Körper-Leib-Instrument — MusikInstrumentalpädagogische Überlegungen zu einer komplexen Beziehung
- Yussuf revisited
Eine kurze Vorbemerkung: Zu Beginn meines Beitrages „Üben als Handeln“ (Lessing 2018) dokumentierte ich eine Unterrichtssequenz, die ich im Rahmen meiner instrumentalpädagogischen Ausbildungstätigkeit an der Dresdner Musikhochschule beobachten konnte. Wenn ich in dem vorliegenden Text noch einmal auf diese Sequenz zurückkomme, so soll damit keineswegs der Gedankengang jenes Beitrags wiederholt werden. Vielmehr scheint mir die beobachtete Szene in Hinblick auf das Dreiecksverhältnis von Körper, Instrument und Musik einen Facettenreichtum aufzuweisen, der mit dem älteren Text noch keineswegs abgegolten ist. Daher seien auch die folgenden Überlegungen mit dieser Sequenz eröffnet:
„Eine Szene aus dem instrumentalen Gruppenunterricht, beobachtet in einer Dresdner Grundschule: vier Kinder im Alter von zehn Jahren haben die erste Gitarrenstunde ihres Lebens. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich. Schnell haben alle ihre neuen Instrumente ausgepackt und steuern erwartungsvoll auf ihre Plätze im Sitzkreis zu. Dabei „spielen“ sie unablässig auf ihren Instrumenten. Yussuf hat die Gitarre eng an seinen Bauch gepresst und macht ein starkes Hohlkreuz; dazu bewegt er rhythmisch den Hals des Instruments nach oben und unten. Zweifelsohne imitiert er die exaltierte Pose eines Rockgitarristen. Mit seiner rechten Hand schlägt er schnelle Arpeggien auf den leeren Saiten an, während er mit starken Grimassen, verzerrter Stimme und verdrehten Augen ein paar Töne auf Fantasiesilben singt. Das Lachen der anderen Kinder animiert ihn, seine Performance fortzusetzen und auszubauen. Nur mit Mühe gelingt es dem Lehrer – einem Studenten, der erstmalig eine Gruppe unterrichtet –, ihn zu unterbrechen und die Gruppe zur Ruhe zu bringen. Im weiteren Stundenverlauf kommt es immer wieder zu Momenten, in denen die Kinder die von Yussuf so eindrücklich vorgemachte Pose des Rockgitarristen ihrerseits zu imitieren versuchen, wobei der Lehrer dies stets zu unterbinden versucht. Und zwar nicht allein aus disziplinarischen Gründen, sondern – wie er im Nachgespräch äußert –, um die Kinder von vornherein vor einer „falschen“, physiologisch völlig ungeeigneten Gitarrenhaltung zu bewahren. Inhaltlich erscheint die Stunde nahezu als Kontrastprogramm zu Yussufs fulminantem Auftritt. Den Kindern wird eine angemessene Sitzhaltung gezeigt, sie erlernen den Gebrauch der Fußbank und erfahren, wie sie selbst zu Hause kontrollieren können, ob sie ihre Gitarre „richtig“ halten. Auch über den Anschlagswinkel der rechten Hand wird kurz gesprochen. Am Ende der Stunde erhalten sie die Aufgabe, ein gleichmäßiges Metrum auf der D-Saite zu spielen und dazu ein Volkslied (Bunt sind schon die Wälder) zu singen, was nicht ganz einfach ist, weil niemand das Lied kennt und das Lernen von Text und Melodie mehr Zeit beansprucht, als der Student veranschlagt hatte.
In den folgenden Stunden wird auf der hier geschaffenen Grundlage aufgebaut. In einem angemessenen Lern- und Arbeitstempo lernen die Kinder die ersten Töne mit ihrer linken Hand zu greifen, wobei der Lehrer – wiederum aus Gründen einer „sauberen“ Spieltechnik – vollständig in der Einstimmigkeit verbleibt. Dazu wird viel gesungen, mit Solmisationssilben gearbeitet und auf Noten ganz verzichtet. Aber obgleich der methodische Ansatz durchdacht erscheint, die Lehrersprache „kindgerecht“ ist, der Student immer wieder das innere Hören der Kinder anzuregen versucht und am Ende einer jeden Stunde genaue Tipps zum häuslichen Üben gibt, ist nicht zu übersehen, dass sich in der Gruppe relativ schnell eine gewisse Lustlosigkeit breitmacht, was sich u. a. daran äußert, dass sich Yussuf und Moritz immer wieder aus dem gemeinsamen Unterrichtsgeschehen ausblenden. Auch ist deutlich zu spüren, dass die Kinder mit den Hausaufgaben eher lax umgehen und häufig in den Unterricht kommen, ohne geübt zu haben.“ (Lessing 2018, S.70f.)
Der Unterschied zwischen Yussufs körperlicher Disposition bei seiner Darbietung und während der anschließenden Unterrichtsstunde könnte markanter nicht sein. Im ersten Fall scheint die Gitarre unmittelbar zu seinem Körper zu gehören. Schon allein in ihrer puren Objekthaftigkeit ist sie Teil der Performance: Sie wird „eng an den Bauch gepresst“ und ihr Hals „rhythmisch von oben nach unten bewegt“. Keineswegs ist sie nur ein Gegenstand, der Musik zum Klingen bringen soll, vielmehr erscheint sie selbst bereits als unveräußerlicher Bestandteil eines musikalischen Zusammenhanges, der durch das Ineinandergreifen von ausdruckshafter Körperbewegung, Gestik, Mimik und Stimme gekennzeichnet ist. In der eigentlichen Unterrichtsstunde mutiert sie hingegen zu einem neutralen Objekt, dessen Beherrschung mühsam erlernt werden muss. Wie sie so wird auch Yussufs Körper, der zuvor eine – noch genauer zu bestimmende – Einheit mit dem Instrument gebildet hatte, im wahrsten Sinne zu einem „Fremd-Körper“. Diese gegenseitige Beziehungslosigkeit definiert einen Punkt Null, von dem ausgehend dann der Instrumentalunterricht und das an ihn angeschlossene häusliche Üben als Prozess einer allmählichen, mühevollen und möglicherweise nicht sonderlich erfolgreichen Landnahme erscheint.
Die beschriebene Szene ist eine Herausforderung für jedes instrumentalpädagogische Nachdenken. So wie sich die eigentliche Unterrichtsstunde unter dem Gesichtspunkt eines Lernprozesses beschreiben lässt (angemessene Sitzhaltung, Gebrauch der Fußbank, korrekter Anschlagswinkel, Erlernen eines Liedes und seiner instrumentalen Begleitung), so kann man sie auch als ein Geschehen interpretieren, in dem zweifellos vorhandene Fähigkeiten nicht nur nicht zum Zuge kommen, sondern – um des Erreichens präfixierter Lernziele willen – regelrecht zurückgedrängt werden. Denn auch wenn Yussuf während seiner Eingangsperformance streng genommen noch gar nicht Gitarre spielen kann, sondern lediglich nur so tut „als ob“, so verbirgt sich in diesem Als ob doch eine Zugangsweise zum Instrument, die man regelrecht als Ziel instrumentalpädagogischer Arbeit bezeichnen könnte. Eine Herausforderung ist diese Szene insofern, als durch sie die Frage aufgeworfen wird, ob und inwieweit die musikalisch-körperlichen Qualitäten, die Yussufs „Nicht-Können“ augenscheinlich begleiten, für den „eigentlichen“ instrumentalen Lernprozess nutzbar gemacht werden können. Oder muss man davon ausgehen, dass für das reguläre Erlernen des Instruments derartige Qualitäten eher keine Rolle spielen, da sie doch sinnvoll erst dann zum Zuge kommen, wenn entsprechende technische und musikalische Fähigkeiten über längere Zeitspannen hinweg erworben worden sind? Müsste man Yussufs Performance nicht mit dem Verdikt „Mehr Schein als Sein“ begegnen und wäre es nicht die Aufgabe eines „seriösen“ Instrumentalunterrichts, diese Formel umzudrehen?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir Yussufs Performance noch besser verstehen lernen. Dies geschieht keineswegs in der Absicht, sie zu überhöhen: sie ist, trotz all ihrer vitalen Spielfreude, sicherlich kein Akt, der wegen einer exzeptionellen Kreativität besondere Beachtung verdiente. Allem Anschein nach ruft Yussuf in seiner Performance eine ganz konkrete Situation auf, die er irgendwo schon einmal gesehen und die ihn beeindruckt hat. Doch genau dieses Aufrufen eines konkreten kulturellen Zusammenhanges, das bekanntlich für kindliches Spielen und Lernen insgesamt charakteristisch ist, scheint für ein Verständnis sowohl dieser Szene wie auch der anschließenden Unterrichtsstunde von großer Bedeutung zu sein.
Schauen wir zunächst noch einmal genauer auf Yussufs konkreten Umgang mit dem Instrument. Für die Dauer seiner Performance scheint er regelrecht mit seiner Gitarre zu verschmelzen: Wenn er das Instrument „eng an seinen Bauch“ presst und diese Pose auch noch mit einem Hohlkreuz verbindet, dann stellt er nahezu demonstrativ einen Zusammenhang zwischen der Größe des Gitarrenkorpus und seiner Bauchfläche her; so wie bei konkaven und konvexen Bausteinen Höhlungen und Wölbungen zusammenstimmen, so wird auch hier gleichsam demonstrativ eine Passung zwischen Instrument und Körper hergestellt. Gitarre und Körper scheinen wie Puzzleteile zusammenzugehören. Und wie das Instrument zum Teil des Körpers wird, so reagiert auch der Körper auf die Bedingungen des Instrumentes: Indem Yussuf den Gitarrenhals „rhythmisch von oben nach unten“ schwingt, und seinen Körper mit in diese Bewegung hineinnimmt, passt sich nicht nur das Instrument an den Körper, sondern auch dieser an jenes an. Im Zuge dieser Anpassung wird die Form des Gitarrenhalses auf eine bestimmte Weise interpretiert: Dem Hals wird gleichsam die „Funktion“ zuerteilt, mittels der Arme rhythmisch bewegt werden zu können. Seine „reguläre“ Bedeutung – der Ort zu sein, an dem die linke Hand unterschiedliche Tonhöhen erzeugt –, wird um einen Aspekt ergänzt, der vornehmlich visueller Natur zu sein scheint, durch den Yussuf aber zweifellos zu spezifischen Ausdrucksbewegungen animiert wird, die ihrerseits mit der im engeren Sinne akustisch-musikalischen Dimension vernetzt sind. Die Gitarre ist nicht nur der Ort, an dem Klänge erzeugt werden, sondern zugleich ein „sparring partner“, der ein spezifisches musikalisches Bewegungsrepertoire evoziert.
Möglicherweise ist die Vokabel der Verschmelzung gar nicht sonderlich geeignet, um Yussufs scheinbares Gitarrenspiel zu charakterisieren. Denn mit ihr wird ja lediglich die Beziehung zwischen Körper und Instrument fokussiert. Der gerade gefallene Begriff der Interpretation weist jedoch in eine noch etwas andere Richtung: Yussuf schafft mit seiner kurzen Performance ein komplexes Bedingungsgefüge, das aus Mimik, Gestik und stimmlicher Verlautbarung besteht und das von einem über alldem schwebenden Darbietungscharakter getragen ist. Um die Gitarre als Verlängerung seines Körpers erscheinen lassen zu können, ist jeder dieser Aspekte gleichermaßen wichtig und notwendig, was schon allein aus der Tatsache deutlich wird, dass im anschließenden regulären Unterricht, in dem es nahezu ausschließlich um die Beziehung zwischen Spieler und Instrument geht und in dem bis auf das Singen und Begleiten des neu erlernten Liedes alle anderen Aspekte ausgeklammert werden, die Gitarre plötzlich den Status eines „Objekts“ erhält, dessen „Bedienung“ mühsam erlernt werden muss. Um den Korpus der Gitarre und seine Bauchfläche als ineinandergreifend und zusammengehörig interpretieren zu können bzw. um den Gitarrenhals zum Ort eines musikalisch-rhythmischen Ereignisses werden zu lassen, muss sich Yussuf innerlich an einem Ort positionieren, der von vornherein von einem Zusammengehen dieser Aspekte ausgeht und an dem auf keinen von ihnen verzichtet werden kann. Dieser Ort ist für ihn ganz offenkundig mit seiner Vorstellung von Rockmusik (im weitesten Sinne) verknüpft – und nur von ihm ausgehend scheint sich Yussuf mit seiner Gitarre verbinden zu können.
Aber wieso ist dieses Hinausgehen über die Beziehung Spieler-Instrument so entscheidend für die Gestaltung eben dieser Beziehung? Die Antwort, dass es immer ein „Worauf“ geben muss, auf das sich die Umgangsweise mit einem Instrument bezieht, und dass dieses Worauf selbstverständlich die Musik ist, ist zwar nicht falsch, greift aber zu kurz: schließlich wird auch, wie zu sehen war, im eigentlichen Unterricht (und dann auch in den Folgestunden) Musik gemacht – und zwar nicht nur nebenbei, sondern mit dem erklärten Ziel, das innere Hören der Kinder anzuregen (daher die Verwendung von Solmisationssilben und die regelmäßige Einbeziehung des Singens), um die derart audiierten Klänge dann auf das Instrument zu übertragen.
- Das Spiel zwischen Leib und Körper – eine Annäherung an Helmuth Plessners Leib-, Körper- und Kulturverständnis
Um den Unterschied zwischen beiden Situationen genauer zu verstehen, ist es notwendig, an dieser Stelle etwas weiter auszuholen und vorübergehend eine anthropologisch-philosophische Perspektive einzunehmen. Ich rekurriere auf Helmuth Plessner und hier vor allem auf dessen Vorstellung von der „exzentrischen Positionalität des Menschen“. Die Wahl dieses theoretischen Rahmens ist sicher nicht rechtfertigungs-, aber doch vielleicht erklärungsbedürftig. Die philosophische Anthropologie muss sich nicht nur immer wieder gegen den Vorwurf eines häufig kulturkonservativen Zuschnitts verteidigen. Seit Adorno steht sie darüber hinaus im Verdacht, die Schutzlosigkeit des Individuums zu einer invarianten „qualitas humana“ zu verbrämen, um hiervon ausgehend dann ihre These einer biologischen Notwendigkeit von Kultur zu begründen (vgl. Adorno 2003, S. 130 sowie – als Entgegnung – Gamm 2015). Dem steht allerdings die Tatsache gegenüber, dass Plessners frühe Schriften zur Leiblichkeit des Menschen (die „Ästhesiologie“ [1923] sowie vor allem die „Stufen des Organischen“ [1928]) im Zuge der ab dem Jahre 2000 an Fahrt aufnehmenden Gehirn-Geist-Körper-Debatte sowie der aktuellen Verkörperungs-Theorien eine gleichermaßen komplexe wie auch subtile Argumentationsgrundlage darstellen, um beispielsweise der Fixierung der Neurowissenschaften auf zerebrale Repräsentationsmodelle begegnen zu können. Ein musikpädagogisches Interesse an Plessner[1] muss bei seinem Leib-Verständnis ansetzen – und nicht bei seinen musikbezogenen Texten, die in ihrer teilweise unreflektierten Zurückweisung avantgardistischer Tendenzen in der Tat negativ mit dem Begriff des Kulturkonservativismus‘ etikettiert werden können. Ich werde mich zunächst mit Plessners Leib-Körper-Konzeption (2.1) auseinandersetzen, um hiervon ausgehend dann die zentralen Begriffe der „Grenze“ sowie der „Positionalität“ (2.2) zu erläutern. Das auf diese Weise entfaltete philosophische Panorama soll dann im dritten Abschnitt dieses Beitrages auf unsere Ausgangssituation angewendet werden.
2.1 Leib-Körper
Die Überwindung des Cartesianischen Dualismus ist ein Anliegen, das Plessner mit vielen seiner philosophierenden Kollegen der 1920er Jahre – Husserl, Heidegger, Scheler, um nur einige zu nennen – teilt. Sein Lösungsansatz geht dabei weder in die Richtung eines transzendentalen Idealismus, eines monistisch-naturwissenschaftlichen Materialismus noch schließlich – trotz aller Nähe zu Husserl – in eine phänomenologische Richtung. Wie Heidegger geht Plessner davon aus, dass das menschliche Dasein „sich immer schon vorweg ist, wenn es erlebend bei dem oder jenem ist, mit dem wir gerade zu tun haben« (Misch 1994, S. 339). Während Heidegger den Umstand, dass das Dasein nicht Herr im eigenen Haus ist (und deswegen auch nicht Subjekt genannt werden darf), als „Geworfenheit“ zu fassen versucht, spricht Plessner mit einer ganz ähnlichen Zielsetzung von „Gesetztsein“, und rührt damit an die Tatsache, dass sich der Mensch in den beiden Erscheinungsweisen seines Körpers, also sowohl im „Leib“, der er istals auch im „Körper“, den er hat, immer schon vorfindet.
Plessners bereits 1928 formulierte Unterscheidung zwischen Leib-Sein und Körper-Haben (Plessner 1980–85, GS IV) läuft jedoch weder auf ein dualistisches Gegenüberstehen zweier gegensätzlicher Pole noch auf deren Aufhebung in einem Dritten noch schließlich auf eine Überwindung des Körpers in der Utopie einer unentfremdeten Leiblichkeit hinaus. Seine Philosophie ist, wie Heinz-Peter Krüger feststellt, eine Philosophie der „Differenz“ – und darin besteht ihre neu zu entdeckende Aktualität gerade auch für das musikpädagogische Nachdenken. „Differenz“ bedeutet, dass der Gegensatz zwischen Körper und Leib nicht geschlichtet, sondern als unauflösbare Korrelation begriffen wird, die stets neu gestaltet werden muss. Für die Art und Weise dieser Gestaltung kommt Plessner immer wieder auf den Begriff des „Spiels“ zurück, der, wie wir sehen werden, für ein Verständnis von Yussufs Performance von großer Bedeutung ist. Differenz bedeutet aber auch, dass die beiden vermeintlichen Kontrahenten – Leib und Körper – sich in ihrer Gegensätzlichkeit überhaupt erst gegenseitig hervorbringen, wobei die begriffliche Rekonstruktion dieses Gegensatzes lediglich das feststellt, was im Akt der Anschauung selbst bereits schon in Anspruch genommen wurde.
Inwieweit, so wäre also zunächst zu fragen, ist uns bereits in unserer Anschauung die Differenz zwischen Leib und Körper gegeben? Als Leib lässt sich mit Plessner diejenige Verfasstheit bezeichnen, in der sich unser eigener Körper von jedem anderen Körper in der Welt unterscheidet. Er bezeichnet jene besondere Zuständlichkeit, in der wir unseren Körper als unseren Körper erleben – als etwas, das untrennbar zu uns gehört und das wir unmittelbar empfinden und bewegen können. Dadurch, dass er zu uns gehört, steht er in aller Regel auch außer Frage: wir sind uns unseres Leibes oft gar nicht bewusst, weil wir zumeist aus ihm heraus agieren. Das ändert sich jedoch in dem Moment, in dem wir beispielsweise eine komplexe spieltechnische Bewegung am Instrument oder eine neue Sportart erlernen wollen. Ein häufiger Aneignungsweg besteht in diesen Fällen in der Einschaltung des Bewusstseins, durch das die fraglichen Körperteile, die diese Bewegungen ausführen sollen, nun zu Objekten werden, die wir willentlich manipulieren können, um unser Ziel zu erreichen. Wobei wir dann manchmal die durchaus frustrierende Erfahrung machen, dass es Menschen gibt, die dieselbe Bewegung bereits derart integriert haben, dass sie gar nicht wissen, worin unser Problem eigentlich besteht. Bei ihnen ist sie zum Teil ihres Leibes geworden. Allerdings werden auch diese Menschen diese Bewegung irgendwann einmal erlernt und dabei zumindest ansatzweise eine Körper-Einstellung eingenommen haben. In dem wünschenswerten Fall, dass auch wir diese Bewegung einmal automatisiert haben werden, ist ein Integrationsprozess abgeschlossen, in dem das, was zuvor Körper war, nun in ein leibliches, untrennbar zu uns gehörendes Vermögen zurückverwandelt worden ist.
Als Leib können wir unsere Aufmerksamkeit, ganz wie in der Körper-Einstellung, zwar ebenfalls willentlich auf bestimmte Bewegungen richten – z.B. können wir beschließen, heute einmal mit dem anderen Fuß aufzustehen. Wir müssen dies aber nicht, der Vorgang unseres Aufstehens würde auch ohne diese Entscheidung funktionieren. Im Gegensatz dazu erscheint die Körper-Einstellung, in der ein Wechsel zu einer Objektperspektive erfolgt, als etwas gleichsam Notwendiges, ohne dass wir bestimmte Ziele nicht erreichen können.
Allerdings gibt es auch Fälle, z.B. heftige Schmerzen, in denen der Leib als Ganzer hervortritt und nun „weder der selbstverständliche Mitspieler noch derjenige Mitstreiter [ist], der sich mit eingespielter Leichtigkeit unserem Wollen fügt. […] Die Unmittelbarkeit des Leibes kann uns verschlingen, wenn sie für uns unbedingt wird, d. h. durch keine gegensinnige Verkörperung mehr bedingt werden kann“ (Krüger 2000, S. 294).
Stellen wir uns nun vor, dass ich mit meinem spieltechnischen Problem in den Instrumentalunterricht komme, in der Hoffnung, aus dem Munde meines Lehrers ein passendes Rezept zu empfangen. Hier offenbart sich nun ein weiterer Aspekt des Körper-Habens. Die Lehrkraft wird sich meine Bewegungen genau ansehen und dabei überlegen, welche Empfehlung sie geben könnte. Nicht ohne Grund habe ich gerade den Konjunktiv benutzt – denn Plessner würde in diesem oder vergleichbaren Fällen von einem „kategorischen Konjunktiv“ sprechen (vgl. Plessner 1980–85, GS VIIIb). Auf Seiten der Lehrkraft erfolgt nämlich ein Abwägen, welche der Empfehlungen, über die sie verfügt, für meinen besonderen Fall die erfolgversprechenden sein könnten. Ohne dass sie sich darüber Rechenschaft ablegen müsste, geht sie in diesem konjunktivischen Zustand von einer doppelten Bedeutung des Wortes „Ich“ aus: Sofern sie bewährte Rezepte parat hat, so beziehen sich diese Tipps notgedrungen auf ein kollektives „Ich“, das sie an meiner Statt einsetzt. Sie betrachtet mich also unter dem Blickwinkel anderer möglicher „Ichs“, denen ihr Tipp in der Vergangenheit geholfen hat; zum anderen muss sie sich die Frage stellen – und daher der Konjunktiv – , ob dieser Tipp auch in meinem besonderen Fall helfen könnte; und in dieser Besonderung erscheint „Ich“ dann als ein einzigartiges und nicht austauschbares Individuum.
Auch meine Aneignungsversuche werden nun im Zeichen dieser beiden „Ichs“ stehen. Nicht nur die Lehrkraft, sondern auch ich muss nämlich prüfen, ob und inwieweit sich die an ein kollektives Ich gerichteten Bewegungsempfehlungen auf meinen speziellen Fall anwenden lassen, inwieweit also der Tipp also mir ganz persönlich helfen könnte. Während die Rolle des kollektiven Ichs dazu führt, dass ich mich unter dem Gesichtspunkt des Körpers betrachte – ich versuche eine von außen an mich herangetragene Bewegung umzusetzen und mache mich damit zu einem verallgemeinerbaren Ich –, so meldet sich mein Leib immer dann, wenn mein unverwechselbares Ich gegen den kollektiven Vereinnahmungsversuch protestiert und mir signalisiert, dass „es“ noch nicht passt.[2]
Bereits hier kann man sehen, dass nichts falscher wäre als die von Christoph Stange geäußerte Annahme, dass mit dem Leibsein bei Plessner „Natur verknüpft“ sei und das Körperhaben dementsprechend auf der Seite der „Kultur“ zu verorten wäre, was dann zu der Aufgabe führe, „einen Ausgleich zwischen den beiden Modi des Leib-Seins und des Körper-Habens zu finden“ (Stange 2018, S. 41 ).[3] Nicht weniger als vier Gründe sprechen gegen diese Sichtweise: Erstens ist das, was uns als Leib entgegentritt ja auch bei Plessner immer schon das Ergebnis vorgängiger Ein-Körperungen. Den Leib als Naturzustand gibt es schon beim Säugling kaum, ganz sicher aber nicht mehr beim Kleinkind ab dem Zeitpunkt des Spracherwerbs, denn hier wird nach und nach die Fähigkeit erworben, beide Formen des „Ichs“ zu verwenden. Daher bezeichnet Plessner als „die wahre crux der Leiblichkeit […] ihre Verschränkung in den Körper“ (Plessner 1980–85, GS III, S. 368). Das Kleinkind erlernt durch die Sprache jene „Elementarrolle“, die die Grundlage für das die menschliche Existenz prägende Spiel zwischen Leib und Körper bildet.[4]
Zweitens, und das besagt der Differenzbegriff, geht es bei Plessner gerade nicht um einen Ausgleich, sondern um die These eines unabschließbaren Spiels zwischen beiden Körperformen: Leib und Körper werden nicht, wie die Vokabel des „Ausgleichs“ impliziert, versöhnt oder befriedet, sondern positionieren sie sich in einem „Spielraum“, der sie als getrennte miteinander verbindet und dabei zu stets neuen Konfigurationen nötigt. Drittens versucht Plessner, wie gleich noch genauer gezeigt werden soll, seine kultursoziologischen Postulate auf eine anthropologische Grundlage zu stellen und die Fähigkeit zur kulturellen Distanznahme als folgenschweres Ereignis im Prozess der Menschwerdung auszuweisen, wodurch eine Gegenüberstellung von Natur und Kultur hinfällig wird. In diesem Zusammenhang wird, viertens, auch offenbar werden, dass die Leiberfahrung kein primärer Urzustand ist, sondern auf die vorgängige Erfahrung des Körper-Habens angewiesen ist. Im Gegensatz zu Heidegger, der erst den Leib und davon abgesetzt den Körper als „sekundäres Distanzphänomen“ denkt, geht Plessner den umgekehrten Weg: „Erst Körper, dann Leib. […] Der gleichsam öffentliche […] Blick auf den ferngestellten […] Körper […] denkt Leiblichkeit als privative Erfahrung des Menschen“ (Fischer, 2000, S. 286) – als einen Zustand also, der sich in seiner Eigenheit und Nicht-Zurückführbarkeit auf kollektive Einschreibungen erst dort enthüllt, wo der Körper, den man hat, entweder als Zumutung für den Leib empfunden wird oder aber in dem der Leib als ein überschießendes, durch den Körper nicht mehr zu bändigendes Potenzial hervortritt (z.B. in den Zuständen heftigen Schmerzes oder der erotischen Ekstase). Wegen dieser zum Menschsein gehörenden leibhaften Zuständlichkeiten ist der Spielraum, in dem das „Spiel“ zwischen Leib und Körper ausgetragen wird, für Plessner nicht unendlich, sondern begrenzt (vgl. hierzu Plessner 1980–85, GS VII, S. 201–388).
So lange wir uns aber innerhalb dieses Spielraums bewegen, sind wir immer „Schauspieler“: Wie diese spalten wir uns in die Ich-Rolle, die uns gesellschaftlich zuerkannt oder anempfohlen wird und in ein privatives Ich, das diese Rolle spielen muss. „Es ist das Spielen in und das Schauspielen mit der Elementarrolle“, so formuliert es Hans-Peter Krüger in einer treffenden Zusammenfassung des Plessner’schen Gedankenganges, das uns zu unserem eigenen Doppelgänger macht, phänomenal in der Ausbalancierung beider Aktivitätsrichtungen nach außen und innen zugänglich“ (Krüger 2000, S. 300). Spielen in der Rolle besagt: Wir identifizieren uns mit den gesellschaftlich vorgegebenen Rollenangeboten und verschränken damit Leib und Körper so vollständig, dass wir ganz und gar in der Rolle des Schülers, der Ehefrau, des Richters oder eben des Rockmusikers aufzugehen scheinen. Gleichzeitig aber haben wir auch die Möglichkeit, mit der Rolle zu spielen. Das ist augenscheinlich bei Yussuf der Fall, der ja kein „echter“ Rockmusiker ist, sondern nur so tut als ob. Das Lachen der Kinder und seine augenscheinliche Freude daran, zeigen, dass der Reiz der Situation nicht allein im Spielen der Rolle besteht, sondern gleichzeitig in der Tatsache, dass dieses Spielen „nur Spiel“ ist. Im Grunde erleben wir in dieser Szene ein doppeltes Schauspiel: Yussuf, der so spielt, so wie es Rockmusiker eben tun, und Yussuf, der dieses Spielen spielt. In diesem doppelten Spiel verschränken sich Identifikation und Distanznahme. Plessner spricht hier vom Übergang des Rollenspiels hin zum „Schauspiel der Rolle.“ Die Distanz, die dadurch zwischen Rolle und Rollenträger gesetzt wird, führt einerseits dazu, dass die Rolle selbst als veränderbar erscheint. Denn nun ist es nicht die Rolle, sondern der Rollenträger (in unserem Falle Yussuf), der über den Ort und Zeitpunkt der Darbietung entscheidet; zugleich eröffnen sich Möglichkeiten, bestimmte Aspekte der Rolle zu akzentuieren, andere hingegen nicht.
Mit dieser Idee eines Auseinandertretens von Rolle und Rollenträger bezeichnet Plessner bereits 1960 (und in den gedanklichen Grundlagen bereits Ende der 1920er Jahre) ein Motiv, das in durchaus vergleichbarer Form in den postcolonial studies – und hier insbesondere in Homi Bhabhas Theorie des Dritten Raums – aufgegriffen und fortgeführt wird, ohne dass dabei allerdings auf Plessner Bezug genommen würde (Bhabha 2000).[5] Ebenfalls große Überschneidungen bestehen zwischen Plessners Differenzierung zwischen Leib und Körper und der sozialpsychologischen Unterscheidung zwischen „I“ und „Me“ bei George Herbert Mead. Allerdings geht Plessner insofern über die genannten Entwürfe hinaus, als das Auseinandertreten in Leib und Körper von ihm nicht allein als kultursoziologischer Gegenstand bearbeitet, sondern als Folge einer fundamentalen und damit ahistorischen anthropologischen Weichenstellung ausgewiesen wird, wobei er die biologische Grundlage seines Ansatzes ihrerseits philosophisch zu fundieren versucht. Diese Weichenstellung bündelt sich in seiner Vorstellung von der „exzentrischen Positionalität des Menschen“, die an dieser Stelle zumindest umrisshaft angedeutet werden soll, weil sie insbesondere für die uns im Schlussabschnitt beschäftigende Frage nach einer Veränderbarkeit von Kulturen – und damit auch von Lernkulturen – von Bedeutung ist.
2.2 Exzentrische Positionalität
Wie zu sehen war, erhebt Plessner den notwendigerweise doppelt zu konnotierenden Leib-Körper zu einer sowohl sinnlich-rezeptiven als auch deutend-reflektierenden Grundeinheit. Diese Grundeinheit steht – und hier bezieht Plessner eine Position, die sich von den Paradigmen etwa des späteren Konstruktivismus deutlich unterscheidet – in einem nicht zu nivellierenden Kontakt mit der sie umgebenden Außenwelt. Eine wichtige Rolle für sein Verständnis des Leib-Körpers spielen die Sinne, die auf der einen Seite Informationen aus der Außenwelt aufnehmen, diese aber andererseits in spezifische und qualitativ deutlich voneinander unterschiedene Empfindungen übersetzen, was dann – als Response – zu motorischen Reaktionen im Organismus führt. Während es für den Konstruktivismus, zumindest in seiner radikalen Variante, keine direkte Interaktion zwischen Außenwelt und interner Informationsverarbeitung geben kann, sondern lediglich biochemische Zustandsveränderungen innerhalb eines Organismus, auf deren Grundlage dieser dann seine autopoietisch erfolgende Informationsverarbeitung steuert[6], werden die Sinnesorgane von Plessner als „Mittel der verhaltensorientierenden Steuerung der Lebensprozesse“ begriffen (Holz 2003, S. 89). Die Sinne bilden eine nicht zu hintergehende „Nutzeinheit“, deren Leugnung auf einen nicht weiterführenden Solipsismus hinauslaufen würde:
„Wie groß die Abweichungen unserer sinnlichen Eindrücke von der Wirklichkeit an sich sein mögen, darüber gibt dieses Prinzip der Nutzeinheit der Sinne keine Auskunft. Es bestimmt gewissermaßen nur eine untere Schwelle möglicher Abweichungen, unter welche nicht gegangen werden kann, wenn aus der Diskrepanz zwischen Eindruck und Wirklichkeit dem Organismus keine Schädigungen erwachsen sollen. Immer bleibt dem Sinnenleben eine gegenständliche, eine wirklichkeitskündendeFunktion gewahrt, die der Organismus zur Anpassung an sein Lebensmedium braucht.“ (Plessner 1980–1985, GS III, S. 39f., Hervorhebung W.L.).
Mit der Aufwertung der Sinnlichkeit geht bei Plessner der entscheidende Begriff der Grenze einher. Die Sinne führen ebenso nach „draußen“ wie sie ein Einfallstor für das sind, was „von draußen“ kommt. Wo sich diese beiden Richtungen kreuzen, entsteht eine Grenze, die für Plessners Verständnis des Leib-Körpers essentiell ist. Organische Lebewesen, werden nicht durch ein inneres „Bewusstseinszentrum“ oder dergleichen bestimmt, sondern durch jenen Grenzpunkt, an dem sich ein „Drinnen“ von einem „Draußen“ scheidet. Man kann sich das gut am Vergleich mit anorganischer Materie verdeutlichen: Ein Stein bleibt ein Stein, auch wenn man ein Stück von ihm abschlägt, also seine Grenze verletzt – die Grenze wäre für Plessner hier lediglich eine „Begrenzung“.
„Für das Lebewesen bedeutet die Verletzung seiner Körpergrenze [hingegen] einen, vielleicht gar tödlichen, Eingriff. Das heißt: Das Lebewesen setzt seinen Körper als eine Ganzheit, an dieser Grenze behauptet es sich als Individuum, an ihr vollzieht sich seine Begegnung mit der Umwelt als Abwehr und Rezeption, als Austausch in Aktivität und Passivität – welch letztere dann selber eine Art von Aktivität des Organischen, nämlich Perzeptivität ist.“ (Holz 2003, S. 126)
Der Begriff der Grenze besagt nun aber zugleich, dass das jeweilige Lebewesen immer schon über die Grenze hinaus ist – was durch eine Grenze gesetzt wird, steht bereits in Kontakt mit dem Anderen, von dem es sich abgrenzt.
Der Begriff der Grenze bereitet den Boden für einen weiteren Zentralbegriff, den der Positionalität (Plessner 1980–85, GS IV, S. 184ff.). Mit ihm will Plessner zum Ausdruck bringen, dass sich Lebewesen vor jeglicher Bewusstseinsleistung immer schon als „gesetzte“ vorfinden und in dieser Setzung notwendig auf das, was jenseits der sie konstituierenden Grenze liegt, bezogen sind. Mit der passivischen Formulierung „gesetzt“ wertet Plessner die aus der idealistischen Philosophie (Fichte, Schelling, Hegel) übernommene Vorstellung von „Setzung“ ins Gegenteil um. War „Setzung“ z.B. bei Fichte eine Tathandlung, in der sich ein zunächst unbestimmtes Ich aktiv als intelligibles Subjekt setzt, so erscheint sie bei Plessner nun als ein Zustand, in dem sich ein menschliches Wesen immer schon vorfindet. Ähnlich wie für Heideggers „Geworfen-Sein“ ist das Gesetztsein des Menschen ein fundamentaler Tatbestand, auf dessen Grundlage sich überhaupt erst ein Ichbewusstsein herausbilden kann. Zugleich impliziert die Erfahrung des Gesetztseins notwendigerweise die Begegnung mit einem Anderen, das dem eigenen Gesetztsein gegenübersteht. Ein sich als gesetzt erlebender Körper erfährt zugleich, dass seine an ihn angrenzende Umgebung nicht zu ihm gehört. Anders als anorganische Materie, die die Erfahrung des Gesetztseins nicht kennt, bezeichnet Positionalität daher immer auch ein Gesetzt-Sein gegen die Umwelt. Mit dem Begriff der Positionalität führt Plessner also „vor dem setzenden Ich des Idealismus ein eigendynamisches ‚Es‘ ein, das sich grenzrealisierend in Bezug auf Anderes hält“ (Fischer 2000, S. 274). Der Bezug auf Anderes bedeutet, „dass das Lebewesen nicht nur, wie der Körper anorganischer Materie, ‚an einer Stelle‘ ist, sondern das außer ihm Seiende in sein eigenes Sein hineinzieht“ (Holz 2003, S. 95, vgl. auch Plessner 1980–85, GS IV, S. 186f.).[7] Um Leib werden zu können, muss ein menschliches Wesen zuvor als Körper gesetzt sein und in einer Grenzbeziehung zu anderen Körpern stehen.
Organische Lebewesen bilden diese Positionalität in unterschiedlicher Form aus. Während Pflanzen für Plessner durch eine offene Form gekennzeichnet sind, durch die sie einseitig den Einflüssen der Umwelt ausgesetzt sind, ohne aktiv auf sie einwirken zu können, weisen Tiere eine geschlossene Form auf: Zwar sind sie in allen ihren Lebensäußerungen wie die Pflanze ihrer Umgebung eingegliedert (wenngleich nur noch mittelbar), dennoch können sie als selbständige Akteure mit ihrer Umwelt in Kontakt treten. Dem Menschen allein ist eine „exzentrische“ Positionalität vorbehalten. Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist er in der Lage, sich selbst zum Gegenstand zu machen, d.h. außer sich zu treten, um sich von dort aus zu verorten. Das Mensch genannte Ding ist fähig, „sich von sich zu distanzieren, zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen. Dann ist es diesseits und jenseits der Kluft, gebunden im Körper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos außer aller Bindung von Raum und Zeit, und so ist es Mensch“ (Plessner 1980–1985, GS IV, S. 290). Exzentrische Positionalität ist, so formuliert es Plessner in einer frühen Schrift, das „Stehen des ‚Ich ́ im ‚Es ́“ (Plessner 1980–85, GS I, S. 140, vgl. auch Fischer 2000, S. 276). Anders formuliert: Der Grenzort, von dem aus der Mensch sich selbst reflexiv wahrnehmen kann, steht notwendigerweise mit einem Bein im Seinsbezirk des sich ihm prinzipiell entziehenden „Lebens“. Dieses Leben, das nicht nur das ortlose, sich an einem „Subjekt“ brechende Außen umfasst, sondern gerade auch die Diskontinuität zwischen dem Außen und dem ihm durch die Grenze entgegenstehenden Leibkörper umfasst, lässt sich nicht feststellen – und muss doch immer neu festgestellt werden.
An dieser Stelle schließt nun Plessners Kulturbegriff an. Entscheidend ist dabei die Vorstellung von Kultur als einer „künstlichen Horizontverengung“ (Plessner 1980–85 GS VIIIa, S. 189). Die für die Menschen charakteristische Ortlosigkeit – das Stehen im „Es“ des Lebens, das sich jeglicher Fixierung entzieht – zwingt sie dazu, zueinander und in ihrem Bezug zur Welt eine „Vertrautheitszone“ zu schaffen (Fischer 2000, S. 282). Um die Ortlosigkeit zu kompensieren und die ins unbehauste Außen weisende Grenzposition aushalten zu können, ist der Mensch zur Kultur verurteilt. Das Außen muss besiedelt werden.
„Menschliches Leben wird von Plessner als ‚exzentrisch‘ zu sich selbst stehend gedacht, als eines, das sich selbst objektiviert, auf sich reflektiert, sich imaginiert; als eines, das symbolische Bilder von sich selbst entwirft, die jedoch seiner Potentialität nie gerecht werden. Stets nur vorläufig, weil stets zu eindeutig bestimmt, kann es sich in seinen Ausdrücken erkennen“ (Delitz 2019, S. 628).
Kultur als Vertrautheitszone bedeutet, dass Menschen in ihrem Zusammenleben die mit der exzentrischen Positionalität notwendig gesetzte Indirektheit und Vermitteltheit des Außenbezuges überbrücken, indem sie gemeinsame „Darstellungszonen“ schaffen, „durch die hindurch sie einander umweghaft begegnen“ (Fischer 2000, S. 282). Damit wird die Verdopplung in einen Leib, der untrennbar zu einem gehört und privativ auf sich zurückgeworfen ist, und einem Körper, der aus der Perspektive eines sozialen und kollektiven Ichs heraus dem Leib Identifikationsangebote macht, aus denen heraus ein Mensch sich selbst betrachten und begegnen kann, konstitutiv. In Kleiderordnungen und Rollenspielen, aber auch in Mimik und Gestik werden Nähe und Distanzen organisiert, die es dem Menschen ermöglichen, sich in seiner Ortlosigkeit einzurichten[8] – und dies immer unter dem Vorbehalt, dass die so errichtete Kultur in letzter Konsequenz kontingent ist. Die Art und Weise, in der Menschen die bereits im Vorgriff vom Außen geprägte Kontaktaufnahme von Innen nach Außen vollziehen, bezeichnet Plessner mitunter auch als „Haltung“ – und von hier ist der Weg nicht mehr allzu weit zu Bertolt Brechts Begriff des Gestus[9] oder auch zum Habitusbegriff Pierre Bourdieus, der ja ebenfalls von einer strukturiert-strukturierenden (also ebenso passiv-hinnehmenden wie aktiv sich vollziehenden) Grenzziehung geprägt ist – nicht umsonst heißt Bourdieus Hauptwerk im Originaltitel „La distinction“ –, durch die, jenseits der klassischen Subjekt-Objekt-Relation, Menschen eine milieuspezifische Identität gleichermaßen erhalten wie erwerben, und die sich auf die Bereiche des Denkens, Wahrnehmens, Handelns wie auch auf den Umgang mit dem eigenen Körper bezieht.
- Exzentrische Positionalität im Instrumentalunterricht
Und damit kommen wir wieder zu Yussuf. Ich habe oben die Hoffnung geäußert, dass uns Plessners Leib-Körper-Konzept, das sich in seinem Begriff der „exzentrischen Positionalität“ bündeln lässt, verstehen hilft, was in den beiden hier beschriebenen Situationen eigentlich vor sich geht und wie sich ihre Unterschiedlichkeit fassen lässt. Versuchen wir daher nun, den hier skizzierten anthropologischen Entwurf mit unserem Gegenstand in Beziehung zu setzen.
Blicken wir dabei zunächst auf Yussufs Eingangs-Performance: Yussuf agiert, wie zu sehen war, von einem imaginären Punkt aus, von dem her seine Stimme, Mimik, Gestik sowie sein Umgang mit dem Instrument einen spezifischen Sinn erhält. Für den Moment seiner Darbietung kreiert er einen musikalischen Zusammenhang, der ihm und seiner Gitarre bestimmte Rollenmuster und Verhaltensweisen zuweist. Seine exzentrische Positionalität führt ihn dazu, das jenseits seines Leib-Körpers gelegene Terrain, an das er durch die Grenzposition gebunden ist und das ohne kulturelle Besiedlung ein ortloses und unbehaustes Außen wäre, in einen vertrauten Bereich zu verwandeln, der ihm in doppelter Brechung (Spielen des Spiels) Selbstkonstitution und Handeln ermöglicht. Indem er sich als Rockgitarrist mit allen dazu gehörenden Attributen inszeniert, verwandelt er das Außen in eine „Darstellungszone“, die sein Agieren steuert und gleichzeitig auch implizite Rollenzuweisungen an seine Mitmenschen enthält (möglicherweise in Form der Erwartung, dass seine Selbstdarstellung auch den anderen Kindern ihre Rolle zuweist, z.B. als Publikum). Yussufs musikalisches Handeln würde aus der Perspektive von Plessners anthropologischem Entwurf also nicht so sehr seiner individuellen, ihn von anderen Kindern unterscheidenden Leiblichkeit entspringen, sondern seiner Fähigkeit geschuldet sein, ein spezifisches kulturelles Angebot des Körper-Habens zu imaginieren, von dem aus dann sein Leib-Körper und dadurch auch die Beziehung zu seinem Instrument einen spezifischen Sinn und eine besondere Qualität erhält. Im Moment der Performance ist die Grenze zwischen seinem Innen und dem von ihm erzeugten Außen nicht mehr nur eine natürliche, sondern zugleich auch eine künstliche, weil das, was jenseits von ihr liegt, nun auf eine spezifische Art und Weise besiedelt worden ist. Plessner würde von einer „natürlichen Künstlichkeit“ sprechen (Plessner 1980–85, GS IV, S. 383ff.).
Es wäre somit unzutreffend, Yussufs Körperlichkeit und seine Beziehung zum Instrument als Ausdruck einer ihm als Subjekt angehörenden Lockerheit, Fantasie, Kreativität oder Begabung zu verstehen. Vielmehr ist sie das Resultat einer zwar von ihm imaginierten, aber doch außerhalb seines Leibes liegenden Umwelt – das Spielen der Rockgitarristen-Rolle setzt nun einmal voraus, dass es in der Welt echte Rockkgitarristen gibt. Zwar spielt Yussuf mit dieser Umwelt, indem er sie aufruft, doch die Regeln des Spiels sind nicht vollständig seinem Belieben anheimgestellt. Würde man die Gelöstheit seiner Körperbewegungen unter musikphysiologischen Bedingungen analytisch untersuchen und sich bemühen, sie auf einen anderen kulturellen Kontext anzuwenden (z.B. auf sein Musizieren des ihm fremden Liedes „Bunt sind schon die Wälder“), wäre ein Scheitern durchaus möglich, weil der entscheidende Grund seiner Gelöstheit, die Bezogenheit auf einen Zusammenhang stiftenden Ort als äußerem Zentrum seines Handelns wegfiele.
Auch die eigentliche Unterrichtsstunde lässt sich unter dem Gesichtspunkt eines durch die exzentrische Position geforderten Rollenspiels verstehen. Auch hier lässt sich eine natürlich-künstliche Grenzziehung erkennen, von der aus dann das Handeln der Akteure seinen spezifischen Sinn empfängt. Allerdings manifestiert sich der durch die Grenzziehung gestiftete kulturelle Kontext nicht, wie zuvor die Rockmusik, als ein musikalischer Sinnzusammenhang, der in einer außeralltäglichen Performance bewusst aufgerufen wird, sondern eher als Ausprägung einer bestimmten musikalischen Lernkultur, innerhalb derer die musikalischen Sinnzusammenhänge dann auf eine ganz spezifische Weise in Erscheinung tritt. Auch diese Lernkultur lässt sich als eine spezifische Besiedlung des Außenbereichs fassen und auch sie hat Auswirkungen auf die innere Konstitution (und damit auf die leibkörperliche Verfasstheit) der Lernenden. Dabei ist sie keineswegs eine individuelle Erfindung bzw. Setzung der Lehrkraft. Vielmehr bezieht sich der unterrichtende Student auf eine historisch gewachsene und ihm gleichsam selbstverständlich erscheinende Vorstellung bezüglich des Wesens instrumentaler Lehr-Lernprozesse. Und diese von ihm aufgerufene Vorstellung wird, inklusive der damit verbundenen Rollenzuweisungen, von den SchülerInnen mehr oder minder freiwillig geteilt oder zumindest mitgetragen.
Was zeichnet diese Lernkultur aus? Charakteristisch ist zunächst, wie bereits angedeutet, die künstliche Setzung eines absoluten Nullpunkts. Der Unterricht wird vornehmlich als ein Gitarrenunterricht – und nicht als ein gemeinschaftliches Musizieren unter Zuhilfenahme eines Instruments – verstanden. Daher ist es nur folgerichtig, wenn als Zentralbestimmung davon ausgegangen wird, dass die SchülerInnen nicht Gitarre spielen können und im Unterricht daher mit den elementarsten Grundlagen begonnen werden muss. Das ist keineswegs eine Trivialität, sondern vielmehr eine bedeutsame Entscheidung, die sowohl von pädagogischen (1) als auch von instrumentalmethodischen (2) Prämissen getragen wird.
- Pädagogisch findet etwas statt, das für jede Form schulischen Lernens charakteristisch ist: In Bezug auf den Lerngegenstand wird in traditionellen Settings, die von inklusiven Aspekten unberührt sind, eine künstliche Gleichheit unter den SchülerInnen hergestellt – und das kann nur durch die Definition eines Null-Niveaus geschehen. Dieser Schritt ist nicht nur aus Gerechtigkeitserwägungen heraus notwendig (niemand soll zurückgelassen, keiner übervorteilt werden), sondern auch deshalb, weil erst durch die Setzung von Gleichheit individuelle Unterschiede legitimiert werden, die sich dann möglicherweise in Aussagen wie „Linda ist motivierter als Yussuf, Moritz ist begabter als Janine“ äußern. In derartigen Urteilen spiegelt sich eine latente Machthierarchie, wie sie kennzeichnend für all jene Lernsituationen ist, in denen formale Aspekte mit der ihnen innewohnenden Tendenz zu summativer Evaluation überwiegen. In ihnen wird die jeweilige Lehrkraft dazu ermächtigt, ein Urteil über Ungleichheit zu sprechen, was aber nur möglich ist, wenn zuvor von einer prinzipiellen Gleichheit ausgegangen wurde: Das Erziehungssystem, so Niklas Luhmann, „behandelt also Ungleiches als gleich, um die daraus entstehenden Ungleichheiten sich selbst zurechnen und mit den Mitteln seiner Selektionsverfahren markieren zu können. Das entspricht den Postulaten des Gleichheitsprinzips, die sich im 18. Jahrhundert durchgesetzt haben […|.“ (Luhmann 2002, S. 127) Durch das Aufrufen dieses Null-Niveaus werden bereits bestehende Körper-Leib-Verschränkungen auf Seiten der SchülerInnen vorübergehend ausgeklammert. Ihr Leib wird als gleichsam unbeschriebene Fläche verstanden, der eine Offenheit für den Prozess geführter körperlicher Einschreibungen unterstellt wird. Die in aller Regel unterschiedlich erfolgreichen Aneignungen der kulturell vermittelten Körper-Rollen ergeben dann eine „Ungleichheit“, die allerdings nicht als Argument gegen die vorangegangene Gleichheitsannahme zugelassen, sondern – im Gegenteil – funktional mit ihr in Beziehung gesetzt wird: Eben weil das Ausgangsniveau als gleich definiert wurde, hat der formale Unterricht das „Recht“, Leistungsungleichheiten festzustellen und zu bewerten.
- Diese Herstellung eines Null-Niveaus hat aber auch eine spezifisch instrumentalmethodische Seite, die sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Denn obschon auch die Instrumentalschulen des 18. Jahrhunderts selbstverständlich bei den „elementaria“ eines Instrumentes begannen (wo sonst?), so ist doch unübersehbar, dass der manuelle Umgang mit dem Instrument, den wir heute mit dem Begriff der „Technik“ belegen, nicht in ihrem Zentrum stand, sondern eher als notwendiges prolegomenon den „eigentlichen“ Lehrinhalten vorangestellt wurde. Und diese Inhalte bestanden im Wesentlichen in einer Anleitung zur angemessenen und korrekten Darstellungsweise der zeitgenössischen Musiksprache. Diese Sprache wurde aber, und das ist der entscheidende Differenzpunkt, nicht als „Fremdsprache“ über den Weg genauer Bewegungsanweisungen gelehrt, sondern vielmehr als etwas begriffen, das die Lernenden gleichsam selbstverständlich immer schon umgab und zu dem sie sich in ein unmittelbares Verhältnis setzen konnten. Es wäre deutlich zu kurz gegriffen, die immer wiederkehrenden Vergleiche zur gesprochenen Sprache, die die Lehrwerke etwa von Johann Joachim Quantz, Carl Philipp Emanuel Bach oder Daniel Gottlob Türk durchziehen, lediglich als Niederschlag eines von der Idee der Klangrede geprägten Zeitstiles zu lesen. Ebenso zentral ist die Gewissheit der Autoren, dass die zentralen Merkmale dieses Stils (vorrangig die Affekte und die syntaktisch-sprachliche Dimension der Musik) im sprachlichen und körperlichen Weltwissen der Lernenden bereits eine Entsprechung hatte und daher vor allem in eine systematisierte Form gebracht werden musste. Für die instrumentalpädagogische Lernkultur des 18. Jahrhunderts bildete der Leib, bündig formuliert, noch keine tabula rasa, die willfährig den entsprechenden Einschreibungen eines kollektiven Körper-Ichs zur Verfügung zu stehen hatte.
Das ändert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Wie ich anderer Stelle zu zeigen versucht habe (vgl. Lessing 2014), entsteht mit der Etablierung des Technikbegriffs zwischen 1820 und 1850 eine eigenständig instrumentale Sphäre, deren entscheidendes Kennzeichen in der Tatsache liegt, dass Phänomene, die zuvor noch als unmittelbare musikalische Ausdrucksqualitäten fungierten, nun mehr und mehr als Bewegungsanweisungen in Erscheinung treten, durch die der Körper zum Objekt werden konnte: War etwa der Begriff des „legato“ z.B. in der Klavierschule von Türk, noch ein reines Ausdrucksphänomen, das in einem Atemzug mit Bezeichnungen wie „lagrimoso“ oder „lamentoso“ genannt wurde[10], so wandelte er sich nun zu einem Begriff, der sowohl eine rein musikalische Bedeutung besaß als auch eine physiologisch beschreibbare Bewegungsform am Instrument beinhaltete.[11] Der Technikbegriff des 19. Jahrhunderts war von der Utopie getragen, dass es für musikalische Ausdrucksformen genaue bewegungsmäßige, eben „technische“ Entsprechungen gab, die sich mittels Analyse physiologisch beschreiben und daher auch erlernen ließen. Der Bereich der Technik etablierte sich damit als ein eigenständiges Äquivalent zur Dimension des musikalischen Ausdrucks.
Scheinbar paradoxerweise ging mit der Vorstellung einer prinzipiellen Lehrbarkeit auch noch der anspruchsvollsten spieltechnischen Phänomene gleichzeitig ein folgenschwerer Exklusionsprozess einher. In eben dem Maße, in dem alle nur erdenklichen musikalischen Erscheinungsformen in ihrer manuellen Ausführung als erklär- und damit lernbar dargestellt wurden, behauptete sich die Überzeugung, dass eine wahrhaftige künstlerische Darstellung nur wenigen Auserwählten vorbehalten sei. So kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – und in den Auswirkungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein! – zu einer eigentümlichen Verschränkung von inkludierenden und exkludierenden Tendenzen, die sich sowohl am Aufbau vieler instrumentaler Lehrwerke wie auch am Zuschnitt der akademisierten Musikausbildung beobachten lässt (vgl. Kingsbury 1988, Lessing 2017, Lessing & Stöger 2018). Während der Technikbegriff für den Aspekt des Körpers und der Gleichheit stand – durch eine gekonnte und progressiv voranschreitende Methodik wurde der Lehr- und Lernstoff als etwas begriffen, das im Grunde jedem zugänglich sein konnte –, wurde ihm nun strikt kontradiktorisch ein mit dem Leib verbundener Begabungsbegriff gegenübergestellt, durch den auf der Basis eben dieser Gleichheit eine extreme Ungleichheit erzeugt und praktiziert wurde. Niklas Luhmanns Hinweis auf die Dialektik des Gleichheitsprinzips (s.o.) macht deutlich, dass beide Aspekte nicht nur nebeneinander bestehen, sondern sich möglicherweise auch gegenseitig bedingen können.
Einerseits ermöglichte der Technikbegriff also die präzise Definition eines Null-Niveaus und die daran angeschlossene Vorstellung eines gestuften und „aufbauenden“ Lernwegs. Zum anderen wurde durch die ihm inhärente Idee einer prinzipiellen Lehr- und Lernbarkeit ein exkludierender Bereich erzeugt, der in Gestalt eines summativ zugesprochenen und unterrichtlich nicht beeinflussbaren Begabungsbegriffes all jene SchülerInnen von der „eigentlichen“ künstlerischen Betätigung ausschloss, die aufgrund fehlender anderweitiger Voraussetzungen (z.B. entsprechender familiärer Prägungen) lediglich auf die Lehrinhalte des Unterrichts angewiesen waren.
Eine von diesen Prämissen ausgehende Lehr-Lernkultur musste beträchtliche Auswirkungen auf die leib-körperliche Verfasstheit der SchülerInnen nach sich ziehen: Sie führte in ähnlicher Weise zu einer Haltung der immerwährenden Selbstbeobachtung und Disziplinierung, wie sie Michel Foucault auch in Bezug auf das Strafsystem des 19. Jahrhunderts beobachtet hat.[12] In einer Methodik, die die Entwicklung instrumentaler Kompetenzen vornehmlich als gestuften Aufbau von Bewegungen begreift, die als Äquivalente für die von ihnen repräsentierten musikalischen Ausdrucksphänomene dienen, verlagert sich die Perspektive von einer musikkulturell bereits besiedelten Außenwelt, die für die SchülerInnen einen immer schon eingekörperten Identifikationspunkt bildet, hin zu einer permanenten körperlichen Introspektion, die sich um die möglichst genaue Umsetzung der die Außenwelt repräsentierenden Bewegungsäquivalente bemüht. Die Außenwelt wurde also als direkter Bezugsrahmen zurückgedrängt, obschon sie in ihrer Funktion als „Urbild“ von Äquivalenten natürlich noch immer vorhanden war. Diese Entwicklung deckte sich mit der Tendenz zu einer zunehmenden Absonderung der SchülerInnen während des Übeprozesses, der nun vor allem als stundenlange Arbeit in der abgeschlossenen Übezelle begriffen und zudem noch durch die Entstehung eines eigens auf ihn zugeschnittenen und von vornherein nicht mehr für die Außenwelt bestimmten Übematerials stabilisiert wurde. Dieses zur Realisierung der Äquivalente notwendige Material besaß kaum mehr als eine Dienstleistungsfunktion, mit deren Hilfe sich korrekte Bewegungsausführungen erarbeiten ließen. Es wurde damit im Grunde austauschbar. Der an der Herausbildung von Äquivalenten orientierte instrumentale Lernprozess unterwarf sich dem Ideal einer weitgehenden Steuerbarkeit und lief in diesem Zuge Gefahr, all jene SchülerInnen zu exkludieren, die die andere Seite der Äquivalente (die musikalischen „Urbilder“, für die diese Äquivalente standen) nicht oder nur in geringem Maße verfügbar hatten.
Die Konsequenz dieser Entwicklung bestand in der Tatsache, dass der Raum zwischen Leib und Körper sich nicht mehr als ein ineinander verschränktes Wechselspiel entfalten konnte. „Die identitäre Auflösung der Differenz zwischen öffentlicher und privater Person in der ‚Feststellung‘ (F. Nietzsche) des menschlichen Wesens zum (vermeintlich durch Instinkte festgelegten) Tier“ (Krüger 2000, S. 302) führte zu einer Aushebelung des Spielbegriffs. Eine Körper-Leib-Interaktion, die sich nicht mehr im Raum zwischen vorgegebenen Rollenmustern und individuellen leiblichen Aneignungen befindet ‚„verunmöglicht das elementarste Spiel und ermöglicht dadurch Unmenschliches.“ (ebd.).
Die beschriebene Gitarrenstunde unseres Ausgangsbeispiels ist sicher weit davon entfernt, auf der expliziten Ebene derart exkludierend zu sein. Dennoch ist unübersehbar, dass auch sie in gewisser Hinsicht im Banne des hier beschriebenen neuzeitlichen Technikbegriffs steht. Natürlich ist nicht das Geringste dagegen einzuwenden, wenn GitarrenschülerInnen in den ersten Stunden mit den elementaren Grundlagen des Instrumentes vertraut gemacht werden. Wenn jedoch über eine Folge mehrerer Stunden hinweg alle musikalischen Impulse vorrangig mit dem Ziel erfolgen, die Gitarre korrekt zu halten, sie im richtigen Winkel zu zupfen und mit der linken Hand manuell saubere Griffkombinationen auszuführen, dann mutiert das dazu notwendige musikalische Material zu einer bloßen Hilfestellung, deren Funktion sich nahezu ausschließlich in der Realisierung mehr oder minder korrekter Bewegungsfolgen erschöpft.[13] Und selbst das in den hier beobachteten Stunden durchaus intensiv betriebene Singen und Solmisieren ist nicht unbedingt vor einer instrumentellen Zweckhaftigkeit gefeit, so lange sich nicht – um Plessners Gedankengang zur Anwendung zu bringen – das Gesungene für die SchülerInnen als Teil eines im Spiel von Leib und Körper zu besiedelnden kulturellen Außenbereichs darstellt. Ein derartiger Unterricht ist zwar nicht explizit exkludierend, prägt aber eine Lernkultur aus, die möglicherweise dazu führt, dass am Ende vor allem jene Kinder übrig bleiben, die einen bestimmten kulturellen Kontext bereits durch ihre Prägungen innerhalb der familiären Lernwelt derart verkörpert, d.h. in ihren Leib hineingeholt haben, dass sie die strikt instrumentenbezogene Methodik der Lehrkraft mit diesem Kontext in Verbindung bringen können. Yussuf gehört augenscheinlich nicht dazu.
Womöglich wäre Yussufs Lernweg ein ganz anderer, wenn seine rockmusikalischen Ambitionen im Unterricht direkt aufgegriffen würden, vielleicht durch eine Lehrkraft, die die von ihm aufgerufene Musizierattitüde in einer ihn überzeugenden Art und Weise verkörpert und die hiervon ausgehend mit ihm zusammen schrittweise die Möglichkeiten des Instrumentes so erkundet, dass der Kontakt zu dem rockmusikalischen Kontext gewahrt bleibt. Doch es wäre sicherlich keine sonderlich befriedigende Auskunft, den Erfolg von Instrumentalunterricht allein an der Frage festzumachen, ob derartig vorgängige Passungen bestehen oder nicht. Denn das würde bedeuten, den Instrumentalunterricht in seinem innersten Kern als exkludierend zu konzeptionalisieren. Zu klären wäre vielmehr, inwieweit die Lernwelt des Instrumentalunterrichts die Erschließung neuer kultureller Horizonte und damit die Herausbildung neuer künstlich-natürlicher Grenzziehungen ermöglicht, aus denen heraus Spieler und Instrument zu einer Einheit finden.
Diese Frage führt direkt in das Themenfeld des interkulturellen Musiklernens – ein Weg, der an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise beschritten werden kann. Anzumerken wäre freilich, dass sich eine Reihe von Ansätzen, die in jüngerer Zeit für den Bereich des schulischen Musikunterrichts entwickelt wurden, nur sehr bedingt auf den Instrumentalunterricht übertragen lassen. In Bezug auf Christopher Wallbaums Konzept „Musikpraxen entdecken und vergleichen“ (vgl. etwa Wallbaum 2013) habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht (Lessing 2018b), dass ein Unterricht, der – wie in Wallbaums Konzeption – die Erfahrung unterschiedlichster Praxen zum Gegenstand hat, implizit in der Pflicht steht, selber keine konkrete musikkulturelle Verortung zu besitzen, denn das würde die hegemoniale Einführung von als verbindlich angesehenen musikalischen Normen bedeuten, was in dieser Konzeption ja gerade vermieden werden soll. Wallbaum muss Musikunterricht vielmehr als einen neutralen Boden begreifen, auf dem die SchülerInnen dann exemplarisch mit unterschiedlichsten Praxen in Berührung kommen. Die Vorstellung einer derart neutralen Zone mag für den Bereich des schulischen Musikunterrichts vielleicht näher liegen als für den Instrumentalunterricht – wobei es auch hier kritische Gegenstimmen gibt (vgl. Blanchard 2019[14]). In Bezug auf den Instrumentalunterricht greift sie jedoch in jedem Fall ins Leere. Allein durch das Instrument und dessen jeweilige Spielweisen werden hier vorgängig kulturelle Kontexte aufgerufen, denen sich die Beteiligten nicht so einfach entziehen können. Und auch die scheinbar neutralen Werkzeuge, die der Instrumentalunterricht anbietet – zuvorderst das (Alleine-)Üben und die Technik – sind, wie zu sehen war, keinesfalls farblos-durchsichtiger Natur, sondern implizieren ein spezifisches Leib-Körper-Verständnis, das zwar hochgradig variieren kann, aber doch einen kulturell eindeutig fixierten Spielraum bezeichnet. Instrumentalunterricht führt nicht so sehr auf kulturelle Kontexte hin, sondern ist, ob er das möchte oder nicht, zunächst selber ein kultureller Kontext.
Ist damit aber gesetzt, dass die ebenso notwendige wie kontingente „Horizontverengung“ (Plessner) das letzte Wort behält? An anderer Stelle habe ich den Gestus des Instrumentalunterrichts mit dem Begriff des „In Empfang Nehmens“ zu bezeichnen versucht, (Lessing 2018b, S. 48), was etwas grundsätzlich anderes bedeutet, als die Allerweltsfloskel meint, die empfiehlt, die SchülerInnen „dort abzuholen, wo sie stehen.“ Mit Plessner lässt sich gut darstellen, was diesen Gestus ausmacht und wo seine Überschreitungspotenziale liegen. Dies sei abschließend zumindest umrisshaft skizziert.
An Yussuf ließ sich beobachten, dass seine Rollenübernahme des Rockgitarristen sowohl durch den Gestus des „Spielens in“ als auch des „Spielens mit“ charakterisiert war. Es spricht vieles dafür, diese Differenzierung auch als Leitvorstellung für die Entwicklung einer instrumentalpädagogischen Lernkultur in Anspruch zu nehmen. Als ein „Spielen in“ können wir ein Geschehen im Unterricht beschreiben, wenn die angebotenen Körper-Rollen, die immer die Setzung eines „kollektiven Ichs“ implizieren, so präsentiert werden, dass sie einen Spielraum für die Aneignungsweisen des individuellen Ichs lassen. Das „Spielen mit“ bezeichnet hingegen einen Unterricht, in dem diese Rollen selbst nur als Ausschnitte eines größeren Möglichkeitsspektrums in Erscheinung treten.
Konkret bedeutet das: Es ist absolut legitim, wenn ein Anfänger-Unterricht auf der Gitarre immer wieder auch aus einer „technischen“ Perspektive heraus erfolgt, die von einer Dominanz der körperlichen Selbstbeobachtung geprägt ist.[15] Allerdings ist darauf zu achten, dass diese Selbstbeobachtung sich nicht allein an vorgegebenen Kriterien bemisst, sondern die individuell-leiblichen Reaktionen auf die jeweiligen Inhalte berücksichtigt. Wenn Yussuf lustlos die leere D-Saite zupft und dabei ein Lied singt, mit dem er sich nicht innerlich verbinden kann, dann heißt das, dass die Aufgabe für ihn kein körperliches Identifikationsangebot bereithält, das ihm ein lustvolles Agieren in der Rolle ermöglicht. Sein Leib tritt hier im Modus der Langeweile in Erscheinung, ein „Spielen in“ ist nicht möglich. Vielleicht könnte durch eine Modifizierung der rhythmischen Vorgaben oder durch Yussufs eigene Mitarbeit an diesen Modellen ein Weg gebahnt werden, durch den er das kollektiv vorausgesetzte „Ich“ mit seinem Leib in eine spielerische Wechselbeziehung bringen könnte. Über dieses „Spielen-in“ ließe sich dann auch ein „Spielen-mit“ initiieren: Ein derartiges Spiel entstünde, wenn die Einstellung der körperlichen Distanznahme und der Selbstbeobachtung nur eine unter mehreren möglichen Rollen wäre. Gesetzt, das korrekte Zupfen einer leeren Saite erschiene nicht ausschließlich als äußerliche Handlungsanweisung, die durch Introspektion zu inkorporieren ist, sondern würde in Nachbarschaft zu Spielideen stehen, bei der es ein bedeutsames musikalisches Ereignis darstellt – z.B. im Rahmen eines an Cages „Number Pieces“ gemahnenden Spieles mit den Dimensionen Stille und Ereignis – dann stünden bereits zwei Rollenvorschläge im Raum, die sich beide wechselseitig beleuchten könnten, wobei der Wechsel der Perspektiven selber zu einem „Spielen im Spielraum“ würde.
In einem derartigen Unterricht würde ein „doppelte Als ob“ realisiert (vgl. Lessing 2019): So wie jedes intensive Musizieren dadurch gekennzeichnet ist, dass das Spiel Ernst ist (Spielen als ob es um die eigene Existenz ginge), so ist ein intensives Üben – und damit ist auch das gemeinsame Üben im Unterricht gemeint – keineswegs nur jene harte Arbeit, der das lustvolle Spiel kontradiktorisch gegenübergestellt ist. Vielmehr ist es ebenfalls von einem „Als ob“ geprägt, werden in ihm doch die vielfältigen Möglichkeiten und Alternativen, die im „echten“ Spiel (z.B. einer Konzertsituation) auf eine einzig denkbare reduziert werden müssen, in ihrer ganzen Vielfalt erkundet und erprobt. Dieses probeweise Erkunden, zu dem auch ein vielfacher Wechsel unterschiedlicher Körpereinstellungen gehören kann, gelingt nur unter der Voraussetzung, dass die radikale Zuspitzung auf „die“ Lösung vorläufig ausgeklammert bleibt. Insofern steht jede der gerade erprobten Varianten unter dem Index des noch nicht Abgeschlossenen: Der Spieler tut für einen Moment so, „als ob“ die gerade erkundete Möglichkeit die einzig denkbare sei. Der Ernst des Spiels (beim Musizieren) steht damit in einer Differenzbeziehung zum Spielen des Ernstes (beim Üben), durch die ein Spielraum entsteht, der seinerseits bespielt werden kann.
„In Empfang nehmen“ im Instrumentalunterricht erfordert daher sowohl die Akzeptanz der durch das Instrument und seine Spielweise vorgängig implizierten Körper-Setzungen als auch die Nutzung und Entdeckungen der in diesen Setzungen verborgenen Spiel-Möglichkeiten, die sowohl als „Spielen-in“ wie auch als „Spielen-mit“ in Erscheinung treten können. Indem sich der Horizont des Unterrichts für diese Möglichkeiten öffnet, erweist er sich als potenziell veränderbar und damit zugleich auch als offen für bislang noch nicht betretene Räume. Denn beide Modi des Spiels widersetzen sich endgültigen Festlegungen. Sie bedürfen der vorgängigen Setzung, um sie als Spiel in den Stand der Vorläufigkeit zu setzen.
Michel Foucault hat einmal zwischen „realen“ und „utopischen“ Körpern unterschieden, die er korrelativ aufeinander bezog, da die Vorstellung eines „nur realen“ Körpers ein Phantom sei (Foucault 2005). In diesem Sinne wären die durch den Instrumentalunterricht eröffneten Räume als Orte zu verstehen, die man hat (im Sinne einer vorgegebenen Körperwelt des kollektiven Ichs) und zugleich – aufgrund ihrer im Spiel zutage tretenden Potenzialität – immer auch nicht hat. Vermittelt durch die Modi des „Spielens in“ und „Spielens mit“ kann ein Bereich entstehen, den Foucault als „Heterotopie“ bezeichnete. „In aller Regel“, so Foucault, „bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind“ (Foucault 2005, S. 14). Plessner hätte zweifellos zugestimmt.
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Richter, Christoph: Überlegungen zum anthropologischen Begriff der Verkörperung. Eine notwendige Ergänzung des Konzepts der didaktischen Interpretation von Musik. In: Schneider, R. (Hg.): Anthropologie der Musik und der Musikerziehung, (= Musik im Diskurs, Band 4) Regensburg 1987, S. 73–120.
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Rüdiger, Wolfgang: Über einen Ausspruch Ernst Blochs und über die so genannte Technik in der Musik. In: M. D. Loritz / A. Becker / D. M. Eberhard, et al. (Hg.): Musik – Pädagogisch – Gedacht. Reflexionen, Forschungs- und Praxisfelder. Festschrift für Rudolf-Dieter Kramer (= Forum Musikpädagogik, Bd. 100), Augsburg: Wißner 2011, S. 219–240.
Saxer, Marion: Spiel- und Übe-Anweisungen für motorische Automatisierungsprozesse beim Instrumentalspiel. Ergebnisse der Motorikforschung in der musikpädagogischen Diskussion. In: Ulrich Mahlert (Hg.): Handbuch Üben, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2006, S. 229—241.
Stange, Christoph: Verkörperung – Schwierigkeiten mit einem schillernden Begriff. In: Heß, F., Oberhaus, L. & Rolle, C. (Hg.) (2018): Zwischen Praxis und Performanz. Zur Theorie musikalischen Handelns in musikpädagogischer Perspektive (= Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik 2017). Münster: LIT-Verlag 2018, S. 37–62.
Türk, Daniel Gottlob: Klavierschule oder Anweisung zum Klavierspielen für Lehrer und Lernende, Faksimile-Reprint der 1. Ausgabe 1789, hg. von Siegbert Rampe. Kassel, Basel: Bärenreiter 1997.
Wallbaum, Christopher (2013): Das Exemplarische in musikalischer Bildung. Ästhetische Praxen, Urphänomene, Kulturen – ein Versuch. In: Zeitschrift für kritische Musikpädagogik (ZfKM) 2013, http://www.zfkm.org/13-wallbaum.pdf, S. 20–40.
Wulf, Gabriele & Prinz, Wolfgang: Bewegungslernen und Instruktionen. Zur Effektivität ausführungs- vs. affektbezogener Aufmerksamkeitsfokussierungen. In: Sportwissenschaft 2000 / 30(3), S. 289–298.
Wulf, Christoph: Das Rätsel des Humanen. Eine Einführung in die historische Anthropologie. München: Wilhelm Fink Verlag 2013.
[1] Dieses Interesse ist bislang noch unterentwickelt. Die wenigen musikpädagogischen Beiträge bzw. Anmerkungen, die es zum anthropologischen Ansatz Plessners gibt, sind entweder allgemein gehalten oder sie streifen nur Teilaspekte seiner Leibkonzeption (vgl. Richter 1987, 1993, Khittl 2007). Mitunter verfälschen sie sogar das Anliegen Plessners regelrecht (Stange 2018).
[2] Dasselbe noch einmal in den Worten Plessners: „Die Position des Menschen lässt sich durch Personalpronomina deklinieren, die, wie unschwer einzusehen ist, ein doppeltes Verständnis des Wortes Ich möglich machen. Ich kann mich zu anderen in ein konstantes Gegenüber bringen, in dem mir eine ausgezeichnete Stelle reserviert bleibt, die eben nur durch mich hic et nunc ausgefüllt wird. Insofern sind ‚Ich‹ und ‚Hier‹ äquivalent. Ich bezeichnet den Ort, von dem meine Impulse ausgehen und auf den hin alle Perspektiven konvergieren. Dieser abstrakte Tatbestand kommt dem Menschen […] konkret aber durch die eigene leibhafte Existenz zum Bewusstsein […] Mein Leib steht für Ich, das ich auf eine menschliche, eine unvertretbare Weise bin und das mir eine einzigartige Position verschafft. Dass sich aber diese Position als einzigartig darstellen kann, hebt sich offenbar von einem Hintergrund der Vertretbarkeit durch einen jeden, der in der nämlichen Position ist, ab. […] Einzigartigkeit artikuliert sich nur vor einem Hintergrund, der sie nicht kennt. Individuelle und generelle Subjektivität implizieren einander. Als Individuum unersetzbar, steht jeder Mensch in seiner möglichen Ersetzbarkeit. Er könnte, aber er kann nicht.« (Plessner 1980–85, GS VIIIa, S. 338–340)
[3] Diese unzureichende Darstellung des Plessner’schen Denkweges veranlasst Stange dann zu der kritischen Frage, wie sich bei Plessner Natur und Kultur unterscheiden ließen bzw. woran festzumachen sei, dass der Übergang zwischen beiden vollzogen sei (Stange 2018, S. 42f.). Diese Fragen erweisen sich als Folgen einer petitio principii: Man kann darauf lediglich antworten, dass sich für Plessner der Unterschied in dieser Form in der Tat nicht darstellen lässt, eben weil Leiblichkeit und Körperlichkeit so ineinander verschränkt sind, dass sie sich zu keinem Zeitpunkt voneinander trennen lassen. Mit Wulf kritisch anzumerken, dass es kein inneres Kriterium für die innerpsychische Identifizierbarkeit von inneren Entitäten und äußeren Ereignissen – mithin für eine trennscharfe Unterscheidung von Körper und Leib – gäbe (vgl. Wulf 2013, S. 30), ist zwar absolut korrekt, verkennt aber die eigentliche Pointe bei Plessner, der ja gerade nicht nach innerpsychischen Korrelaten sucht, sondern diese Korrelate von vornherein von der Grenze zum Außen her, mithin als Teil einer nicht eliminierbaren Differenzbeziehung, denkt.
[4] Für Stange ist Plessners Begriff der „elementaren Rollenhaftigkeit“ ein Hinweis dafür, dass der Aspekt einer Kulturalisierung mittels Sozialisation bei Plessner nicht nur fehlt, sondern von ihm geradezu bestritten wird (Stange 2018, S. 43). Auch das erweist sich bei näherem Hinsehen als untriftig. Die Tatsache, dass Menschen die Prozesse der Verkörperung (verstanden als differentes und performantes Spiel zwischen Leib und Körper), der Identifikation und der Personifikation „invariant gegenüber jeder Art von Gesellschaftsverfassung“ aufgegeben sind (Plessner 1976, zit. nach Stange 2018, S. 43), bedeutet noch lange nicht, dass sie sich nicht im Laufe der Ontogenese und im Rahmen einer ganz konkreten, wenngleich kontingenten Kultur herausbilden müssen.
[5] Für Bhabha wird die in „jedem performativen kulturellen Akt wirksame sprachliche Differenz […] auch in der geläufigen semiotischen Darstellung der Disjunktion zwischen dem Subjekt einer Proposition (énoncé) und dem Subjekt der Äußerung (enunciation) hervorgehoben, das in der Aussage nicht repräsentiert ist, in dem aber dennoch die diskursive Einbettung und Ausrichtung der Aussage, ihre kulturelle Positionierung, ihr Bezug auf eine gegenwärtige Zeit und einen spezifischen Raum zum Ausdruck kommt“ (Bhabha 2000, S. 55). Der Träger der Äußerung ist keineswegs – ebensowenig wie für Plessner der Leib – das „echte“ oder gar „befreite“ Subjekt. Er besitzt keinerlei Materialität und schon gar keine „Essenz“ (im Sinne von „Identität“), sondern ist vielmehr ortlos: Er bewohnt einen leeren Raum, der sich dem Blick der Mehrheit entzieht. Die „Identität“ des Kolonialisierten – und wohl auch des Migranten – ist daher doppelt, aber zugleich „weniger als eins“. Genau hierin besteht für Bhabha aber das Veränderungspotenzial des Dritten Raumes (vgl. hierzu auch Lessing 2018c).
[6] In den Worten Humberto Maturanas: „Es gibt außerdem keine Informationsverarbeitung, keine Errechnung des Verhaltens nach den Bedingungen einer Außenwelt, keine zielgerichteten Prozesse im Arbeiten des Organismus, es gibt lediglich Zustandsveränderungen des Organismus im Prozess der Verwirklichung seiner Autopoiese.“ (Maturana 1990, S. 109)
[7]„Als physischer Körper ‚ist‘ das Ding schon von sich aus, das Sein tritt ihm in keinem Sinne gegenüber oder hebt sich von ihm als Seiendem ab. […] Ein Lebewesen erscheint gegen seine Umgebung gestellt. Von ihm aus geht die Beziehung auf das Feld, in dem es ist, und im Gegensinne die Beziehung zu ihm zurück. […] In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität. Hierunter sei derjenige Grundzug seines Wesens verstanden, welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht“ (Plessner 1980–1985, GS IV, S. 184, 186, 184).
[8] Eine Ausnahme stellen hier Äußerungen wie Lachen und Weinen dar, denen Plessner eine eigene Schrift gewidmet hat. Plessner begreift sie als verselbständigte, also nicht mehr bewusst steuerbare Körperreaktionen, durch die die Ortlosigkeit der exzentrischen Positionalität hervortritt. Lachen und Weinen drücken diese Ortlosigkeit aus und fangen sie zugleich ab (vgl. Plessner 1980–85, GS VII, S. 201–388).
[9] Brecht bezeichnet „den Bereich der Haltungen, welche die Figuren zueinander einnehmen, [als] gestischen Bereich. Körperhaltung, Tonfall und Gesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen ‚Gestus‘ bestimmt. […] Zu den Haltungen, eingenommen von Menschen zu Menschen, gehören selbst die anscheinend ganz privaten, wie die Äußerungen des körperlichen Schmerzes in der Krankheit oder die religiösen.“ (Brecht 1949: § 61)
[10] Für Türk ist „legato“ ein „Kunstwort“, mit dessen Hilfe die „Bewegung und der Charakter eines Tonstückes [angedeutet wird], damit […] der Spieler wisse, […] wie er also seinen Vortrag […] einzurichten habe“ (Türk: Clavierschule, 1789).
[11] Diese Tendenz lässt sich ansatzweise bereits in der „Gründlichen Violinschule“ Leopold Mozarts beobachten, der in dieser Hinsicht als durchaus „moderner“ Autor gelten kann.
[12] „[Es geht darum], einen fein abgestimmten Zwang auszuüben; die Zugriffe auf der Ebene der Mechanik ins Kleinste gehen zu lassen: Bewegungen, Gesten, Haltungen, Schnelligkeit. Eine infinitesimale Gewalt über den tätigen Körper. […] Es geht nicht oder nicht mehr […] um die Sprache des Körpers, sondern um die Ökonomie und Effizienz der Bewegungen und ihrer inneren Organisation; der Zwang zielt eher auf die Kräfte als auf die Zeichen ab; die einzige wirklich bedeutsame Zeremonie ist die der Übung.“ (Foucault 1976, S.175). Diese Selbstdisziplinierung des eigenen Körpers ist ein bis weit ins 20. Jahrhundert – und zum Teilen sicher auch noch bis in die Gegenwart – hineinwirkendes „Geschenk“ des 19. Jahrhunderts, das weitaus wirkungsmächtiger ist als die z.T. drakonischen körperlichen Manipulationen, die vor allem in der Klavierpädagogik des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielten. Die aktiven und gewaltsamen Zurichtungen des Spielerkörpers mögen als Ausstellungsstücke im Gruselkabinett einer schwarzen Pädagogik durchaus reizvoll sein. Sie verdecken aber die weitaus subtilere Tendenz zur Dauerbeobachtung der eigenen Bewegungen, die das eigentliche, und noch immer nicht vollends bewältigte Erbe der Instrumentalpädagogik des 19. Jahrhunderts darstellt.
[13] Dass derartige Stunden keineswegs Einzelfall sind, sondern an deutschen Musikhochschulen mitunter sogar den Maßstab für „gelungene“ Lehrversuche bilden, dokumentiert Wolfgang Rüdiger sehr anschaulich:
„Der Schauplatz ist eine Violinlehrprobe mit einem 9-jährigen Schüler, der seit einem Jahr Geigenunterricht erhält. ‚Thema‘ und Lernziel der Stunde ist die ‚Stabilisierung der Handhaltung links und der Bogenführung‘; den Schwerpunkt der ersten Phase bildet der ‚gerade Bogenstrich‘. Zu Beginn soll der Schüler mit mehrfacher Tonwiederholung auf leeren Saiten im Détaché auf und ab streichen. Als Hilfestellung steckt die Lehrkraft so genannte ‚Fühler‘ – selbst gedrehte Papierröllchen – senkrecht in die F-Löcher, eine Art Pfeiler oder Leitplanke für die Bogenführung. Da diese jedoch etwas zu dünn sind, kippen sie immer wieder gegen die Saiten (was ein schnarrendes Geräusch beim Streichen ergibt) und müssen von der Lehrkraft zurechtgerückt bzw. -geschnipst werden. Die Markierung soll das Erfühlen des geraden Bogenstrichs fördern, verbunden mit verbalen Anweisungen zum Zuhören und zur Spiegelkontrolle. Hinzu kommen manuelle Korrekturen von Bogenarm und -hand, die die Bewegungen des Schülers führen und formen. Trotz aller Hilfsmittel, Manipulationen und Anweisungen zum Hören, Fühlen und Beobachten der Bewegungen hat der Schüler Schwierigkeiten, ‚in der Spur zu bleiben‘ und gerade zu streichen. Also soll er das zu Hause weiter üben. Darauf folgen eine kurze Körperübung, das Lied ‚Hänsel und Gretel‘, auswendig gespielt, und eine von der Lehrkraft notierte Übung, die zu entziffern und auf der Geige umzusetzen dem Schüler Mühe bereitet. In der Nachbesprechung der Lehrprobe sind sich die Violinprofessoren einig, eine sehr gute Unterrichtsstunde gesehen zu haben, mit kluger Methodik, klaren Anweisungen und der nötigen Strenge in der Vermittlung spieltechnischer Fertigkeiten. Schließlich geht es im Anfangsunterricht vornehmlich darum, ein sicheres technisches Fundament für die spätere musikalische Gestaltung zu legen.“ (Rüdiger 2011, S. 220f.)
[14] Olivier Blanchard plädiert für ein Verständnis von „Kultur(en) als Wissensordnungen und Sinnsysteme […], die durch soziale Praktiken erzeugt werden“ (Blanchard 2019). Insofern muss auch Musikunterricht als ein kultureller Raum zu verstehen sein, in dem die in ihm stattfindenden Praktiken der „Vermittlung und Erschließung von Kulturen und kultureller Diversität“ durch bestimmte Wissensordnungen und kulturelle Logiken hergestellt werden.
[15] Um Missverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass „körperliche Selbstbeobachtung“ nicht nur dort stattfindet, wo – im Sinne der Motorikforschung – ein „internaler Aufmerksamkeitsfokus“ vorliegt (vgl. Wulf & Prinz 2000, Saxer 2006). Auch der in diesem Forschungsparadigma als positive Gegenmittel empfohlene „externale Aufmerksamkeitsfokus“ läuft insofern auf eine Selbstbeobachtung hinaus, als er nämlich eine „Strategie“ bezeichnet, mittels derer eine bestimmte Bewegung erlernt werden kann. Wie beim internalen Fokus konstruiert das Subjekt auch in der externalen Perspektive eine Zweck-Mittel-Relation, durch die eine bestimmte kollektive Körpervorstellung in den Leib hineinmodelliert werden soll. Möglicherweise ist die Einnahme eines externalen Fokus‘ hierbei erfolgreicher. Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Parallelität, in der in beiden Fällen die Dimensionen von Leib und Körper aufeinander bezogen werden.