewahren. Inhaltlich erscheint die Stunde nahezu als Kon­trast­pro­gramm zu Yus­sufs ful­mi­nan­tem Auftritt. Den Kindern wird eine angemessene Sitzhal­tung gezeigt, sie erler­nen den Gebrauch der Fußbank und erfahren, wie sie selb­st zu Hause kon­trol­lieren kön­nen, ob sie ihre Gitarre „richtig“ hal­ten. Auch über den Anschlagswinkel der recht­en Hand wird kurz gesprochen. Am Ende der Stunde erhal­ten sie die Auf­gabe, ein gle­ich­mäßiges Metrum auf der D-Saite zu spie­len und dazu ein Volk­slied (Bunt sind schon die Wälder) zu sin­gen, was nicht ganz ein­fach ist, weil nie­mand das Lied ken­nt und das Ler­nen von Text und Melodie mehr Zeit beansprucht, als der Stu­dent ver­an­schlagt hat­te.

In den fol­gen­den Stun­den wird auf der hier geschaf­fe­nen Grund­lage aufge­baut. In einem angemesse­nen Lern- und Arbeit­stem­po ler­nen die Kinder die ersten Töne mit ihrer linken Hand zu greifen, wobei der Lehrer – wiederum aus Grün­den ein­er „sauberen“ Spiel­tech­nik – voll­ständig in der Ein­stim­migkeit verbleibt. Dazu wird viel gesun­gen, mit Solmi­sa­tion­ssil­ben gear­beit­et und auf Noten ganz verzichtet.  Aber obgle­ich der method­is­che Ansatz durch­dacht erscheint, die Lehrersprache „kindgerecht“ ist, der Stu­dent immer wieder das innere Hören der Kinder anzure­gen ver­sucht und am Ende ein­er jeden Stunde genaue Tipps zum häus­lichen Üben gibt,  ist nicht zu überse­hen, dass sich in der Gruppe rel­a­tiv schnell eine gewisse Lust­losigkeit bre­it­macht, was sich u. a. daran äußert, dass sich Yus­suf und Moritz immer wieder aus dem gemein­samen Unter­richts­geschehen aus­blenden. Auch ist deut­lich zu spüren, dass die Kinder mit den Hausauf­gaben eher lax umge­hen und häu­fig in den Unter­richt kom­men, ohne geübt zu haben.“ (Less­ing 2018, S.70f.)

Der Unter­schied zwis­chen Yus­sufs kör­per­lich­er Dis­po­si­tion bei sein­er Dar­bi­etung und während der anschließen­den Unter­richtsstunde kön­nte markan­ter nicht sein. Im ersten Fall scheint die Gitarre unmit­tel­bar zu seinem Kör­p­er zu gehören. Schon allein in ihrer puren Objek­thaftigkeit ist sie Teil der Per­for­mance: Sie wird „eng an den Bauch gepresst“ und ihr Hals „rhyth­misch von oben nach unten bewegt“. Keineswegs ist sie nur ein Gegen­stand, der Musik zum Klin­gen brin­gen soll, vielmehr erscheint sie selb­st bere­its als unveräußer­lich­er Bestandteil eines musikalis­chen Zusam­men­hanges, der durch das Ineinan­der­greifen von aus­druck­shafter Kör­per­be­we­gung, Gestik, Mimik und Stimme gekennze­ich­net ist. In der eigentlichen Unter­richtsstunde mutiert sie hinge­gen zu einem neu­tralen Objekt, dessen Beherrschung müh­sam erlernt wer­den muss. Wie sie so wird auch Yus­sufs Kör­p­er, der zuvor eine – noch genauer zu bes­tim­mende – Ein­heit mit dem Instru­ment gebildet hat­te, im wahrsten Sinne zu einem „Fremd-Kör­p­er“. Diese gegen­seit­ige Beziehungslosigkeit definiert einen Punkt Null, von dem aus­ge­hend dann der Instru­men­talun­ter­richt und das an ihn angeschlossene häus­liche Üben als Prozess ein­er allmäh­lichen, mühevollen und möglicher­weise nicht son­der­lich erfol­gre­ichen Land­nahme erscheint.

Die beschriebene Szene ist eine Her­aus­forderung für jedes instru­men­talpäd­a­gogis­che Nach­denken. So wie sich die eigentliche Unter­richtsstunde unter dem Gesicht­spunkt eines Lern­prozess­es beschreiben lässt (angemessene Sitzhal­tung, Gebrauch der Fußbank, kor­rek­ter Anschlagswinkel, Erler­nen eines Liedes und sein­er instru­men­tal­en Begleitung), so kann man sie auch als ein Geschehen inter­pretieren, in dem zweifel­los vorhan­dene Fähigkeit­en nicht nur nicht zum Zuge kom­men, son­dern – um des Erre­ichens prä­fix­iert­er Lernziele willen – regel­recht zurückge­drängt wer­den. Denn auch wenn Yus­suf während sein­er Ein­gangsper­for­mance streng genom­men noch gar nicht Gitarre spie­len kann, son­dern lediglich nur so tut „als ob“, so ver­birgt sich in diesem Als ob doch eine Zugangsweise zum Instru­ment, die man regel­recht als Ziel instru­men­talpäd­a­gogis­ch­er Arbeit beze­ich­nen kön­nte. Eine Her­aus­forderung ist diese Szene insofern, als durch sie die Frage aufge­wor­fen wird, ob und inwieweit die musikalisch-kör­per­lichen Qual­itäten, die Yus­sufs „Nicht-Kön­nen“ augen­schein­lich begleit­en, für den „eigentlichen“ instru­men­tal­en Lern­prozess nutzbar gemacht wer­den kön­nen. Oder muss man davon aus­ge­hen, dass für das reg­uläre Erler­nen des Instru­ments der­ar­tige Qual­itäten eher keine Rolle spie­len, da sie doch sin­nvoll erst dann zum Zuge kom­men, wenn entsprechende tech­nis­che und musikalis­che Fähigkeit­en über län­gere Zeitspan­nen hin­weg erwor­ben wor­den sind? Müsste man Yus­sufs Per­for­mance nicht mit dem Verdikt „Mehr Schein als Sein“ begeg­nen und wäre es nicht die Auf­gabe eines „ser­iösen“ Instru­men­talun­ter­richts, diese Formel umzu­drehen?

Um diese Frage beant­worten zu kön­nen, müssen wir Yus­sufs Per­for­mance noch bess­er ver­ste­hen ler­nen. Dies geschieht keineswegs in der Absicht, sie zu über­höhen: sie ist, trotz all ihrer vital­en Spiel­freude, sicher­lich kein Akt, der wegen ein­er exzep­tionellen Kreativ­ität beson­dere Beach­tung ver­di­ente. Allem Anschein nach ruft Yus­suf in sein­er Per­for­mance eine ganz konkrete Sit­u­a­tion auf, die er irgend­wo schon ein­mal gese­hen und die ihn beein­druckt hat. Doch genau dieses Aufrufen eines konkreten kul­turellen Zusam­men­hanges, das bekan­ntlich für kindlich­es Spie­len und Ler­nen ins­ge­samt charak­ter­is­tisch ist, scheint für ein Ver­ständ­nis sowohl dieser Szene wie auch der anschließen­den Unter­richtsstunde von großer Bedeu­tung zu sein.

Schauen wir zunächst noch ein­mal genauer auf Yus­sufs konkreten Umgang mit dem Instru­ment. Für die Dauer sein­er Per­for­mance scheint er regel­recht mit sein­er Gitarre zu ver­schmelzen: Wenn er das Instru­ment „eng an seinen Bauch“ presst und diese Pose auch noch mit einem Hohlkreuz verbindet, dann stellt er nahezu demon­stra­tiv einen Zusam­men­hang zwis­chen der Größe des Gitar­renko­r­pus und sein­er Bauch­fläche her; so wie bei konkaven und kon­vex­en Bausteinen Höh­lun­gen und Wöl­bun­gen zusam­men­stim­men, so wird auch hier gle­ich­sam demon­stra­tiv eine Pas­sung zwis­chen Instru­ment und Kör­p­er hergestellt. Gitarre und Kör­p­er scheinen wie Puz­zleteile zusam­men­zuge­hören. Und wie das Instru­ment zum Teil des Kör­pers wird, so reagiert auch der Kör­p­er auf die Bedin­gun­gen des Instru­mentes: Indem Yus­suf den Gitar­ren­hals „rhyth­misch von oben nach unten“ schwingt, und seinen Kör­p­er mit in diese Bewe­gung hinein­nimmt, passt sich nicht nur das Instru­ment an den Kör­p­er, son­dern auch dieser an jenes an. Im Zuge dieser Anpas­sung wird die Form des Gitar­ren­halses auf eine bes­timmte Weise inter­pretiert: Dem Hals wird gle­ich­sam die „Funk­tion“ zuerteilt, mit­tels der Arme rhyth­misch bewegt wer­den zu kön­nen. Seine „reg­uläre“ Bedeu­tung – der Ort zu sein, an dem die linke Hand unter­schiedliche Ton­höhen erzeugt –, wird um einen Aspekt ergänzt, der vornehm­lich visueller Natur zu sein scheint, durch den Yus­suf aber zweifel­los zu spez­i­fis­chen Aus­drucks­be­we­gun­gen ani­miert wird, die ihrer­seits mit der im engeren Sinne akustisch-musikalis­chen Dimen­sion ver­net­zt sind.  Die Gitarre ist nicht nur der Ort, an dem Klänge erzeugt wer­den, son­dern zugle­ich ein „spar­ring part­ner“, der ein spez­i­fis­ches musikalis­ches Bewe­gungsreper­toire evoziert.

Möglicher­weise ist die Vok­a­bel der Ver­schmelzung gar nicht son­der­lich geeignet, um Yus­sufs schein­bares Gitar­ren­spiel zu charak­ter­isieren. Denn mit ihr wird ja lediglich die Beziehung zwis­chen Kör­p­er und Instru­ment fokussiert. Der ger­ade gefal­l­ene Begriff der Inter­pre­ta­tion weist jedoch in eine noch etwas andere Rich­tung: Yus­suf schafft mit sein­er kurzen Per­for­mance ein kom­plex­es Bedin­gungs­ge­füge, das aus Mimik, Gestik und stimm­lich­er Ver­laut­barung beste­ht und das von einem über all­dem schweben­den Dar­bi­etungscharak­ter getra­gen ist. Um die Gitarre als Ver­längerung seines Kör­pers erscheinen lassen zu kön­nen, ist jed­er dieser Aspek­te gle­icher­maßen wichtig und notwendig, was schon allein aus der Tat­sache deut­lich wird, dass im anschließen­den reg­ulären Unter­richt, in dem es nahezu auss­chließlich um die Beziehung zwis­chen Spiel­er und Instru­ment geht und in dem bis auf das Sin­gen und Begleit­en des neu erlern­ten Liedes alle anderen Aspek­te aus­geklam­mert wer­den, die Gitarre plöt­zlich den Sta­tus eines „Objek­ts“ erhält, dessen „Bedi­enung“ müh­sam erlernt wer­den muss.  Um den Kor­pus der Gitarre und seine Bauch­fläche als ineinan­der­greifend und zusam­menge­hörig inter­pretieren zu kön­nen bzw. um den Gitar­ren­hals zum Ort eines musikalisch-rhyth­mis­chen Ereigniss­es wer­den zu lassen, muss sich Yus­suf inner­lich an einem Ort posi­tion­ieren, der von vorn­here­in von einem Zusam­menge­hen dieser Aspek­te aus­ge­ht und an dem auf keinen von ihnen verzichtet wer­den kann. Dieser Ort ist für ihn ganz offenkundig mit sein­er Vorstel­lung von Rock­musik (im weitesten Sinne) verknüpft – und nur von ihm aus­ge­hend scheint sich Yus­suf mit sein­er Gitarre verbinden zu kön­nen.

Aber wieso ist dieses Hin­aus­ge­hen über die Beziehung Spiel­er-Instru­ment so entschei­dend für die Gestal­tung eben dieser Beziehung? Die Antwort, dass es immer ein „Worauf“ geben muss, auf das sich die Umgangsweise mit einem Instru­ment bezieht, und dass dieses Worauf selb­stver­ständlich die Musik ist, ist zwar nicht falsch, greift aber zu kurz: schließlich wird auch, wie zu sehen war, im eigentlichen Unter­richt (und dann auch in den Folges­tun­den) Musik gemacht – und zwar nicht nur neben­bei, son­dern mit dem erk­lärten Ziel, das innere Hören der Kinder anzure­gen (daher die Ver­wen­dung von Solmi­sa­tion­ssil­ben und die regelmäßige Ein­beziehung des Sin­gens), um die der­art audi­ierten Klänge dann auf das Instru­ment zu über­tra­gen.

  1. Das Spiel zwis­chen Leib und Kör­p­er – eine Annäherung an Hel­muth Pless­ners Leib-, Kör­p­er- und Kul­turver­ständ­nis

Um den Unter­schied zwis­chen bei­den Sit­u­a­tio­nen genauer zu ver­ste­hen, ist es notwendig, an dieser Stelle etwas weit­er auszu­holen und vorüberge­hend eine anthro­pol­o­gisch-philosophis­che Per­spek­tive einzunehmen. Ich rekur­riere auf Hel­muth Pless­ner und hier vor allem auf dessen Vorstel­lung von der „exzen­trischen Posi­tion­al­ität des Men­schen“.  Die Wahl dieses the­o­retis­chen Rah­mens ist sich­er nicht recht­fer­ti­gungs-, aber doch vielle­icht erk­lärungs­bedürftig. Die philosophis­che Anthro­polo­gie muss sich nicht nur immer wieder gegen den Vor­wurf eines häu­fig kul­turkon­ser­v­a­tiv­en Zuschnitts vertei­di­gen. Seit Adorno ste­ht sie darüber hin­aus im Ver­dacht, die Schut­zlosigkeit des Indi­vidu­ums zu ein­er invari­anten „qual­i­tas humana“ zu ver­brä­men, um hier­von aus­ge­hend dann ihre These ein­er biol­o­gis­chen Notwendigkeit von Kul­tur zu begrün­den (vgl. Adorno 2003, S. 130 sowie – als Ent­geg­nung – Gamm 2015). Dem ste­ht allerd­ings die Tat­sache gegenüber, dass Pless­ners frühe Schriften zur Leib­lichkeit des Men­schen (die „Ästhe­si­olo­gie“ [1923] sowie vor allem die „Stufen des Organ­is­chen“ [1928]) im Zuge der ab dem Jahre 2000 an Fahrt aufnehmenden Gehirn-Geist-Kör­p­er-Debat­te sowie der aktuellen Verkör­pe­rungs-The­o­rien eine gle­icher­maßen kom­plexe wie auch sub­tile Argu­men­ta­tion­s­grund­lage darstellen, um beispiel­sweise der Fix­ierung der Neu­rowis­senschaften auf zere­brale Repräsen­ta­tion­s­mod­elle begeg­nen zu kön­nen. Ein musikpäd­a­gogis­ches Inter­esse an Pless­ner[1] muss bei seinem Leib-Ver­ständ­nis anset­zen – und nicht bei seinen musik­be­zo­ge­nen Tex­ten, die in ihrer teil­weise unre­flek­tierten Zurück­weisung avant­gardis­tis­ch­er Ten­den­zen in der Tat neg­a­tiv mit dem Begriff des Kul­turkon­ser­v­a­tivis­mus‘ etiket­tiert wer­den kön­nen. Ich werde mich zunächst mit Pless­ners Leib-Kör­p­er-Konzep­tion (2.1) auseinan­der­set­zen, um hier­von aus­ge­hend dann die zen­tralen Begriffe der „Gren­ze“ sowie der „Posi­tion­al­ität“ (2.2) zu erläutern. Das auf diese Weise ent­fal­tete philosophis­che Panora­ma soll dann im drit­ten Abschnitt dieses Beitrages auf unsere Aus­gangssi­t­u­a­tion angewen­det wer­den.

2.1 Leib-Kör­p­er

Die Über­win­dung des Carte­sian­is­chen Dual­is­mus ist ein Anliegen, das Pless­ner mit vie­len sein­er philoso­phieren­den Kol­le­gen der 1920er Jahre – Husserl, Hei­deg­ger, Schel­er, um nur einige zu nen­nen – teilt. Sein Lösungsansatz geht dabei wed­er in die Rich­tung eines tran­szen­den­tal­en Ide­al­is­mus, eines monis­tisch-natur­wis­senschaftlichen Mate­ri­al­is­mus noch schließlich – trotz aller Nähe zu Husserl – in eine phänom­e­nol­o­gis­che Rich­tung. Wie Hei­deg­ger geht Pless­ner davon aus, dass das men­schliche Dasein „sich immer schon vor­weg ist, wenn es erlebend bei dem oder jen­em ist, mit dem wir ger­ade zu tun haben« (Misch 1994, S. 339). Während Hei­deg­ger den Umstand, dass das Dasein nicht Herr im eige­nen Haus ist (und deswe­gen auch nicht Sub­jekt genan­nt wer­den darf), als „Gewor­fen­heit“ zu fassen ver­sucht, spricht Pless­ner mit ein­er ganz ähn­lichen Zielset­zung von „Geset­zt­sein“, und rührt damit an die Tat­sache, dass sich der Men­sch in den bei­den Erschei­n­ungsweisen seines Kör­pers, also sowohl im „Leib“, der er istals auch im „Kör­p­er“, den er hat, immer schon vorfind­et.

Pless­ners bere­its 1928 for­mulierte Unter­schei­dung zwis­chen Leib-Sein und Kör­p­er-Haben (Pless­ner 1980–85, GS IV) läuft jedoch wed­er auf ein dual­is­tis­ches Gegenüber­ste­hen zweier gegen­sät­zlich­er Pole noch auf deren Aufhe­bung in einem Drit­ten noch schließlich auf eine Über­win­dung des Kör­pers in der Utopie ein­er unent­fremde­ten Leib­lichkeit hin­aus. Seine Philoso­phie ist, wie Heinz-Peter Krüger fest­stellt, eine Philoso­phie der „Dif­ferenz“ – und darin beste­ht ihre neu zu ent­deck­ende Aktu­al­ität ger­ade auch für das musikpäd­a­gogis­che Nach­denken. „Dif­ferenz“ bedeutet, dass der Gegen­satz zwis­chen Kör­p­er und Leib nicht geschlichtet, son­dern als unau­flös­bare Kor­re­la­tion begrif­f­en wird, die stets neu gestal­tet wer­den muss. Für die Art und Weise dieser Gestal­tung kommt Pless­ner immer wieder auf den Begriff des „Spiels“ zurück, der, wie wir sehen wer­den, für ein Ver­ständ­nis von Yus­sufs Per­for­mance von großer Bedeu­tung ist. Dif­ferenz bedeutet aber auch, dass die bei­den ver­meintlichen Kon­tra­hen­ten –  Leib und Kör­p­er – sich in ihrer Gegen­sät­zlichkeit über­haupt erst gegen­seit­ig her­vor­brin­gen, wobei die begrif­fliche Rekon­struk­tion dieses Gegen­satzes lediglich das fest­stellt, was im Akt der Anschau­ung selb­st bere­its schon in Anspruch genom­men wurde.

Inwieweit, so wäre also zunächst zu fra­gen, ist uns bere­its in unser­er Anschau­ung die Dif­ferenz zwis­chen Leib und Kör­p­er gegeben? Als Leib lässt sich mit Pless­ner diejenige Ver­fass­theit beze­ich­nen, in der sich unser eigen­er Kör­p­er von jedem anderen Kör­p­er in der Welt unter­schei­det. Er beze­ich­net jene beson­dere Zuständlichkeit, in der wir unseren Kör­p­er als unseren Kör­p­er erleben – als etwas, das untrennbar zu uns gehört und das wir unmit­tel­bar empfind­en und bewe­gen kön­nen. Dadurch, dass er zu uns gehört, ste­ht er in aller Regel auch außer Frage: wir sind uns unseres Leibes oft gar nicht bewusst, weil wir zumeist aus ihm her­aus agieren. Das ändert sich jedoch in dem Moment, in dem wir beispiel­sweise eine kom­plexe spiel­tech­nis­che Bewe­gung am Instru­ment oder eine neue Sportart erler­nen wollen. Ein häu­figer Aneig­nungsweg beste­ht in diesen Fällen in der Ein­schal­tung des Bewusst­seins, durch das die fraglichen Kör­perteile, die diese Bewe­gun­gen aus­führen sollen, nun zu Objek­ten wer­den, die wir wil­lentlich manip­ulieren kön­nen, um unser Ziel zu erre­ichen. Wobei wir dann manch­mal die dur­chaus frus­tri­erende Erfahrung machen, dass es Men­schen gibt, die dieselbe Bewe­gung bere­its der­art inte­gri­ert haben, dass sie gar nicht wis­sen, worin unser Prob­lem eigentlich beste­ht. Bei ihnen ist sie zum Teil ihres Leibes gewor­den. Allerd­ings wer­den auch diese Men­schen diese Bewe­gung irgend­wann ein­mal erlernt und dabei zumin­d­est ansatzweise eine Kör­p­er-Ein­stel­lung ein­genom­men haben. In dem wün­schenswerten Fall, dass auch wir diese Bewe­gung ein­mal automa­tisiert haben wer­den, ist ein Inte­gra­tionsprozess abgeschlossen, in dem das, was zuvor Kör­p­er war, nun in ein leib­lich­es, untrennbar zu uns gehören­des Ver­mö­gen zurück­ver­wan­delt wor­den ist.

Als Leib kön­nen wir unsere Aufmerk­samkeit, ganz wie in der Kör­p­er-Ein­stel­lung, zwar eben­falls wil­lentlich auf bes­timmte Bewe­gun­gen richt­en – z.B. kön­nen wir beschließen, heute ein­mal mit dem anderen Fuß aufzuste­hen. Wir müssen dies aber nicht, der Vor­gang unseres Auf­ste­hens würde auch ohne diese Entschei­dung funk­tion­ieren. Im Gegen­satz dazu erscheint die Kör­p­er-Ein­stel­lung, in der ein Wech­sel zu ein­er Objek­t­per­spek­tive erfol­gt, als etwas gle­ich­sam Notwendi­ges, ohne dass wir bes­timmte Ziele nicht erre­ichen kön­nen.

Allerd­ings gibt es auch Fälle, z.B. heftige Schmerzen, in denen der Leib als Ganz­er her­vor­tritt und nun „wed­er der selb­stver­ständliche Mit­spiel­er noch der­jenige Mit­stre­it­er [ist], der sich mit einge­spiel­ter Leichtigkeit unserem Wollen fügt. […] Die Unmit­tel­barkeit des Leibes kann uns ver­schlin­gen, wenn sie für uns unbe­d­ingt wird, d. h. durch keine gegensin­nige Verkör­pe­rung mehr bed­ingt wer­den kann“  (Krüger 2000, S. 294).

Stellen wir uns nun vor, dass ich mit meinem spiel­tech­nis­chen Prob­lem in den Instru­men­talun­ter­richt komme, in der Hoff­nung, aus dem Munde meines Lehrers ein passendes Rezept zu emp­fan­gen. Hier offen­bart sich nun ein weit­er­er Aspekt des Kör­p­er-Habens. Die Lehrkraft wird sich meine Bewe­gun­gen genau anse­hen und dabei über­legen, welche Empfehlung sie geben kön­nte. Nicht ohne Grund habe ich ger­ade den Kon­junk­tiv benutzt – denn Pless­ner würde in diesem oder ver­gle­ich­baren Fällen von einem „kat­e­gorischen Kon­junk­tiv“ sprechen (vgl. Pless­ner 1980–85, GS VII­Ib). Auf Seit­en der Lehrkraft erfol­gt näm­lich ein Abwä­gen, welche der Empfehlun­gen, über die sie ver­fügt, für meinen beson­deren Fall die erfol­gver­sprechen­den sein kön­nten. Ohne dass sie sich darüber Rechen­schaft able­gen müsste, geht sie in diesem kon­junk­tivis­chen Zus­tand von ein­er dop­pel­ten Bedeu­tung des Wortes „Ich“ aus: Sofern sie bewährte Rezepte parat hat, so beziehen sich diese Tipps notge­drun­gen auf ein kollek­tives „Ich“, das sie an mein­er Statt ein­set­zt. Sie betra­chtet mich also unter dem Blick­winkel ander­er möglich­er „Ichs“, denen ihr Tipp in der Ver­gan­gen­heit geholfen hat; zum anderen muss sie sich die Frage stellen – und daher der Kon­junk­tiv – , ob dieser Tipp auch in meinem beson­deren Fall helfen kön­nte; und in dieser Beson­derung erscheint „Ich“ dann als ein einzi­gar­tiges und nicht aus­tauschbares Indi­vidu­um.

Auch meine Aneig­nungsver­suche wer­den nun im Zeichen dieser bei­den „Ichs“ ste­hen. Nicht nur die Lehrkraft, son­dern auch ich muss näm­lich prüfen, ob und inwieweit sich die an ein kollek­tives Ich gerichteten Bewe­gungsempfehlun­gen auf meinen speziellen Fall anwen­den lassen, inwieweit also der Tipp also mir ganz per­sön­lich helfen kön­nte. Während die Rolle des kollek­tiv­en Ichs dazu führt, dass ich mich unter dem Gesicht­spunkt des Kör­pers betra­chte – ich ver­suche eine von außen an mich herange­tra­gene Bewe­gung umzuset­zen und mache mich damit zu einem ver­all­ge­meiner­baren Ich –, so meldet sich mein Leib immer dann, wenn mein unver­wech­sel­bares Ich gegen den kollek­tiv­en Vere­in­nah­mungsver­such protestiert und mir sig­nal­isiert, dass „es“ noch nicht passt.[2]

Bere­its hier kann man sehen, dass nichts falsch­er wäre als die von Christoph Stange geäußerte Annahme, dass mit dem Leib­sein bei Pless­ner „Natur verknüpft“ sei und das Kör­per­haben dementsprechend auf der Seite der „Kul­tur“ zu verorten wäre, was dann zu der Auf­gabe führe, „einen Aus­gle­ich zwis­chen den bei­den Modi des Leib-Seins und des Kör­p­er-Habens zu find­en“ (Stange 2018, S. 41 ).[3] Nicht weniger als vier Gründe sprechen gegen diese Sichtweise: Erstens ist das, was uns als Leib ent­ge­gen­tritt ja auch bei Pless­ner immer schon das Ergeb­nis vorgängiger Ein-Kör­pe­run­gen. Den Leib als Naturzu­s­tand gibt es schon beim Säugling kaum, ganz sich­er aber nicht mehr beim Kleinkind ab dem Zeit­punkt des Spracher­werbs, denn hier wird nach und nach die Fähigkeit erwor­ben, bei­de For­men des „Ichs“ zu ver­wen­den. Daher beze­ich­net Pless­ner als „die wahre crux der Leib­lichkeit […] ihre Ver­schränkung in den Kör­p­er“ (Pless­ner 1980–85, GS III, S. 368). Das Kleinkind erlernt durch die Sprache jene „Ele­men­tar­rolle“, die die Grund­lage für das die men­schliche Exis­tenz prä­gende Spiel zwis­chen Leib und Kör­p­er bildet.[4]

Zweit­ens, und das besagt der Dif­ferenzbe­griff, geht es bei Pless­ner ger­ade nicht um einen Aus­gle­ich, son­dern um die These eines unab­schließbaren Spiels zwis­chen bei­den Kör­per­for­men: Leib und Kör­p­er wer­den nicht, wie die Vok­a­bel des „Aus­gle­ichs“ impliziert, ver­söh­nt oder befriedet, son­dern posi­tion­ieren sie sich in einem „Spiel­raum“, der sie als getren­nte miteinan­der verbindet und dabei zu stets neuen Kon­fig­u­ra­tio­nen nötigt. Drit­tens ver­sucht Pless­ner, wie gle­ich noch genauer gezeigt wer­den soll, seine kul­tur­sozi­ol­o­gis­chen Pos­tu­late auf eine anthro­pol­o­gis­che Grund­lage zu stellen und die Fähigkeit zur kul­turellen Dis­tanz­nahme als fol­gen­schw­eres Ereig­nis im Prozess der Men­schw­er­dung auszuweisen, wodurch eine Gegenüber­stel­lung von Natur und Kul­tur hin­fäl­lig wird. In diesem Zusam­men­hang wird, viertens, auch offen­bar wer­den, dass die Leiber­fahrung kein primär­er Urzu­s­tand ist, son­dern auf die vorgängige Erfahrung des Kör­p­er-Habens angewiesen ist. Im Gegen­satz zu Hei­deg­ger, der erst den Leib und davon abge­set­zt den Kör­p­er als „sekundäres Dis­tanzphänomen“ denkt, geht Pless­ner den umgekehrten Weg: „Erst Kör­p­er, dann Leib. […] Der gle­ich­sam öffentliche […] Blick auf den fer­ngestell­ten […] Kör­p­er […] denkt Leib­lichkeit als pri­v­a­tive Erfahrung des Men­schen“ (Fis­ch­er, 2000, S. 286) – als einen Zus­tand also, der sich in sein­er Eigen­heit und Nicht-Zurück­führbarkeit auf kollek­tive Ein­schrei­bun­gen erst dort enthüllt, wo der Kör­p­er, den man hat, entwed­er als Zumu­tung für den Leib emp­fun­den wird oder aber in dem der Leib als ein über­schießen­des, durch den Kör­p­er nicht mehr zu bändi­gen­des Poten­zial her­vor­tritt (z.B. in den Zustän­den hefti­gen Schmerzes oder der ero­tis­chen Ekstase). Wegen dieser zum Men­sch­sein gehören­den leib­haften Zuständlichkeit­en ist der Spiel­raum, in dem das „Spiel“ zwis­chen Leib und Kör­p­er aus­ge­tra­gen wird, für Pless­ner nicht unendlich, son­dern begren­zt (vgl. hierzu Pless­ner 1980–85, GS VII, S. 201–388).

So lange wir uns aber inner­halb dieses Spiel­raums bewe­gen, sind wir immer „Schaus­piel­er“: Wie diese spal­ten wir uns in die Ich-Rolle, die uns gesellschaftlich zuerkan­nt oder anemp­fohlen wird und in ein pri­v­a­tives Ich, das diese Rolle spie­len muss. „Es ist das Spie­len in und das Schaus­pie­len mit der Ele­men­tar­rolle“, so for­muliert es Hans-Peter Krüger in ein­er tre­f­fend­en Zusam­men­fas­sung des Plessner’schen Gedanken­ganges, das uns zu unserem eige­nen Dop­pel­gänger macht, phänom­e­nal in der Aus­bal­ancierung bei­der Aktiv­ität­srich­tun­gen nach außen und innen zugänglich“ (Krüger 2000, S. 300). Spie­len in der Rolle besagt: Wir iden­ti­fizieren uns mit den gesellschaftlich vorgegebe­nen Rol­lenange­boten und ver­schränken damit Leib und Kör­p­er so voll­ständig, dass wir ganz und gar in der Rolle des Schülers, der Ehe­frau, des Richters oder eben des Rock­musik­ers aufzuge­hen scheinen. Gle­ichzeit­ig aber haben wir auch die Möglichkeit, mit der Rolle zu spie­len. Das ist augen­schein­lich bei Yus­suf der Fall, der ja kein „echter“ Rock­musik­er ist, son­dern nur so tut als ob. Das Lachen der Kinder und seine augen­schein­liche Freude daran, zeigen, dass der Reiz der Sit­u­a­tion nicht allein im Spie­len der Rolle beste­ht, son­dern gle­ichzeit­ig in der Tat­sache, dass dieses Spie­len „nur Spiel“ ist. Im Grunde erleben wir in dieser Szene ein dop­peltes Schaus­piel: Yus­suf, der so spielt, so wie es Rock­musik­er eben tun, und Yus­suf, der dieses Spie­len spielt. In diesem dop­pel­ten Spiel ver­schränken sich Iden­ti­fika­tion und Dis­tanz­nahme. Pless­ner spricht hier vom Über­gang des Rol­len­spiels hin zum „Schaus­piel der Rolle.“ Die Dis­tanz, die dadurch zwis­chen Rolle und Rol­len­träger geset­zt wird, führt ein­er­seits dazu, dass die Rolle selb­st als verän­der­bar erscheint. Denn nun ist es nicht die Rolle, son­dern der Rol­len­träger (in unserem Falle Yus­suf), der über den Ort und Zeit­punkt der Dar­bi­etung entschei­det; zugle­ich eröff­nen sich Möglichkeit­en, bes­timmte Aspek­te der Rolle zu akzen­tu­ieren, andere hinge­gen nicht.

Mit dieser Idee eines Auseinan­dertretens von Rolle und Rol­len­träger beze­ich­net Pless­ner bere­its 1960 (und in den gedanklichen Grund­la­gen bere­its Ende der 1920er Jahre) ein  Motiv, das in dur­chaus ver­gle­ich­bar­er Form in den post­colo­nial stud­ies – und hier ins­beson­dere in Homi Bhab­has  The­o­rie des Drit­ten Raums – aufge­grif­f­en und fort­ge­führt wird, ohne dass dabei allerd­ings auf Pless­ner Bezug genom­men würde (Bhab­ha 2000).[5] Eben­falls große Über­schnei­dun­gen beste­hen zwis­chen Pless­ners Dif­feren­zierung zwis­chen Leib und Kör­p­er und der sozialpsy­chol­o­gis­chen Unter­schei­dung zwis­chen „I“ und „Me“ bei George Her­bert Mead. Allerd­ings geht Pless­ner insofern über die genan­nten Entwürfe hin­aus, als das Auseinan­dertreten in Leib und Kör­p­er von ihm nicht allein als kul­tur­sozi­ol­o­gis­ch­er Gegen­stand bear­beit­et, son­dern als Folge ein­er fun­da­men­tal­en und damit ahis­torischen anthro­pol­o­gis­chen Weichen­stel­lung aus­gewiesen wird, wobei er die biol­o­gis­che Grund­lage seines Ansatzes ihrer­seits philosophisch zu fundieren ver­sucht. Diese Weichen­stel­lung bün­delt sich in sein­er Vorstel­lung von der „exzen­trischen Posi­tion­al­ität des Men­schen“, die an dieser Stelle zumin­d­est umris­shaft angedeutet wer­den soll, weil sie ins­beson­dere für die uns im Schlussab­schnitt beschäfti­gende Frage nach ein­er Verän­der­barkeit von Kul­turen – und damit auch von Lernkul­turen – von Bedeu­tung ist.

2.2 Exzen­trische Posi­tion­al­ität

Wie zu sehen war, erhebt Pless­ner den notwendi­ger­weise dop­pelt zu kon­notieren­den Leib-Kör­p­er zu ein­er sowohl sinnlich-rezep­tiv­en als auch deu­tend-reflek­tieren­den Grun­dein­heit. Diese Grun­dein­heit ste­ht – und hier bezieht Pless­ner eine Posi­tion, die sich von den Par­a­dig­men etwa des späteren Kon­struk­tivis­mus deut­lich unter­schei­det – in einem nicht zu niv­el­lieren­den Kon­takt mit der sie umgeben­den Außen­welt. Eine wichtige Rolle für sein Ver­ständ­nis des Leib-Kör­pers spie­len die Sinne, die auf der einen Seite Infor­ma­tio­nen aus der Außen­welt aufnehmen, diese aber ander­er­seits in spez­i­fis­che und qual­i­ta­tiv deut­lich voneinan­der unter­schiedene Empfind­un­gen über­set­zen, was dann – als Response – zu motorischen Reak­tio­nen im Organ­is­mus führt. Während es für den Kon­struk­tivis­mus, zumin­d­est in sein­er radikalen Vari­ante, keine direk­te Inter­ak­tion zwis­chen Außen­welt und intern­er Infor­ma­tionsver­ar­beitung geben kann, son­dern lediglich bio­chemis­che Zus­tandsverän­derun­gen inner­halb eines Organ­is­mus, auf deren Grund­lage dieser dann seine autopoi­etisch erfol­gende Infor­ma­tionsver­ar­beitung steuert[6], wer­den die Sin­nesor­gane von Pless­ner als  „Mit­tel der ver­hal­tensori­en­tieren­den Steuerung der Leben­sprozesse“ begrif­f­en (Holz 2003, S. 89). Die Sinne bilden eine nicht zu hin­terge­hende „Nutzein­heit“, deren Leug­nung auf einen nicht weit­er­führen­den Solip­sis­mus hin­aus­laufen würde:

„Wie groß die Abwe­ichun­gen unser­er sinnlichen Ein­drücke von der Wirk­lichkeit an sich sein mögen, darüber gibt dieses Prinzip der Nutzein­heit der Sinne keine Auskun­ft. Es bes­timmt gewis­ser­maßen nur eine untere Schwelle möglich­er Abwe­ichun­gen, unter welche nicht gegan­gen wer­den kann, wenn aus der Diskrepanz zwis­chen Ein­druck und Wirk­lichkeit dem Organ­is­mus keine Schädi­gun­gen erwach­sen sollen. Immer bleibt dem Sin­nen­leben eine gegen­ständliche, eine wirk­lichkeit­skün­dendeFunk­tion gewahrt, die der Organ­is­mus zur Anpas­sung an sein Lebens­medi­um braucht.“ (Pless­ner 1980–1985, GS III, S. 39f., Her­vorhe­bung W.L.).

Mit der Aufw­er­tung der Sinnlichkeit geht bei Pless­ner der entschei­dende Begriff der Gren­ze ein­her. Die Sinne führen eben­so nach „draußen“ wie sie ein Ein­fall­stor für das sind, was „von draußen“ kommt. Wo sich diese bei­den Rich­tun­gen kreuzen, entste­ht eine Gren­ze, die für Pless­ners Ver­ständ­nis des Leib-Kör­pers essen­tiell ist. Organ­is­che Lebe­we­sen, wer­den nicht durch ein inneres „Bewusst­sein­szen­trum“ oder der­gle­ichen bes­timmt, son­dern durch jenen Gren­zpunkt, an dem sich ein „Drin­nen“ von einem „Draußen“ schei­det. Man kann sich das gut am Ver­gle­ich mit anor­gan­is­ch­er Materie verdeut­lichen: Ein Stein bleibt ein Stein, auch wenn man ein Stück von ihm abschlägt, also seine Gren­ze ver­let­zt – die Gren­ze wäre für Pless­ner hier lediglich eine „Begren­zung“.

„Für das Lebe­we­sen bedeutet die Ver­let­zung sein­er Kör­per­gren­ze [hinge­gen] einen, vielle­icht gar tödlichen, Ein­griff. Das heißt: Das Lebe­we­sen set­zt seinen Kör­p­er als eine Ganzheit, an dieser Gren­ze behauptet es sich als Indi­vidu­um, an ihr vol­lzieht sich seine Begeg­nung mit der Umwelt als Abwehr und Rezep­tion, als Aus­tausch in Aktiv­ität und Pas­siv­ität – welch let­ztere dann sel­ber eine Art von Aktiv­ität des Organ­is­chen, näm­lich Perzep­tiv­ität ist.“ (Holz 2003, S. 126)

Der Begriff der Gren­ze besagt nun aber zugle­ich, dass das jew­eilige Lebe­we­sen immer schon über die Gren­ze hin­aus ist – was durch eine Gren­ze geset­zt wird, ste­ht bere­its in Kon­takt mit dem Anderen, von dem es sich abgren­zt.

Der Begriff der Gren­ze bere­it­et den Boden für einen weit­eren Zen­tral­be­griff, den der Posi­tion­al­ität (Pless­ner 1980–85, GS IV, S. 184ff.). Mit ihm will Pless­ner zum Aus­druck brin­gen, dass sich Lebe­we­sen vor jeglich­er Bewusst­seinsleis­tung immer schon als „geset­zte“ vorfind­en und in dieser Set­zung notwendig auf das, was jen­seits der sie kon­sti­tu­ieren­den Gren­ze liegt, bezo­gen sind. Mit der pas­sivis­chen For­mulierung „geset­zt“ wertet Pless­ner die aus der ide­al­is­tis­chen Philoso­phie (Fichte, Schelling, Hegel) über­nommene Vorstel­lung von „Set­zung“ ins Gegen­teil um. War „Set­zung“ z.B. bei Fichte eine Tathand­lung, in der sich ein zunächst unbes­timmtes Ich aktiv als intel­li­gi­bles Sub­jekt set­zt, so erscheint sie bei Pless­ner nun als ein Zus­tand, in dem sich ein men­schlich­es Wesen immer schon vorfind­et. Ähn­lich wie für Hei­deg­gers „Gewor­fen-Sein“ ist das Geset­zt­sein des Men­schen ein fun­da­men­taler Tatbe­stand, auf dessen Grund­lage sich über­haupt erst ein Ich­be­wusst­sein her­aus­bilden kann. Zugle­ich impliziert die Erfahrung des Geset­zt­seins notwendi­ger­weise die Begeg­nung mit einem Anderen, das dem eige­nen Geset­zt­sein gegenüber­ste­ht. Ein sich als geset­zt erleben­der Kör­p­er erfährt zugle­ich, dass seine an ihn angren­zende Umge­bung nicht zu ihm gehört. Anders als anor­gan­is­che Materie, die die Erfahrung des Geset­zt­seins nicht ken­nt, beze­ich­net Posi­tion­al­ität daher immer auch ein Geset­zt-Sein gegen die Umwelt. Mit dem Begriff der Posi­tion­al­ität führt Pless­ner also „vor dem set­zen­den Ich des Ide­al­is­mus ein eigen­dy­namis­ches ‚Es‘ ein, das sich gren­zre­al­isierend in Bezug auf Anderes hält“ (Fis­ch­er 2000, S. 274). Der Bezug auf Anderes bedeutet, „dass das Lebe­we­sen nicht nur, wie der Kör­p­er anor­gan­is­ch­er Materie, ‚an ein­er Stelle‘ ist, son­dern das außer ihm Seiende in sein eigenes Sein hineinzieht“ (Holz 2003, S. 95, vgl. auch Pless­ner 1980–85, GS IV, S. 186f.).[7] Um Leib wer­den zu kön­nen, muss ein men­schlich­es Wesen zuvor als Kör­p­er geset­zt sein und in ein­er Grenzbeziehung zu anderen Kör­pern ste­hen.

Organ­is­che Lebe­we­sen bilden diese Posi­tion­al­ität in unter­schiedlich­er Form aus. Während Pflanzen für Pless­ner durch eine offene Form gekennze­ich­net sind, durch die sie ein­seit­ig den Ein­flüssen der Umwelt aus­ge­set­zt sind, ohne aktiv auf sie ein­wirken zu kön­nen, weisen Tiere eine geschlossene Form auf: Zwar sind sie in allen ihren Leben­säußerun­gen wie die Pflanze ihrer Umge­bung eingegliedert (wen­ngle­ich nur noch mit­tel­bar), den­noch kön­nen sie als selb­ständi­ge Akteure mit ihrer Umwelt in Kon­takt treten. Dem Men­schen allein ist eine „exzen­trische“ Posi­tion­al­ität vor­be­hal­ten. Im Unter­schied zu allen anderen Lebe­we­sen ist er in der Lage, sich selb­st zum Gegen­stand zu machen, d.h. außer sich zu treten, um sich von dort aus zu verorten. Das Men­sch genan­nte Ding ist fähig, „sich von sich zu dis­tanzieren, zwis­chen sich und seine Erleb­nisse eine Kluft zu set­zen. Dann ist es dies­seits und jen­seits der Kluft, gebun­den im Kör­p­er, gebun­den in der Seele und zugle­ich nir­gends, ort­los außer aller Bindung von Raum und Zeit, und so ist es Men­sch“ (Pless­ner 1980–1985, GS IV, S. 290). Exzen­trische Posi­tion­al­ität ist, so for­muliert es Pless­ner in ein­er frühen Schrift, das „Ste­hen des ‚Ich ́ im ‚Es ́“ (Pless­ner 1980–85, GS I, S. 140, vgl. auch Fis­ch­er 2000, S. 276). Anders for­muliert: Der Gren­zort, von dem aus der Men­sch sich selb­st reflex­iv wahrnehmen kann, ste­ht notwendi­ger­weise mit einem Bein im Seins­bezirk des sich ihm prinzip­iell entziehen­den „Lebens“. Dieses Leben, das nicht nur das ort­lose, sich an einem „Sub­jekt“ brechende Außen umfasst, son­dern ger­ade auch die Diskon­ti­nu­ität zwis­chen dem Außen und dem ihm durch die Gren­ze ent­ge­gen­ste­hen­den Leibkör­p­er umfasst, lässt sich nicht fest­stellen – und muss doch immer neu fest­gestellt wer­den.

An dieser Stelle schließt nun Pless­ners Kul­turbe­griff an. Entschei­dend ist dabei die Vorstel­lung von Kul­tur als ein­er „kün­stlichen Hor­i­zontv­eren­gung“ (Pless­ner 1980–85 GS VII­Ia, S. 189). Die für die Men­schen charak­ter­is­tis­che Ort­losigkeit – das Ste­hen im „Es“ des Lebens, das sich jeglich­er Fix­ierung entzieht – zwingt sie dazu, zueinan­der und in ihrem Bezug zur Welt eine „Ver­trautheit­szone“ zu schaf­fen (Fis­ch­er 2000, S. 282). Um die Ort­losigkeit zu kom­pen­sieren und die ins unbe­hauste Außen weisende Gren­z­po­si­tion aushal­ten zu kön­nen, ist der Men­sch zur Kul­tur verurteilt. Das Außen muss besiedelt wer­den.

„Men­schlich­es Leben wird von Pless­ner als ‚exzen­trisch‘ zu sich selb­st ste­hend gedacht, als eines, das sich selb­st objek­tiviert, auf sich reflek­tiert, sich imag­iniert; als eines, das sym­bol­is­che Bilder von sich selb­st entwirft, die jedoch sein­er Poten­tial­ität nie gerecht wer­den. Stets nur vor­läu­fig, weil stets zu ein­deutig bes­timmt, kann es sich in seinen Aus­drück­en erken­nen“ (Delitz 2019, S. 628).

Kul­tur als Ver­trautheit­szone bedeutet, dass Men­schen in ihrem Zusam­men­leben die mit der exzen­trischen Posi­tion­al­ität notwendig geset­zte Indi­rek­theit und Ver­mit­teltheit des Außen­bezuges über­brück­en, indem sie gemein­same „Darstel­lungszo­nen“ schaf­fen, „durch die hin­durch sie einan­der umweghaft begeg­nen“ (Fis­ch­er 2000, S. 282). Damit wird die Ver­dopplung in einen Leib, der untrennbar zu einem gehört und pri­v­a­tiv auf sich zurück­ge­wor­fen ist, und einem Kör­p­er, der aus der Per­spek­tive eines sozialen und kollek­tiv­en Ichs her­aus dem Leib Iden­ti­fika­tion­sange­bote macht, aus denen her­aus ein Men­sch sich selb­st betra­cht­en und begeg­nen kann, kon­sti­tu­tiv. In Klei­derord­nun­gen und Rol­len­spie­len, aber auch in Mimik und Gestik wer­den Nähe und Dis­tanzen organ­isiert, die es dem Men­schen ermöglichen, sich in sein­er Ort­losigkeit einzuricht­en[8] – und dies immer unter dem Vor­be­halt, dass die so errichtete Kul­tur in let­zter Kon­se­quenz kontin­gent ist. Die Art und Weise, in der Men­schen die bere­its im Vor­griff vom Außen geprägte Kon­tak­tauf­nahme von Innen nach Außen vol­lziehen, beze­ich­net Pless­ner mitunter auch als „Hal­tung“ – und von hier ist der Weg nicht mehr allzu weit zu Bertolt Brechts Begriff des Ges­tus[9] oder auch zum Habi­tus­be­griff Pierre Bour­dieus, der ja eben­falls von ein­er struk­turi­ert-struk­turi­eren­den (also eben­so pas­siv-hin­nehmenden wie aktiv sich vol­lziehen­den) Grenzziehung geprägt ist – nicht umson­st heißt Bour­dieus Hauptwerk im Orig­inalti­tel „La dis­tinc­tion“ –, durch die, jen­seits der klas­sis­chen Sub­jekt-Objekt-Rela­tion, Men­schen eine milieuspez­i­fis­che Iden­tität gle­icher­maßen erhal­ten wie erwer­ben, und die sich auf die Bere­iche des Denkens, Wahrnehmens, Han­delns wie auch auf den Umgang mit dem eige­nen Kör­p­er bezieht.

  1. Exzen­trische Posi­tion­al­ität im Instru­men­talun­ter­richt

Und damit kom­men wir wieder zu Yus­suf. Ich habe oben die Hoff­nung geäußert, dass uns Pless­ners Leib-Kör­p­er-Konzept, das sich in seinem Begriff der „exzen­trischen Posi­tion­al­ität“ bün­deln lässt, ver­ste­hen hil­ft, was in den bei­den hier beschriebe­nen Sit­u­a­tio­nen eigentlich vor sich geht und wie sich ihre Unter­schiedlichkeit fassen lässt. Ver­suchen wir daher nun, den hier skizzierten anthro­pol­o­gis­chen Entwurf mit unserem Gegen­stand in Beziehung zu set­zen.

Blick­en wir dabei zunächst auf Yus­sufs Ein­gangs-Per­for­mance: Yus­suf agiert, wie zu sehen war, von einem imag­inären Punkt aus, von dem her seine Stimme, Mimik, Gestik sowie sein Umgang mit dem Instru­ment einen spez­i­fis­chen Sinn erhält. Für den Moment sein­er Dar­bi­etung kreiert er einen musikalis­chen Zusam­men­hang, der ihm und sein­er Gitarre bes­timmte Rol­len­muster und Ver­hal­tensweisen zuweist. Seine exzen­trische Posi­tion­al­ität führt ihn dazu, das jen­seits seines Leib-Kör­pers gele­gene Ter­rain, an das er durch die Gren­z­po­si­tion gebun­den ist und das ohne kul­turelle Besied­lung ein ort­los­es und unbe­haustes Außen wäre, in einen ver­traut­en Bere­ich zu ver­wan­deln, der ihm in dop­pel­ter Brechung (Spie­len des Spiels) Selb­stkon­sti­tu­tion und Han­deln ermöglicht. Indem er sich als Rock­gi­tar­rist mit allen dazu gehören­den Attribut­en insze­niert, ver­wan­delt er das Außen in eine „Darstel­lungszone“, die sein Agieren steuert und gle­ichzeit­ig auch implizite Rol­len­zuweisun­gen an seine Mit­men­schen enthält (möglicher­weise in Form der Erwartung, dass seine Selb­st­darstel­lung auch den anderen Kindern ihre Rolle zuweist, z.B. als Pub­likum). Yus­sufs musikalis­ches Han­deln würde aus der Per­spek­tive von Pless­ners anthro­pol­o­gis­chem Entwurf also nicht so sehr sein­er indi­vidu­ellen, ihn von anderen Kindern unter­schei­den­den Leib­lichkeit entsprin­gen, son­dern sein­er Fähigkeit geschuldet sein, ein spez­i­fis­ches kul­turelles Ange­bot des Kör­p­er-Habens zu imag­inieren, von dem aus dann sein Leib-Kör­p­er und dadurch auch die Beziehung zu seinem Instru­ment einen spez­i­fis­chen Sinn und eine beson­dere Qual­ität erhält. Im Moment der Per­for­mance ist die Gren­ze zwis­chen seinem Innen und dem von ihm erzeugten Außen nicht mehr nur eine natür­liche, son­dern zugle­ich auch eine kün­stliche, weil das, was jen­seits von ihr liegt, nun auf eine spez­i­fis­che Art und Weise besiedelt wor­den ist. Pless­ner würde von ein­er „natür­lichen Kün­stlichkeit“ sprechen (Pless­ner 1980–85, GS IV, S. 383ff.).

Es wäre somit unzutr­e­f­fend, Yus­sufs Kör­per­lichkeit und seine Beziehung zum Instru­ment als Aus­druck ein­er ihm als Sub­jekt ange­hören­den Lock­er­heit, Fan­tasie, Kreativ­ität oder Begabung zu ver­ste­hen. Vielmehr ist sie das Resul­tat ein­er zwar von ihm imag­inierten, aber doch außer­halb seines Leibes liegen­den Umwelt – das Spie­len der Rock­gi­tar­ris­ten-Rolle set­zt nun ein­mal voraus, dass es in der Welt echte Rock­kgi­tar­ris­ten gibt. Zwar spielt Yus­suf mit dieser Umwelt, indem er sie aufruft, doch die Regeln des Spiels sind nicht voll­ständig seinem Belieben anheimgestellt. Würde man die Gelös­theit sein­er Kör­per­be­we­gun­gen unter musik­phys­i­ol­o­gis­chen Bedin­gun­gen ana­lytisch unter­suchen und sich bemühen, sie auf einen anderen kul­turellen Kon­text anzuwen­den (z.B. auf sein Musizieren des ihm frem­den Liedes „Bunt sind schon die Wälder“), wäre ein Scheit­ern dur­chaus möglich, weil der entschei­dende Grund sein­er Gelös­theit, die Bezo­gen­heit auf einen Zusam­men­hang stif­ten­den Ort als äußerem Zen­trum seines Han­delns weg­fiele.

Auch die eigentliche Unter­richtsstunde lässt sich unter dem Gesicht­spunkt eines durch die exzen­trische Posi­tion geforderten Rol­len­spiels ver­ste­hen. Auch hier lässt sich eine natür­lich-kün­stliche Grenzziehung erken­nen, von der aus dann das Han­deln der Akteure seinen spez­i­fis­chen Sinn empfängt. Allerd­ings man­i­festiert sich der durch die Grenzziehung ges­tiftete kul­turelle Kon­text nicht, wie zuvor die Rock­musik, als ein musikalis­ch­er Sinnzusam­men­hang, der in ein­er außer­alltäglichen Per­for­mance bewusst aufgerufen wird, son­dern eher als Aus­prä­gung ein­er bes­timmten musikalis­chen Lernkul­tur, inner­halb der­er die musikalis­chen Sinnzusam­men­hänge dann auf eine ganz spez­i­fis­che Weise in Erschei­n­ung tritt. Auch diese Lernkul­tur lässt sich als eine spez­i­fis­che Besied­lung des Außen­bere­ichs fassen und auch sie hat Auswirkun­gen auf die innere Kon­sti­tu­tion (und damit auf die leibkör­per­liche Ver­fass­theit) der Ler­nen­den. Dabei ist sie keineswegs eine indi­vidu­elle Erfind­ung bzw. Set­zung der Lehrkraft. Vielmehr bezieht sich der unter­rich­t­ende Stu­dent auf eine his­torisch gewach­sene und ihm gle­ich­sam selb­stver­ständlich erscheinende Vorstel­lung bezüglich des Wesens instru­men­taler Lehr-Lern­prozesse. Und diese von ihm aufgerufene Vorstel­lung wird, inklu­sive der damit ver­bun­de­nen Rol­len­zuweisun­gen, von den Schü­lerIn­nen mehr oder min­der frei­willig geteilt oder zumin­d­est mit­ge­tra­gen.

Was zeich­net diese Lernkul­tur aus? Charak­ter­is­tisch ist zunächst, wie bere­its angedeutet, die kün­stliche Set­zung eines absoluten Nullpunk­ts. Der Unter­richt wird vornehm­lich als ein Gitar­renun­ter­richt – und nicht als ein gemein­schaftlich­es Musizieren unter Zuhil­fe­nahme eines Instru­ments – ver­standen. Daher ist es nur fol­gerichtig, wenn als Zen­tralbes­tim­mung davon aus­ge­gan­gen wird, dass die Schü­lerIn­nen nicht Gitarre spie­len kön­nen und im Unter­richt daher mit den ele­men­tarsten Grund­la­gen begonnen wer­den muss. Das ist keineswegs eine Triv­i­al­ität, son­dern vielmehr eine bedeut­same Entschei­dung, die sowohl von päd­a­gogis­chen (1) als auch von instru­men­tal­method­is­chen  (2) Prämis­sen getra­gen wird.

  1. Päd­a­gogisch find­et etwas statt, das für jede Form schulis­chen Ler­nens charak­ter­is­tisch ist: In Bezug auf den Lernge­gen­stand wird in tra­di­tionellen Set­tings, die von inklu­siv­en Aspek­ten unberührt sind, eine kün­stliche Gle­ich­heit unter den Schü­lerIn­nen hergestellt – und das kann nur durch die Def­i­n­i­tion eines Null-Niveaus geschehen. Dieser Schritt ist nicht nur aus Gerechtigkeit­ser­wä­gun­gen her­aus notwendig (nie­mand soll zurück­ge­lassen, kein­er über­vorteilt wer­den), son­dern auch deshalb, weil erst durch die Set­zung von Gle­ich­heit indi­vidu­elle Unter­schiede legit­imiert wer­den, die sich dann möglicher­weise in Aus­sagen wie „Lin­da ist motiviert­er als Yus­suf, Moritz ist begabter als Janine“ äußern. In der­ar­ti­gen Urteilen spiegelt sich eine latente Machthier­ar­chie, wie sie kennze­ich­nend für all jene Lern­si­t­u­a­tio­nen ist, in denen for­male Aspek­te mit der ihnen innewohnen­den Ten­denz zu sum­ma­tiv­er Eval­u­a­tion über­wiegen. In ihnen wird die jew­eilige Lehrkraft dazu ermächtigt, ein Urteil über Ungle­ich­heit zu sprechen, was aber nur möglich ist, wenn zuvor von ein­er prinzip­iellen Gle­ich­heit aus­ge­gan­gen wurde: Das Erziehungssys­tem, so Niklas Luh­mann, „behan­delt also Ungle­ich­es als gle­ich, um die daraus entste­hen­den Ungle­ich­heit­en sich selb­st zurech­nen und mit den Mit­teln sein­er Selek­tionsver­fahren markieren zu kön­nen. Das entspricht den Pos­tu­lat­en des Gle­ich­heit­sprinzips, die sich im 18. Jahrhun­dert durchge­set­zt haben […|.“ (Luh­mann 2002, S. 127) Durch das Aufrufen dieses Null-Niveaus wer­den bere­its beste­hende Kör­p­er-Leib-Ver­schränkun­gen auf Seit­en der Schü­lerIn­nen vorüberge­hend aus­geklam­mert. Ihr Leib wird als gle­ich­sam unbeschriebene Fläche ver­standen, der eine Offen­heit für den Prozess geführter kör­per­lich­er Ein­schrei­bun­gen unter­stellt wird. Die in aller Regel unter­schiedlich erfol­gre­ichen Aneig­nun­gen der kul­turell ver­mit­tel­ten Kör­p­er-Rollen ergeben dann eine „Ungle­ich­heit“, die allerd­ings nicht als Argu­ment gegen die vor­ange­gan­gene Gle­ich­heit­san­nahme zuge­lassen, son­dern – im Gegen­teil – funk­tion­al mit ihr in Beziehung geset­zt wird: Eben weil das Aus­gangsniveau als gle­ich definiert wurde, hat der for­male Unter­richt das „Recht“, Leis­tung­sun­gle­ich­heit­en festzustellen und zu bew­erten.
  2. Diese Her­stel­lung eines Null-Niveaus hat aber auch eine spez­i­fisch instru­men­tal­method­is­che Seite, die sich bis ins frühe 19. Jahrhun­dert zurück­ver­fol­gen lässt. Denn obschon auch die Instru­men­talschulen des 18. Jahrhun­derts selb­stver­ständlich bei den „ele­men­taria“ eines Instru­mentes began­nen (wo son­st?), so ist doch unüberse­hbar, dass der manuelle Umgang mit dem Instru­ment, den wir heute mit dem Begriff der „Tech­nik“ bele­gen, nicht in ihrem Zen­trum stand, son­dern eher als notwendi­ges pro­le­gomenon den „eigentlichen“ Lehrin­hal­ten vor­angestellt wurde. Und diese Inhalte bestanden im Wesentlichen in ein­er Anleitung zur angemesse­nen und kor­rek­ten Darstel­lungsweise der zeit­genös­sis­chen Musik­sprache. Diese Sprache wurde aber, und das ist der entschei­dende Dif­feren­zpunkt, nicht als „Fremd­sprache“ über den Weg genauer Bewe­gungsan­weisun­gen gelehrt, son­dern vielmehr als etwas begrif­f­en, das die Ler­nen­den gle­ich­sam selb­stver­ständlich immer schon umgab und zu dem sie sich in ein unmit­tel­bares Ver­hält­nis set­zen kon­nten. Es wäre deut­lich zu kurz gegrif­f­en, die immer wiederkehren­den Ver­gle­iche zur gesproch­enen Sprache, die die Lehrw­erke etwa von Johann Joachim Quantz, Carl Philipp Emanuel Bach oder Daniel Got­t­lob Türk durchziehen, lediglich als Nieder­schlag eines von der Idee der Klan­grede geprägten Zeit­stiles zu lesen. Eben­so zen­tral ist die Gewis­sheit der Autoren, dass die zen­tralen Merk­male dieses Stils (vor­rangig die Affek­te und die syn­tak­tisch-sprach­liche Dimen­sion der Musik) im sprach­lichen und kör­per­lichen Weltwissen der Ler­nen­den bere­its eine Entsprechung hat­te und daher vor allem in eine sys­tem­a­tisierte Form gebracht wer­den musste. Für die instru­men­talpäd­a­gogis­che Lernkul­tur des 18. Jahrhun­derts bildete der Leib, bündig for­muliert, noch keine tab­u­la rasa, die willfährig den entsprechen­den Ein­schrei­bun­gen eines kollek­tiv­en Kör­p­er-Ichs zur Ver­fü­gung zu ste­hen hat­te.

Das ändert sich im Laufe des 19. Jahrhun­derts. Wie ich ander­er Stelle zu zeigen ver­sucht habe (vgl. Less­ing 2014), entste­ht mit der Etablierung des Tech­nikbe­griffs zwis­chen 1820 und 1850 eine eigen­ständig instru­men­tale Sphäre, deren entschei­den­des Kennze­ichen in der Tat­sache liegt, dass Phänomene, die zuvor noch als unmit­tel­bare musikalis­che Aus­druck­squal­itäten fungierten, nun mehr und mehr als Bewe­gungsan­weisun­gen in Erschei­n­ung treten, durch die der Kör­p­er zum Objekt wer­den kon­nte: War etwa der Begriff des „lega­to“ z.B. in der Klavier­schule von Türk, noch ein reines Aus­druck­sphänomen, das in einem Atemzug mit Beze­ich­nun­gen wie „lag­ri­moso“ oder „lamen­toso“ genan­nt wurde[10], so wan­delte er sich nun zu einem Begriff, der sowohl eine rein musikalis­che Bedeu­tung besaß als auch eine phys­i­ol­o­gisch beschreib­bare Bewe­gungs­form am Instru­ment bein­hal­tete.[11] Der Tech­nikbe­griff des 19. Jahrhun­derts war von der Utopie getra­gen, dass es für musikalis­che Aus­drucks­for­men genaue bewe­gungsmäßige, eben „tech­nis­che“ Entsprechun­gen gab, die sich mit­tels Analyse phys­i­ol­o­gisch beschreiben und daher auch erler­nen ließen.  Der Bere­ich der Tech­nik etablierte sich damit als ein eigen­ständi­ges Äquiv­a­lent zur Dimen­sion des musikalis­chen Aus­drucks.

Schein­bar para­dox­er­weise ging mit der Vorstel­lung ein­er prinzip­iellen Lehrbarkeit auch noch der anspruchsvoll­sten spiel­tech­nis­chen Phänomene gle­ichzeit­ig ein fol­gen­schw­er­er Exk­lu­sion­sprozess ein­her. In eben dem Maße, in dem alle nur erden­klichen musikalis­chen Erschei­n­ungs­for­men in ihrer manuellen Aus­führung als erk­lär- und damit lern­bar dargestellt wur­den, behauptete sich die Überzeu­gung, dass eine wahrhaftige kün­st­lerische Darstel­lung nur weni­gen Auser­wählten vor­be­hal­ten sei. So kam es in der zweit­en Hälfte des 19. Jahrhun­derts – und in den Auswirkun­gen bis weit ins 20. Jahrhun­dert hinein! – zu ein­er eigen­tüm­lichen Ver­schränkung von inkludieren­den und exk­ludieren­den Ten­den­zen, die sich sowohl am Auf­bau viel­er instru­men­taler Lehrw­erke wie auch am Zuschnitt der akademisierten Musikaus­bil­dung beobacht­en lässt (vgl. Kings­bury 1988, Less­ing 2017, Less­ing & Stöger 2018). Während der Tech­nikbe­griff für den Aspekt des Kör­pers und der Gle­ich­heit stand – durch eine gekon­nte und pro­gres­siv voran­schre­i­t­ende Methodik wurde der Lehr- und Lern­stoff als etwas begrif­f­en, das im Grunde jedem zugänglich sein kon­nte –, wurde ihm nun strikt kon­tradik­torisch ein mit dem Leib ver­bun­den­er Begabungs­be­griff gegenübergestellt, durch den auf der Basis eben dieser Gle­ich­heit eine extreme Ungle­ich­heit erzeugt und prak­tiziert wurde. Niklas Luh­manns Hin­weis auf die Dialek­tik des Gle­ich­heit­sprinzips (s.o.) macht deut­lich, dass bei­de Aspek­te nicht nur nebeneinan­der beste­hen, son­dern sich möglicher­weise auch gegen­seit­ig bedin­gen kön­nen.

Ein­er­seits ermöglichte der Tech­nikbe­griff also die präzise Def­i­n­i­tion eines Null-Niveaus und die daran angeschlossene Vorstel­lung eines gestuften und „auf­bauen­den“ Lern­wegs. Zum anderen wurde durch die ihm inhärente Idee ein­er prinzip­iellen Lehr- und Lern­barkeit ein exk­ludieren­der Bere­ich erzeugt, der in Gestalt eines sum­ma­tiv zuge­sproch­enen und unter­richtlich nicht  bee­in­fluss­baren Begabungs­be­griffes all jene Schü­lerIn­nen von der „eigentlichen“ kün­st­lerischen Betä­ti­gung auss­chloss, die auf­grund fehlen­der ander­weit­iger Voraus­set­zun­gen (z.B. entsprechen­der famil­iär­er Prä­gun­gen) lediglich auf die Lehrin­halte des Unter­richts angewiesen waren.

Eine von diesen Prämis­sen aus­ge­hende Lehr-Lernkul­tur musste beträchtliche Auswirkun­gen auf die leib-kör­per­liche Ver­fass­theit der Schü­lerIn­nen nach sich ziehen: Sie führte in ähn­lich­er Weise zu ein­er Hal­tung der immer­währen­den Selb­st­beobach­tung und Diszi­plin­ierung, wie sie Michel Fou­cault auch in Bezug auf das Straf­sys­tem des 19. Jahrhun­derts beobachtet hat.[12]  In ein­er Methodik, die  die Entwick­lung instru­men­taler Kom­pe­ten­zen vornehm­lich als gestuften Auf­bau von Bewe­gun­gen  begreift, die als Äquiv­a­lente für die von ihnen repräsen­tierten musikalis­chen Aus­druck­sphänomene dienen, ver­lagert sich die Per­spek­tive von ein­er musikkul­turell bere­its besiedel­ten Außen­welt, die für die Schü­lerIn­nen einen immer schon eingekör­perten Iden­ti­fika­tion­spunkt bildet, hin zu ein­er per­ma­nen­ten kör­per­lichen Intro­spek­tion, die sich um die möglichst genaue Umset­zung der die Außen­welt repräsen­tieren­den Bewe­gungsäquiv­a­lente bemüht. Die Außen­welt wurde also als direk­ter Bezugsrah­men zurückge­drängt, obschon sie in ihrer Funk­tion als „Urbild“ von Äquiv­a­len­ten natür­lich noch immer vorhan­den war. Diese Entwick­lung deck­te sich mit der Ten­denz zu ein­er zunehmenden Abson­derung der Schü­lerIn­nen während des Übe­prozess­es, der nun vor allem als stun­den­lange Arbeit in der abgeschlosse­nen Übezelle begrif­f­en und zudem noch durch die Entste­hung eines eigens auf ihn zugeschnit­te­nen und von vorn­here­in nicht mehr für die Außen­welt bes­timmten Übe­ma­te­ri­als sta­bil­isiert wurde. Dieses zur Real­isierung der Äquiv­a­lente notwendi­ge Mate­r­i­al besaß kaum mehr als eine Dien­stleis­tungs­funk­tion, mit deren Hil­fe sich kor­rek­te Bewe­gungsaus­führun­gen erar­beit­en ließen. Es wurde damit im Grunde aus­tauschbar. Der an der Her­aus­bil­dung von Äquiv­a­len­ten ori­en­tierte instru­men­tale Lern­prozess unter­warf sich dem Ide­al ein­er weit­ge­hen­den Steuer­barkeit und lief in diesem Zuge Gefahr, all jene Schü­lerIn­nen zu exk­ludieren, die die andere Seite der Äquiv­a­lente (die musikalis­chen „Urbilder“, für die diese Äquiv­a­lente standen) nicht oder nur in geringem Maße ver­füg­bar hat­ten.

Die Kon­se­quenz dieser Entwick­lung bestand in der Tat­sache, dass der Raum zwis­chen Leib und Kör­p­er sich nicht mehr als ein ineinan­der ver­schränk­tes Wech­sel­spiel ent­fal­ten kon­nte. „Die iden­titäre Auflö­sung der Dif­ferenz zwis­chen öffentlich­er und pri­vater Per­son in der ‚Fest­stel­lung‘ (F. Niet­zsche) des men­schlichen Wesens zum (ver­meintlich durch Instink­te fest­gelegten) Tier“ (Krüger 2000, S. 302) führte zu ein­er Aushe­belung des Spiel­be­griffs. Eine Kör­p­er-Leib-Inter­ak­tion, die sich nicht mehr im Raum zwis­chen vorgegebe­nen Rol­len­mustern und indi­vidu­ellen leib­lichen Aneig­nun­gen befind­et ‚„verun­möglicht das ele­men­tarste Spiel und ermöglicht dadurch Unmen­schlich­es.“ (ebd.).

Die beschriebene Gitar­ren­stunde unseres Aus­gangs­beispiels ist sich­er weit davon ent­fer­nt, auf der expliziten Ebene der­art exk­ludierend zu sein. Den­noch ist unüberse­hbar, dass auch sie in gewiss­er Hin­sicht im Banne des hier beschriebe­nen neuzeitlichen Tech­nikbe­griffs ste­ht. Natür­lich ist nicht das Ger­ing­ste dage­gen einzuwen­den, wenn Gitar­ren­schü­lerIn­nen in den ersten Stun­den mit den ele­mentaren Grund­la­gen des Instru­mentes ver­traut gemacht wer­den. Wenn jedoch über eine Folge mehrerer Stun­den hin­weg alle musikalis­chen Impulse vor­rangig mit dem Ziel erfol­gen, die Gitarre kor­rekt zu hal­ten, sie im richti­gen Winkel zu zupfen und mit der linken Hand manuell saubere Grif­fkom­bi­na­tio­nen auszuführen, dann mutiert das dazu notwendi­ge musikalis­che Mate­r­i­al zu ein­er bloßen Hil­festel­lung, deren Funk­tion sich nahezu auss­chließlich in der Real­isierung  mehr oder min­der kor­rek­ter Bewe­gungs­fol­gen erschöpft.[13] Und selb­st das in den hier beobachteten Stun­den dur­chaus inten­siv betriebene Sin­gen und Solmisieren ist nicht unbe­d­ingt vor ein­er instru­mentellen Zweck­haftigkeit gefeit, so lange sich nicht – um Pless­ners Gedanken­gang zur Anwen­dung zu brin­gen – das Gesun­gene für die Schü­lerIn­nen als Teil eines im Spiel von Leib und Kör­p­er zu besiedel­nden kul­turellen Außen­bere­ichs darstellt. Ein der­ar­tiger Unter­richt ist zwar nicht expliz­it exk­ludierend, prägt aber eine Lernkul­tur aus, die möglicher­weise dazu führt, dass am Ende vor allem jene Kinder übrig bleiben, die einen bes­timmten kul­turellen Kon­text bere­its durch ihre Prä­gun­gen inner­halb der famil­iären Lern­welt der­art verkör­pert, d.h. in ihren Leib hineinge­holt haben, dass sie die strikt instru­menten­be­zo­gene Methodik der Lehrkraft mit diesem Kon­text in Verbindung brin­gen kön­nen. Yus­suf gehört augen­schein­lich nicht dazu.

Wom­öglich wäre Yus­sufs Lern­weg ein ganz ander­er, wenn seine rock­musikalis­chen Ambi­tio­nen im Unter­richt direkt aufge­grif­f­en wür­den, vielle­icht durch eine Lehrkraft, die die von ihm aufgerufene Musizier­at­titüde in ein­er ihn überzeu­gen­den Art und Weise verkör­pert und die hier­von aus­ge­hend mit ihm zusam­men schrit­tweise die Möglichkeit­en des Instru­mentes so erkun­det, dass der Kon­takt zu dem rock­musikalis­chen Kon­text gewahrt bleibt. Doch es wäre sicher­lich keine son­der­lich befriedi­gende Auskun­ft, den Erfolg von Instru­men­talun­ter­richt allein an der Frage festzu­machen, ob der­ar­tig vorgängige Pas­sun­gen beste­hen oder nicht. Denn das würde bedeuten, den Instru­men­talun­ter­richt in seinem inner­sten Kern als exk­ludierend zu konzep­tion­al­isieren. Zu klären wäre vielmehr, inwieweit die Lern­welt des Instru­men­talun­ter­richts die Erschließung neuer kul­tureller Hor­i­zonte und damit die Her­aus­bil­dung neuer kün­stlich-natür­lich­er Grenzziehun­gen ermöglicht, aus denen her­aus Spiel­er und Instru­ment zu ein­er Ein­heit find­en.

Diese Frage führt direkt in das The­men­feld des interkul­turellen Musik­ler­nens – ein Weg, der an dieser Stelle nicht ein­mal ansatzweise beschrit­ten wer­den kann. Anzumerken wäre freilich, dass sich eine Rei­he von Ansätzen, die in jün­ger­er Zeit für den Bere­ich des schulis­chen Musikun­ter­richts entwick­elt wur­den, nur sehr bed­ingt auf den Instru­men­talun­ter­richt über­tra­gen lassen. In Bezug auf Christo­pher Wall­baums Konzept „Musikprax­en ent­deck­en und ver­gle­ichen“ (vgl. etwa Wall­baum 2013) habe ich an ander­er Stelle zu zeigen ver­sucht (Less­ing 2018b), dass ein Unter­richt, der – wie in Wall­baums Konzep­tion – die Erfahrung unter­schiedlich­ster Prax­en zum Gegen­stand hat, impliz­it in der Pflicht ste­ht, sel­ber keine konkrete musikkul­turelle Veror­tung zu besitzen, denn das würde die hege­mo­ni­ale Ein­führung von als verbindlich ange­se­henen musikalis­chen Nor­men bedeuten, was in dieser Konzep­tion ja ger­ade ver­mieden wer­den soll. Wall­baum muss Musikun­ter­richt vielmehr als einen neu­tralen Boden begreifen, auf dem die Schü­lerIn­nen dann exem­plar­isch mit unter­schiedlich­sten Prax­en in Berührung kom­men. Die Vorstel­lung ein­er der­art neu­tralen Zone mag für den Bere­ich des schulis­chen Musikun­ter­richts vielle­icht näher liegen als für den Instru­men­talun­ter­richt – wobei es auch hier kri­tis­che Gegen­stim­men gibt (vgl. Blan­chard 2019[14]). In Bezug auf den Instru­men­talun­ter­richt greift sie jedoch in jedem Fall ins Leere. Allein durch das Instru­ment und dessen jew­eilige Spiel­weisen wer­den hier vorgängig kul­turelle Kon­texte aufgerufen, denen sich die Beteiligten nicht so ein­fach entziehen kön­nen. Und auch die schein­bar neu­tralen Werkzeuge, die der Instru­men­talun­ter­richt anbi­etet – zuvorder­st das (Alleine-)Üben und die Tech­nik – sind, wie zu sehen war, keines­falls far­b­los-durch­sichtiger Natur, son­dern implizieren ein spez­i­fis­ches Leib-Kör­p­er-Ver­ständ­nis,  das zwar hochgr­a­dig vari­ieren kann, aber doch einen kul­turell ein­deutig fix­ierten Spiel­raum beze­ich­net. Instru­men­talun­ter­richt führt nicht so sehr auf kul­turelle Kon­texte hin, son­dern ist, ob er das möchte oder nicht, zunächst sel­ber ein kul­tureller Kon­text.

Ist damit aber geset­zt, dass die eben­so notwendi­ge wie kontin­gente „Hor­i­zontv­eren­gung“ (Pless­ner) das let­zte Wort behält? An ander­er Stelle habe ich den Ges­tus des Instru­men­talun­ter­richts mit dem Begriff des „In Emp­fang Nehmens“ zu beze­ich­nen ver­sucht, (Less­ing 2018b, S. 48), was etwas grund­sät­zlich anderes bedeutet, als die Aller­welts­floskel meint, die emp­fiehlt, die Schü­lerIn­nen „dort abzu­holen, wo sie ste­hen.“ Mit Pless­ner lässt sich gut darstellen, was diesen Ges­tus aus­macht und wo seine Über­schre­itungspoten­ziale liegen. Dies sei abschließend zumin­d­est umris­shaft skizziert.

An Yus­suf ließ sich beobacht­en, dass seine Rol­lenüber­nahme des Rock­gi­tar­ris­ten sowohl durch den Ges­tus des „Spie­lens in“ als auch des „Spie­lens mit“ charak­ter­isiert war. Es spricht vieles dafür, diese Dif­feren­zierung auch als Leitvorstel­lung für die Entwick­lung ein­er instru­men­talpäd­a­gogis­chen Lernkul­tur in Anspruch zu nehmen. Als ein „Spie­len in“ kön­nen wir ein Geschehen im Unter­richt beschreiben, wenn die ange­bote­nen Kör­p­er-Rollen, die immer die Set­zung eines „kollek­tiv­en Ichs“ implizieren, so präsen­tiert wer­den, dass sie einen Spiel­raum für die Aneig­nungsweisen des indi­vidu­ellen Ichs lassen. Das „Spie­len mit“ beze­ich­net hinge­gen einen Unter­richt, in dem diese Rollen selb­st nur als Auss­chnitte eines größeren Möglichkeitsspek­trums in Erschei­n­ung treten.

Konkret bedeutet das: Es ist abso­lut legit­im, wenn ein Anfänger-Unter­richt auf der Gitarre immer wieder auch aus ein­er „tech­nis­chen“ Per­spek­tive her­aus erfol­gt, die von ein­er Dom­i­nanz der kör­per­lichen Selb­st­beobach­tung geprägt ist.[15] Allerd­ings ist darauf zu acht­en, dass diese Selb­st­beobach­tung sich nicht allein an vorgegebe­nen Kri­te­rien bemisst, son­dern die indi­vidu­ell-leib­lichen Reak­tio­nen auf die jew­eili­gen Inhalte berück­sichtigt. Wenn Yus­suf lust­los die leere D-Saite zupft und dabei ein Lied singt, mit dem er sich nicht inner­lich verbinden kann, dann heißt das, dass die Auf­gabe für ihn kein kör­per­lich­es Iden­ti­fika­tion­sange­bot bere­i­thält, das ihm ein lustvolles Agieren in der Rolle ermöglicht. Sein Leib tritt hier im Modus der Langeweile in Erschei­n­ung, ein „Spie­len in“ ist nicht möglich. Vielle­icht kön­nte durch eine Mod­i­fizierung der rhyth­mis­chen Vor­gaben oder durch Yus­sufs eigene Mitar­beit an diesen Mod­ellen ein Weg gebah­nt wer­den, durch den er das kollek­tiv voraus­ge­set­zte „Ich“ mit seinem Leib in eine spielerische Wech­sel­beziehung brin­gen kön­nte. Über dieses „Spie­len-in“ ließe sich dann auch ein „Spie­len-mit“ ini­ti­ieren: Ein der­ar­tiges Spiel entstünde, wenn die Ein­stel­lung der kör­per­lichen Dis­tanz­nahme und der Selb­st­beobach­tung nur eine unter mehreren möglichen Rollen wäre. Geset­zt, das kor­rek­te Zupfen ein­er leeren Saite erschiene nicht auss­chließlich als äußer­liche Hand­lungsan­weisung, die durch Intro­spek­tion zu inko­r­pori­eren ist, son­dern würde in Nach­barschaft zu Spielideen ste­hen, bei der es ein bedeut­sames musikalis­ches Ereig­nis darstellt – z.B. im Rah­men eines an Cages „Num­ber Pieces“ gemah­nen­den Spieles mit den Dimen­sio­nen Stille und Ereig­nis –  dann stün­den bere­its zwei Rol­len­vorschläge im Raum, die sich bei­de wech­sel­seit­ig beleucht­en kön­nten, wobei der Wech­sel der Per­spek­tiv­en sel­ber zu einem „Spie­len im Spiel­raum“ würde.

In einem der­ar­ti­gen Unter­richt würde ein „dop­pelte Als ob“ real­isiert (vgl. Less­ing 2019): So wie jedes inten­sive Musizieren dadurch gekennze­ich­net ist, dass das Spiel Ernst ist (Spie­len als ob es um die eigene Exis­tenz gin­ge), so ist ein inten­sives Üben – und damit ist auch das gemein­same Üben im Unter­richt gemeint – keineswegs nur jene harte Arbeit, der das lustvolle Spiel kon­tradik­torisch gegenübergestellt ist. Vielmehr ist es eben­falls von einem „Als ob“ geprägt, wer­den in ihm doch die vielfälti­gen Möglichkeit­en und Alter­na­tiv­en, die im „echt­en“ Spiel (z.B. ein­er Konz­ert­si­t­u­a­tion) auf eine einzig denkbare reduziert wer­den müssen, in ihrer ganzen Vielfalt erkun­det und erprobt. Dieses probe­weise Erkun­den, zu dem auch ein vielfach­er Wech­sel unter­schiedlich­er Kör­pere­in­stel­lun­gen gehören kann, gelingt nur unter der Voraus­set­zung, dass die radikale Zus­pitzung auf „die“ Lösung vor­läu­fig aus­geklam­mert bleibt. Insofern ste­ht jede der ger­ade erprobten Vari­anten unter dem Index des noch nicht Abgeschlosse­nen: Der Spiel­er tut für einen Moment so, „als ob“ die ger­ade erkun­dete Möglichkeit die einzig denkbare sei. Der Ernst des Spiels (beim Musizieren) ste­ht damit in ein­er Dif­ferenzbeziehung zum Spie­len des Ern­stes (beim Üben), durch die ein Spiel­raum entste­ht, der sein­er­seits bespielt wer­den kann.

„In Emp­fang nehmen“ im Instru­men­talun­ter­richt erfordert daher sowohl die Akzep­tanz der durch das Instru­ment und seine Spiel­weise vorgängig implizierten Kör­p­er-Set­zun­gen als auch die Nutzung und Ent­deck­un­gen der in diesen Set­zun­gen ver­bor­ge­nen Spiel-Möglichkeit­en, die sowohl als „Spie­len-in“ wie auch als „Spie­len-mit“ in Erschei­n­ung treten kön­nen. Indem sich der Hor­i­zont des Unter­richts für diese Möglichkeit­en öffnet, erweist er sich als poten­ziell verän­der­bar und damit zugle­ich auch als offen für bis­lang noch nicht betretene Räume. Denn bei­de Modi des Spiels wider­set­zen sich endgülti­gen Fes­tle­gun­gen. Sie bedür­fen der vorgängi­gen Set­zung, um sie als Spiel in den Stand der Vor­läu­figkeit zu set­zen.

Michel Fou­cault hat ein­mal zwis­chen „realen“ und „utopis­chen“ Kör­pern unter­schieden, die er kor­rel­a­tiv aufeinan­der bezog, da die Vorstel­lung eines „nur realen“ Kör­pers ein Phan­tom sei (Fou­cault 2005). In diesem Sinne wären die durch den Instru­men­talun­ter­richt eröffneten Räume als Orte zu ver­ste­hen, die man hat (im Sinne ein­er vorgegebe­nen Kör­per­welt des kollek­tiv­en Ichs) und zugle­ich – auf­grund ihrer im Spiel zutage tre­tenden Poten­zial­ität – immer auch nicht hat. Ver­mit­telt durch die Modi des „Spie­lens in“ und „Spie­lens mit“ kann ein Bere­ich entste­hen, den Fou­cault als „Het­ero­topie“ beze­ich­nete. „In aller Regel“, so Fou­cault, „brin­gen Het­ero­topi­en an ein und dem­sel­ben Ort mehrere Räume zusam­men, die eigentlich unvere­in­bar sind“ (Fou­cault 2005, S. 14). Pless­ner hätte zweifel­los zuges­timmt.

 

Lit­er­atur

Adorno, Theodor W.: Neg­a­tive Dialek­tik, GS 6, Her­aus­gegeben von Rolf Tiede­mann unter Mitwirkung von Gre­tel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frank­furt am Main: Suhrkamp 2003.

Bhab­ha, Homi K.: Die Veror­tung der Kul­tur, aus dem Englis­chen über­set­zt von M. Schiff­mann und J. Freud. Tübin­gen 2000.

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Wulf, Christoph: Das Rät­sel des Huma­nen. Eine Ein­führung in die his­torische Anthro­polo­gie. München: Wil­helm Fink Ver­lag 2013.


[1] Dieses Inter­esse ist bis­lang noch unter­en­twick­elt. Die weni­gen musikpäd­a­gogis­chen Beiträge bzw. Anmerkun­gen, die es zum anthro­pol­o­gis­chen Ansatz Pless­ners gibt, sind entwed­er all­ge­mein gehal­ten oder sie streifen nur Teilaspek­te sein­er Leibkonzep­tion (vgl. Richter 1987, 1993, Khit­tl 2007). Mitunter ver­fälschen sie sog­ar das Anliegen Pless­ners regel­recht (Stange 2018).

[2] Das­selbe noch ein­mal in den Worten Pless­ners: „Die Posi­tion des Men­schen lässt sich durch Per­son­al­pronom­i­na dek­lin­ieren, die, wie unschw­er einzuse­hen ist, ein dop­peltes Ver­ständ­nis des Wortes Ich möglich machen. Ich kann mich zu anderen in ein kon­stantes Gegenüber brin­gen, in dem mir eine aus­geze­ich­nete Stelle reserviert bleibt, die eben nur durch mich hic et nunc aus­ge­füllt wird. Insofern sind ‚Ich‹ und ‚Hier‹ äquiv­a­lent. Ich beze­ich­net den Ort, von dem meine Impulse aus­ge­hen und auf den hin alle Per­spek­tiv­en kon­vergieren. Dieser abstrak­te Tatbe­stand kommt dem Men­schen […] konkret aber durch die eigene leib­hafte Exis­tenz zum Bewusst­sein […] Mein Leib ste­ht für Ich, das ich auf eine men­schliche, eine unvertret­bare Weise bin und das mir eine einzi­gar­tige Posi­tion ver­schafft. Dass sich aber diese Posi­tion als einzi­gar­tig darstellen kann, hebt sich offen­bar von einem Hin­ter­grund der Vertret­barkeit durch einen jeden, der in der näm­lichen Posi­tion ist, ab. […] Einzi­gar­tigkeit artikuliert sich nur vor einem Hin­ter­grund, der sie nicht ken­nt. Indi­vidu­elle und generelle Sub­jek­tiv­ität implizieren einan­der. Als Indi­vidu­um uner­set­zbar, ste­ht jed­er Men­sch in sein­er möglichen Erset­zbarkeit. Er kön­nte, aber er kann nicht.« (Pless­ner 1980–85, GS VII­Ia, S. 338–340)

[3]  Diese unzure­ichende Darstel­lung des Plessner’schen Denkweges ver­an­lasst Stange dann zu der kri­tis­chen Frage, wie sich bei Pless­ner Natur und Kul­tur unter­schei­den ließen bzw. woran festzu­machen sei, dass der Über­gang zwis­chen bei­den vol­l­zo­gen sei (Stange 2018, S. 42f.). Diese Fra­gen erweisen sich als Fol­gen ein­er peti­tio prin­cipii: Man kann darauf lediglich antworten, dass sich für Pless­ner der Unter­schied in dieser Form in der Tat nicht darstellen lässt, eben weil Leib­lichkeit und Kör­per­lichkeit so ineinan­der ver­schränkt sind, dass sie sich zu keinem Zeit­punkt voneinan­der tren­nen lassen. Mit Wulf kri­tisch anzumerken, dass es kein inneres Kri­teri­um für die innerpsy­chis­che Iden­ti­fizier­barkeit von inneren Entitäten und äußeren Ereignis­sen – mithin für eine trennscharfe Unter­schei­dung von Kör­p­er und Leib – gäbe (vgl. Wulf 2013, S. 30), ist zwar abso­lut kor­rekt, verken­nt aber die eigentliche Pointe bei Pless­ner, der ja ger­ade nicht nach innerpsy­chis­chen Kor­re­lat­en sucht, son­dern diese Kor­re­late von vorn­here­in von der Gren­ze zum Außen her, mithin als Teil ein­er nicht eli­m­inier­baren Dif­ferenzbeziehung, denkt.

[4]  Für Stange ist Pless­ners Begriff der „ele­mentaren Rol­len­haftigkeit“ ein Hin­weis dafür, dass der Aspekt ein­er Kul­tur­al­isierung mit­tels Sozial­i­sa­tion bei Pless­ner nicht nur fehlt, son­dern von ihm ger­adezu bestrit­ten wird (Stange 2018, S. 43). Auch das erweist sich bei näherem Hin­se­hen als untriftig. Die Tat­sache, dass Men­schen die Prozesse der Verkör­pe­rung (ver­standen als dif­fer­entes und per­for­mantes Spiel zwis­chen Leib und Kör­p­er), der Iden­ti­fika­tion und der Per­son­ifika­tion „invari­ant gegenüber jed­er Art von Gesellschaftsver­fas­sung“ aufgegeben sind (Pless­ner 1976, zit. nach Stange 2018, S. 43), bedeutet noch lange nicht, dass sie sich nicht im Laufe der Onto­ge­nese und im Rah­men ein­er ganz konkreten, wen­ngle­ich kontin­gen­ten Kul­tur her­aus­bilden müssen.

[5]  Für Bhab­ha wird die in „jedem per­for­ma­tiv­en kul­turellen Akt wirk­same sprach­liche Dif­ferenz […] auch in der geläu­fi­gen semi­o­tis­chen Darstel­lung der Dis­junk­tion zwis­chen dem Sub­jekt ein­er Propo­si­tion (énon­cé) und dem Sub­jekt der Äußerung (enun­ci­a­tion) her­vorge­hoben, das in der Aus­sage nicht repräsen­tiert ist, in dem aber den­noch die diskur­sive Ein­bet­tung und Aus­rich­tung der Aus­sage, ihre kul­turelle Posi­tion­ierung, ihr Bezug auf eine gegen­wär­tige Zeit und einen spez­i­fis­chen Raum zum Aus­druck kommt“ (Bhab­ha 2000, S. 55). Der Träger der Äußerung ist keineswegs – eben­sowenig wie für Pless­ner der Leib – das „echte“ oder gar „befre­ite“ Sub­jekt. Er besitzt kein­er­lei Mate­ri­al­ität und schon gar keine „Essenz“ (im Sinne von „Iden­tität“), son­dern ist vielmehr ort­los: Er bewohnt einen leeren Raum, der sich dem Blick der Mehrheit entzieht. Die „Iden­tität“ des Kolo­nial­isierten – und wohl auch des Migranten – ist daher dop­pelt, aber zugle­ich „weniger als eins“. Genau hierin beste­ht für Bhab­ha aber das Verän­derungspoten­zial des Drit­ten Raumes (vgl. hierzu auch Less­ing 2018c).

[6]   In den Worten Hum­ber­to Mat­u­ranas: „Es gibt außer­dem keine Infor­ma­tionsver­ar­beitung, keine Errech­nung des Ver­hal­tens nach den Bedin­gun­gen ein­er Außen­welt, keine ziel­gerichteten Prozesse im Arbeit­en des Organ­is­mus, es gibt lediglich Zus­tandsverän­derun­gen des Organ­is­mus im Prozess der Ver­wirk­lichung sein­er Autopoiese.“ (Mat­u­rana 1990, S. 109)

[7]„Als physis­ch­er Kör­p­er ‚ist‘ das Ding schon von sich aus, das Sein tritt ihm in keinem Sinne gegenüber oder hebt sich von ihm als Seien­dem ab. […] Ein Lebe­we­sen erscheint gegen seine Umge­bung gestellt. Von ihm aus geht die Beziehung auf das Feld, in dem es ist, und im Gegensinne die Beziehung zu ihm zurück. […] In sein­er Lebendigkeit unter­schei­det sich also der organ­is­che Kör­p­er vom anor­gan­is­chen durch seinen posi­tionalen Charak­ter oder seine Posi­tion­al­ität. Hierunter sei der­jenige Grundzug seines Wesens ver­standen, welch­er einen Kör­p­er in seinem Sein zu einem geset­zten macht“ (Pless­ner 1980–1985, GS IV, S. 184, 186, 184).

[8] Eine Aus­nahme stellen hier Äußerun­gen wie Lachen und Weinen dar, denen Pless­ner eine eigene Schrift gewid­met hat. Pless­ner begreift sie als verselb­ständigte, also nicht mehr bewusst steuer­bare Kör­per­reak­tio­nen, durch die die Ort­losigkeit der exzen­trischen Posi­tion­al­ität her­vor­tritt. Lachen und Weinen drück­en diese Ort­losigkeit aus und fan­gen sie zugle­ich ab (vgl. Pless­ner 1980–85, GS VII, S. 201–388).

[9] Brecht beze­ich­net „den Bere­ich der Hal­tun­gen, welche die Fig­uren zueinan­der ein­nehmen, [als] gestis­chen Bere­ich. Kör­per­hal­tung, Ton­fall und Gesicht­saus­druck sind von einem gesellschaftlichen ‚Ges­tus‘ bes­timmt. […] Zu den Hal­tun­gen, ein­genom­men von Men­schen zu Men­schen, gehören selb­st die anscheinend ganz pri­vat­en, wie die Äußerun­gen des kör­per­lichen Schmerzes in der Krankheit oder die religiösen.“ (Brecht 1949: § 61)

[10] Für Türk ist „lega­to“ ein „Kunst­wort“, mit dessen Hil­fe die „Bewe­gung und der Charak­ter eines Ton­stück­es [angedeutet wird], damit […] der Spiel­er wisse, […] wie er also seinen Vor­trag […] einzuricht­en habe“ (Türk: Clavier­schule, 1789).

[11] Diese Ten­denz lässt sich ansatzweise bere­its in der „Gründlichen Vio­lin­schule“ Leopold Mozarts beobacht­en, der in dieser Hin­sicht als dur­chaus „mod­ern­er“ Autor gel­ten kann.

[12] „[Es geht darum], einen fein abges­timmten Zwang auszuüben; die Zugriffe auf der Ebene der Mechanik ins Kle­in­ste gehen zu lassen: Bewe­gun­gen, Gesten, Hal­tun­gen, Schnel­ligkeit. Eine infin­i­tes­i­male Gewalt über den täti­gen Kör­p­er. […] Es geht nicht oder nicht mehr […] um die Sprache des Kör­pers, son­dern um die Ökonomie und Effizienz der Bewe­gun­gen und ihrer inneren Organ­i­sa­tion; der Zwang zielt eher auf die Kräfte als auf die Zeichen ab; die einzige wirk­lich bedeut­same Zer­e­monie ist die der Übung.“ (Fou­cault 1976, S.175). Diese Selb­st­diszi­plin­ierung des eige­nen Kör­pers ist ein bis weit ins 20. Jahrhun­dert – und zum Teilen sich­er auch noch bis in die Gegen­wart – hinein­wirk­endes „Geschenk“ des 19. Jahrhun­derts, das weitaus wirkungsmächtiger ist als die z.T. drakonis­chen kör­per­lichen Manip­u­la­tio­nen, die vor allem in der Klavier­päd­a­gogik des 19. Jahrhun­derts eine Rolle spiel­ten. Die aktiv­en und gewalt­samen Zurich­tun­gen des Spiel­erkör­pers mögen als Ausstel­lungsstücke im Gruselk­a­bi­nett ein­er schwarzen Päd­a­gogik dur­chaus reizvoll sein. Sie verdeck­en aber die weitaus sub­tilere Ten­denz zur Dauer­beobach­tung der eige­nen Bewe­gun­gen, die das eigentliche, und noch immer nicht vol­lends bewältigte Erbe der Instru­men­talpäd­a­gogik des 19. Jahrhun­derts darstellt.

[13] Dass der­ar­tige Stun­den keineswegs Einzelfall sind, son­dern an deutschen Musikhochschulen mitunter sog­ar den Maßstab für „gelun­gene“ Lehrver­suche bilden, doku­men­tiert Wolf­gang Rüdi­ger sehr anschaulich:

    „Der Schau­platz ist eine Vio­lin­lehrprobe mit einem 9-jähri­gen Schüler, der seit einem Jahr Geige­nun­ter­richt erhält. ‚The­ma‘ und Lernziel der Stunde ist die ‚Sta­bil­isierung der Hand­hal­tung links und der Bogen­führung‘; den Schw­er­punkt der ersten Phase bildet der ‚ger­ade Bogen­strich‘. Zu Beginn soll der Schüler mit mehrfach­er Ton­wieder­hol­ung auf leeren Sait­en im Détaché auf und ab stre­ichen. Als Hil­festel­lung steckt die Lehrkraft so genan­nte ‚Füh­ler‘ –  selb­st gedrehte Papier­röllchen – senkrecht in die F-Löch­er, eine Art Pfeil­er oder Leit­planke für die Bogen­führung. Da diese jedoch etwas zu dünn sind, kip­pen sie immer wieder gegen die Sait­en (was ein schnar­ren­des Geräusch beim Stre­ichen ergibt) und müssen von der Lehrkraft zurecht­gerückt bzw. -geschnipst wer­den. Die Markierung soll das Erfühlen des ger­aden Bogen­strichs fördern, ver­bun­den mit ver­balen Anweisun­gen zum Zuhören und zur Spiegelkon­trolle. Hinzu kom­men manuelle Kor­rek­turen von Boge­n­arm und -hand, die die Bewe­gun­gen des Schülers führen und for­men. Trotz aller Hil­f­s­mit­tel, Manip­u­la­tio­nen und Anweisun­gen zum Hören, Fühlen und Beobacht­en der Bewe­gun­gen hat der Schüler Schwierigkeit­en, ‚in der Spur zu bleiben‘ und ger­ade zu stre­ichen. Also soll er das zu Hause weit­er üben. Darauf fol­gen eine kurze Kör­perübung, das Lied ‚Hänsel und Gre­tel‘, auswendig gespielt, und eine von der Lehrkraft notierte Übung, die zu entz­if­fern und auf der Geige umzuset­zen dem Schüler Mühe bere­it­et. In der Nachbe­sprechung der Lehrprobe sind sich die Vio­lin­pro­fes­soren einig, eine sehr gute Unter­richtsstunde gese­hen zu haben, mit kluger Methodik, klaren Anweisun­gen und der nöti­gen Strenge in der Ver­mit­tlung spiel­tech­nis­ch­er Fer­tigkeit­en. Schließlich geht es im Anfang­sun­ter­richt vornehm­lich darum, ein sicheres tech­nis­ches Fun­da­ment für die spätere musikalis­che Gestal­tung zu leg­en.“ (Rüdi­ger 2011, S. 220f.)

[14] Olivi­er Blan­chard plädiert für ein Ver­ständ­nis von „Kultur(en) als Wis­sensor­d­nun­gen und Sinnsys­teme […], die durch soziale Prak­tiken erzeugt wer­den“ (Blan­chard 2019).  Insofern muss auch Musikun­ter­richt als ein kul­tureller Raum zu ver­ste­hen sein, in dem die in ihm stat­tfind­en­den Prak­tiken der „Ver­mit­tlung und Erschließung von Kul­turen und kul­tureller Diver­sität“ durch bes­timmte Wis­sensor­d­nun­gen und kul­turelle Logiken hergestellt wer­den.

[15]  Um Missver­ständ­nis­sen vorzubeu­gen, sei darauf hingewiesen, dass „kör­per­liche Selb­st­beobach­tung“ nicht nur dort stat­tfind­et, wo – im Sinne der Motorik­forschung – ein „inter­naler Aufmerk­samkeits­fokus“ vor­liegt (vgl. Wulf & Prinz 2000, Sax­er 2006). Auch der in diesem Forschungspar­a­dig­ma als pos­i­tive Gegen­mit­tel emp­foh­lene „exter­nale Aufmerk­samkeits­fokus“ läuft insofern auf eine Selb­st­beobach­tung hin­aus, als er näm­lich eine „Strate­gie“ beze­ich­net, mit­tels der­er eine bes­timmte Bewe­gung erlernt wer­den kann. Wie beim inter­nalen Fokus kon­stru­iert das Sub­jekt auch in der exter­nalen Per­spek­tive eine Zweck-Mit­tel-Rela­tion, durch die eine bes­timmte kollek­tive Kör­per­vorstel­lung in den Leib hinein­mod­el­liert wer­den soll. Möglicher­weise ist die Ein­nahme eines exter­nalen Fokus‘ hier­bei erfol­gre­ich­er. Das ändert aber nichts an der grund­sät­zlichen Par­al­lelität, in der in bei­den Fällen die Dimen­sio­nen von Leib und Kör­p­er aufeinan­der bezo­gen wer­den.

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