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Malen gehen — Bewegungsmotive in Kunst und Pädagogik

Lutz Schäfer

 

[Beitrag als PDF]

Abb. 1: Pro­jekt Schat­ten­malerei in der Kunst­werk­statt für Kinder­gartenkinder, Päd­a­gogis­che Hochschule Karl­sruhe (Agnes Einig, Tabea Fritz und Nicole Pät­zold)

In der Schule herrschen bezüglich des Rau­mange­botes für alle Schüler*innen in allen Fäch­ern gle­iche Bedin­gun­gen. Eine Son­der­rolle nimmt das Fach Sport ein, für das geson­derte Nor­men for­muliert sind. Diese Ord­nung bildet gesellschaftliche Vorstel­lun­gen vom Sich-Bewe­gen ab, deren anthro­pol­o­gis­che und sozi­ol­o­gis­che Wurzeln hier dargestellt wer­den sollen. Eine dif­feren­zierte Betra­ch­tung soll die Gefahren eines beschränk­ten Bewe­gungs­be­griffs aufzeigen, der in unser­er Gesellschaft zu einem zunehmenden Ver­lust men­schlich­er Qual­itäten führt, die ger­ade in kün­st­lerischen Hand­lun­gen eine zen­trale Rolle spie­len.

Geschichte der Bewe­gung

Dass Kinder im Ver­gle­ich zu Erwach­se­nen deut­lich häu­figer intrin­sisch motiviert sind, sich zu bewe­gen, ist eine Beobach­tung, die sich wis­senschaftlich unter­mauern lässt. Die Bewe­gungsen­ergie des Kindes- und Jugen­dal­ters reduziert sich im Laufe des Lebens und dies nicht nur bei Säugetieren, son­dern bei allen Lebe­we­sen.

„Auch adulte Tiere ver­lieren im Schnitt noch 50% ihrer Aktiv­ität­szeit­en über die Jahre, in denen sie geschlecht­sreif sind (Ingram, 2000). Sal­lis fol­gert daraus, dass das men­schliche Ver­hal­ten zumin­d­est teil­weise genetis­ch­er Natur ist.“ (Schmidt: Entwick­lung der kör­per­lichen Aktiv­ität, S. 25)

Dabei hat sich das Ver­hält­nis zwis­chen Nahrungsmit­telzu­fuhr und Energie­ver­brauch durch kör­per­liche Aktiv­ität beim Men­schen seit der Steinzeit stark verän­dert. Um zu über­leben, war bei unseren Vor­fahren ein höher­er Grad an kör­per­lichen Aktiv­itäten notwendig, was auf die Notwendigkeit der Nahrungs­beschaf­fung zurück­zuführen ist, die vor allem Erwach­se­nen aufge­tra­gen war. Der Energie­ver­brauch durch kör­per­liche Aktiv­ität lag im Ver­gle­ich zu heute (555 kcal.) bei ca. 1240 kcal. im Schnitt am Tag. Mit diesem höheren Grad an kör­per­lich­er Aktiv­ität ging auch eine höhere Kalo­rien­zu­fuhr ein­her. Geht man heute von einem durch­schnit­tlichen Energie­ver­brauch von 2030 kcal. pro Men­sch am Tag aus, waren es in der Steinzeit ca. 2900 kcal.

„Daraus resul­tiert eine Steigerung der Effizienz (Quo­tient aus Nahrungsmit­telzu­fuhr und Ver­brauch durch kör­per­liche Aktiv­ität) von ca. 50%. Diese Steigerung der Effizienz erle­ichtert es, zu hohe Energiemen­gen zu sich zu nehmen. Die Fol­gen sind die aktuellen epi­demi­ol­o­gis­chen Prob­lem­felder Übergewicht und Adi­posi­tas.“ (Eaton & Eaton, 2003 nach Schmidt: Entwick­lung der kör­per­lichen Aktiv­ität, S. 25)

Diese soge­nan­nten „Wohl­stands­fol­gen“ wer­den vor allem hin­sichtlich des Gedankens der kör­per­lichen Gesund­heit durch bewusst geset­zte Bewe­gungsak­tiv­itäten kom­pen­siert, unter anderem in for­malen oder informellen Bewe­gung­spro­gram­men in Sportvere­inen, Fit­nessstu­dios oder informellen Ini­tia­tiv­en.

Nahezu alle dieser Aktiv­itäten gemein ist, dass die Bewe­gungs­maß­nah­men von alltäglichen Hand­lun­gen separi­ert stat­tfind­en. Sie entsprechen so einem nach­haltig wirk­samen Klis­chee unser­er Gesellschaft, welch­es geistige und kör­per­liche Oper­a­tio­nen tren­nt. Diese Tren­nung ist nicht nur in Bil­dung­sprozessen ables­bar, wenn physis­che und geistige Bewe­gun­gen separi­ert betra­chtet und von unter­schiedlichen Fachdiszi­plinen gebildet wer­den. Sie ist auch in der beru­flichen Wirk­lichkeit wirk­sam, wo Hand­lun­gen in beson­der­er Weise als gelun­gen gel­ten, wenn ein Max­i­mum an Wirkung mit einem Min­i­mum an Bewe­gungsaufwand erre­icht wird. Dieses Motiv reicht in unser­er Gesellschaft bis zum Ide­al der aus­ge­lagerten Bewe­gun­gen. Wenn Dritte oder Maschi­nen nach vorgelegten geisti­gen Konzepten Bewe­gun­gen vol­lziehen, gilt dies als Aufweis unser­er intellek­tuellen Fähigkeit­en und stellt die Basis unseres Wohl­stands dar.

Abb. 2: Das Ide­al der Reduk­tion des kör­per­lichen Aufwands auf­grund geistiger Oper­a­tio­nen : der Mausklick

Im Ver­hält­nis kör­per­lich­er und geistiger Bewe­gun­gen wird das intellek­tuelle Ver­mö­gen des Men­schen in der Regel höher bew­ertet. Auch wenn Piagets entwick­lungspsy­chol­o­gis­ches Lern­mod­ell inzwis­chen auch kri­tisch rezip­iert wird, ste­ht es immer noch Pate für viele Mod­elle der kog­ni­tiv­en Entwick­lung, bei denen sen­so­mo­torische Bewe­gun­gen zu Beginn eines Lebens Aus­gangspunkt und das logis­che und ratio­nale Denken Ziel men­schlich­er Entwick­lung­sprozesse sind.

Abb. 3: Piagets Mod­ell — vom sen­so­mo­torischen Unter­suchen zum for­malen Denken

Bewe­gun­gen als anthro­pol­o­gis­ches Motiv

Der Päd­a­goge Klaus Mol­len­hauer hat in einem Vor­trag 1983 auf die Bedeu­tung gewiesen, die das Gehen für den Men­schen hat, und die tiefe Freude viel­er Eltern bei den ersten Schrit­ten ihrer Kinder als Zeichen ein­er Ahnung gedeutet, dass die ersten kör­per­lichen Schritte mehr sind als eine neu erlernte Bewe­gungs­form – dass sie ein anthro­pol­o­gis­ches Motiv sind und von ele­mentar­er Bedeu­tung im Prozess der Men­schw­er­dung.

Tat­säch­lich öff­nen sich durch die Fähigkeit des Gehens Möglichkeit­en, die den Men­schen in beson­der­er Weise kennze­ich­nen: das bis­lang eingeschränk­te Blick­feld, das streng nach oben gerichtet war, öffnet sich, durch Kopf­be­we­gun­gen kann das Kind nun nach oben und nach unten schauen, sich um die eigene Achse drehen und so die gesamte umgebende Welt wahrnehmen. Es bildet sich die Möglichkeit des Per­spek­tiven­wech­sels, was zur grundle­gen­den Erfahrung führt, dass ein solch­er nicht nur möglich, son­dern nötig ist, um sich auf han­del­nde Art und Weise in Räu­men zu bewe­gen und diese zu erfahren.

Die Fähigkeit des sich Bewe­gens im Raum erlaubt dem Men­schen aber nicht nur eine mul­ti­ple, son­dern auch eine dis­tanziert­ere Art der Wahrnehmung. Die Kinder erken­nen Gren­zen im Raum und erfahren die Hand­lungsmöglichkeit­en zwis­chen diesen. Dieses Wech­sel­spiel von Nähe und Dis­tanz ist ein Muster, das lebenslang wirk­sam bleibt.

Für die Entwick­lung des Kindes ist entschei­dend, dass die Über­win­dung von Dis­tanzen wil­lentlich geschieht. Die erweit­erten Möglichkeit­en der Wahrnehmung durch den Gewinn an Bewe­gungs­fähigkeit führen unmit­tel­bar zu neuen Möglichkeit­en der Inten­tions­bil­dung. Waren zahlre­iche Hand­lun­gen in der dominieren­den Rück­en­lage der Säuglingsphase reak­tionär, entste­hen nun auf eine Absicht bezo­gene kör­per­liche Bewe­gun­gen, weshalb dieser Schritt als rev­o­lu­tionär­er Akt des Selb­st­ständig-Wer­dens des Men­schen ver­standen wer­den kann.    Abb. 4, 5 und 6: Ohn­mächtiges Liegen, Gehen als selb­stzweck­hafte Hand­lung und als Mit­tel der Inten­tions­bil­dung

Dabei ist dieses Zusam­men­spiel von Inten­tion und Bewe­gung im zweit­en Leben­s­jahr des Men­schen deshalb so span­nend, weil die Zusam­men­hänge zwis­chen den bei­den Dimen­sio­nen zunächst nicht hier­ar­chisch zu denken sind. Das Gehen des Kindes ist zunächst selb­stzweck­haft, d.h. es geschieht um sein­er selb­st willen; Ursache des Gehens ist die Fähigkeit des Gehens. Mit dieser Unmit­tel­barkeit verbinden sich dann aber bald mit­tel­bare Motive, wenn das Gehen als Instru­ment ein­er möglichen Absichts­bil­dung erfahren wird. „Gehen kön­nen kündigt Selb­st­tätigkeit an.“[1]

Bewe­gungsmo­tive und kün­st­lerisches Denken und Han­deln

Nahezu alle entwick­lungspsy­chol­o­gis­chen The­o­rien gehen von Denkstruk­turen aus, die sprach­lich gebun­den sind.[2]Im Bere­ich des ästhetis­chen Gestal­tens ist es frag­würdig, den in der Entwick­lungspsy­cholo­gie zen­tralen Begriff des Denkens zu übernehmen. Er ver­führt dazu, man­nig­faltige äußere und innere Kon­struk­tion­sprozesse auf ratio­nale, sprach­lich fass­bare Oper­a­tio­nen zu beschränken. Die Tat­sache, dass die inter­nen Kon­struk­tion­sprozesse von Kindern wesentlich kom­plex­er sind als es ihre sprach­lichen Möglichkeit­en ver­muten lassen, wird in vie­len Bere­ichen, beson­ders im gestal­ter­ischen Han­deln, deut­lich.

Kün­st­lerisches Ver­hal­ten ist dadurch gekennze­ich­net, dass kör­per­liche und intellek­tuelle Kräfte simul­tan wirk­sam sind. Bild­ner­ische Artiku­la­tio­nen erlauben keine ein­deutige Les­barkeit, weil sie per se nicht nur Zeichen ratio­naler Oper­a­tio­nen, son­dern auch Aus­druck emo­tionaler Dis­po­si­tio­nen, motorisch­er Hand­lun­gen und vielfältiger sinnlich­er Oper­a­tio­nen sind. Sen­so­mo­torische Hand­lun­gen wer­den dabei nicht als etwas ver­standen, das zugun­sten geistiger Oper­a­tio­nen über­wun­den wer­den muss.

In der Geschichte der Kun­st­di­dak­tik wurde die Bedeu­tung dieses Ver­ständ­niss­es wieder­holt zum Aus­druck gebracht; markant durch Gert Selle, der Ende der achtziger Jahre die Bedeu­tung der sinnlichen Dimen­sion in kün­st­lerischen Prozessen ins kun­st­päd­a­gogis­che Bewusst­sein rief.[3] Bis heute ist die Bedeu­tung der sinnlich-materiellen Dimen­sion in ästhetis­chen Prozessen von vie­len Kun­st­päd­a­gogin­nen und -päd­a­gogen reflek­tiert und für kun­st­päd­a­gogis­che Prozesse frucht­bar gemacht wor­den, her­vorge­hoben seien hier Petra Kathke und Thomas Heyl.[4]

Bei der Reflex­ion der Bedeu­tung der sen­so­mo­torischen Dimen­sion in kün­st­lerischen Hand­lun­gen ste­ht das Bewe­gungsmo­tiv bis­lang kaum im Fokus, wen­ngle­ich es ein wesentlich­er Teil kün­st­lerisch­er Ate­lier­erfahrun­gen aus­macht.

William Ken­tridge

Abb. 7: William Ken­tridge: The refusal of time, 2012. Blick in die Ausstel­lung „No, it is!“, Mar­tin-Gropius-Bau, Berlin, 2016 (Foto: Lutz Schäfer)

In dem Video „trans­for­ma­tion with ani­ma­tion“ wird die Entste­hung ein­er kurzen Sequenz des südafrikanis­chen Kün­stlers William Ken­tridge gezeigt, in dessen Schaf­fen ani­mierte Filme eine wichtige Rolle spie­len.    

Abb. 8,9,10: Film­stills William Ken­tridge: Trans­for­ma­tion with ani­ma­tion[5]

Ken­tridges Tech­nik ist dadurch gekennze­ich­net, dass er groß­for­matige Kohleze­ich­nun­gen stufen­weise über­ar­beit­et, das heißt Kohlestriche set­zt oder wegradiert. Jede dieser min­i­malen Verän­derun­gen hält er mit­tels ein­er Fotografie fest. In ihrer Zusam­men­schau ergeben die Fotografien schließlich die Illu­sion von Bewe­gung (Stop-Motion-Tech­nik).

In einem Inter­view spricht der südafrikanis­che Kün­stler über die Bedeu­tung der Bewe­gun­gen als physis­ch­er Akt in sein­er kün­st­lerischen Arbeit bei der Entste­hung von Trick­filme.

Ken­tridges Filme entste­hen ohne ein Sto­ry­board, das heißt, dass der Kün­stler stark prozes­sori­en­tiert arbeit­et. Er hat lediglich ein oder zwei „Key-Images“ in seinem Kopf, deren Zeich­nung den Anfang ein­er Film­se­quenz markiert. Nach der ersten Zeich­nung auf dem Papi­er an der Wand läuft Ken­tridge quer durch den Raum, wo die fest instal­lierte Kam­era ste­ht, die er mit­tels eines Fer­naus­lösers zweimal betätigt. Danach geht wieder zur Zeich­nung zurück und nimmt durch radieren und überze­ich­nen min­i­male Verän­derun­gen vor, z.B. an der Lin­ie ein­er sich brechen­den Welle. Eine Sequenz von 20 Sekun­den wird durch 250 Einzel­bilder gestal­tet. Während des Entste­hens ein­er Szene hat Ken­tridge keine Kon­trolle über das Ergeb­nis, d.h. er kann keinen Kon­troll­blick auf die einzel­nen Auf­nah­men wer­fen, son­dern muss dem Prozess ver­trauen.

Von beson­der­er Bedeu­tung ist für ihn das Auf- und ab Gehen zwis­chen den Prozessen des Zeich­nens und Fotografierens.

„[..] and it´s very much in the believe, that in that phys­i­cal walk between the draw­ing and the cam­era, in that phys­i­cal process, it´s not a men­tal process, it´s a phys­i­cal process, new images and ideas sug­gest them­selves to go before that shot, after that shot, what that shot can devel­op into.“

Par­al­le­len

In der Beschrei­bung der Entste­hung kindlich­er Bewe­gungsmo­tive kann man unschw­er Par­al­le­len zu kün­st­lerischem Denken und Han­deln erken­nen. Neben ein­er tief emp­fun­de­nen Erfül­lung im Akt der Bewe­gung ist die Offen­heit ein­er sich ein­stel­len­den, bess­er gesagt sich bilden­den Absicht, ein zen­trales Kennze­ichen: die Ziele entste­hen beim Gehen und das Ergan­gene verän­dert den aufmerk­samen Men­schen und somit seine Inten­tio­nen.[6] Das Ver­hält­nis dieser bei­den Motive als Kern kün­st­lerischen Arbeit­ens zu beleucht­en, kann helfen, solche Prozesse bess­er zu ver­ste­hen. Zen­trale Bedeu­tung hat hier­bei die Frage nach dem Weg vom Bewe­gungs- zum Bild-Motiv.[7]

Kennze­ichen des Bewe­gungsmo­tivs sind unter­schiedliche Radi­en, die von großen, geo­graphis­chen zu kle­in­sten Bewe­gun­gen reichen und physis­che und gedankliche Bewe­gun­gen inte­gri­eren. Als größter Kon­trast zum dis­tanzierten Blick ein­er Panoramaper­spek­tive in weit­en Bewe­gun­gen ste­hen die kle­in­sten, finalen „bild­ner­ischen“ Bewe­gun­gen der/des Künstlers/in bei der Hin­wen­dung zur sinnlich-materiellen Dimen­sion des entste­hen­den Bildes.

Dabei wer­den allen physis­chen und intellek­tuellen Bewe­gun­gen nun Gren­zen geset­zt: beispiel­sweise die Gren­zen des Raumes, des Arbeit­splatzes, des Papier­for­mats. Die mul­ti­plen Per­spek­tiv­en sicht­bar­er und imag­iniert­er Gedanken­wel­ten müssen nun in einem Akt der Diszi­plin­ierung der Bewe­gun­gen gebändigt wer­den. Die sich hier­bei verselb­st­ständi­gen­den physis­chen Bewe­gun­gen sind der finale Akt der Wil­lens­bil­dung, der die flir­ren­den Bewe­gun­gen der Zer­streu­ung zu fassen ver­sucht.

Die Zusam­men­führung der mul­ti­plen Kräfte durch den Formwillen als Ver­such ein­er materiellen Konkre­tion der geisti­gen und kör­per­lichen Bewe­gung­sprozesse führt zum kennze­ich­nen­den Wech­sel­spiel von for­maler und inhaltlich­er Ebene. Die sich hier­bei verselb­st­ständi­gen­den physis­chen Bewe­gun­gen sind der finale Akt der Wil­lens­bil­dung, wobei das Werk durch diese radikale Reduk­tion seine Qual­ität gewin­nt.

Es zeigt sich hierin auch das men­schliche Grund­muster des Wech­sel­spiels von Konzen­tra­tion und Zer­streu­ung; die mul­ti­plen Per­spek­tiv­en sicht­bar­er und imag­iniert­er Gedanken­wel­ten müssen in einem Akt der Diszi­plin­ierung der Bewe­gun­gen gebändigt wer­den. Die weitre­ichen­den und ausufer­n­den kör­per­lichen und geisti­gen Bewe­gun­gen konzen­tri­eren auf der Ebene der bild­ner­ischen Hand­lun­gen im kle­in­sten Bere­ich, im Strich, im Hieb, im Drück­en des Tone. In diesem Bewe­gen als mech­a­nis­ch­er Akt entste­ht eine Lücke für den Willen des Geistes, der nicht nur loslassen darf, weil die intendierte Bewe­gung einge­set­zt hat, son­dern loslassen muss, weil die Bewe­gun­gen ein Höch­st­maß an motorisch­er Aufmerk­samkeit erfordern. Die sich hier­bei verselb­st­ständi­gen­den physis­chen Bewe­gun­gen sind der finale Akt der Wil­lens­bil­dung, der die flir­ren­den Bewe­gun­gen der Zer­streu­ung zu fassen ver­sucht.

Ein Blick auf das kün­st­lerische Ver­hal­ten zeigt, dass auch hier­bei wie im kindlichen Ver­hal­ten die Inte­gra­tion mul­ti­pler Kräfte des Men­schen kennze­ich­nend ist: Bewe­gun­gen wer­den zu Erfahrun­gen und führen wieder zu Bewe­gun­gen.

Frühkindlich­es und Kün­st­lerisches Denken und Han­deln

Frühkindliche Bil­dung­sprozesse wer­den in Entsprechung zu den üblichen entwick­lungspsy­chol­o­gis­chen Mod­ellen konzip­iert. Zwar ist die Vorstel­lung ein­er Entwick­lung in Stufen­fol­gen – von sen­so­mo­torischen zu zunehmend abstrak­teren Lern­prozessen – in dieser Phase noch eine Rah­men­the­o­rie, welche den Kindern einen gewis­sen Schon­raum zus­pricht. Die entsch­iedene Tren­nung zwis­chen kör­per­lichen und geisti­gen Lern­for­men ist aber schon grundgelegt und wird später in aller Radikalität wirk­sam und bes­tim­mend.

Bedauer­licher­weise stellen sowohl frühkindliche Lern­prozesse als auch kün­st­lerische Hand­lun­gen in unser­er Gesellschaft Son­der­for­men der Erken­nt­nis dar. Sie wer­den entsprechend grup­pen­spez­i­fisch inter­pretiert und zu wenig als anthro­pol­o­gis­che Motive erkan­nt. Solche kön­nen aber in beson­der­er Weise dort ent­deckt wer­den, weil die Abwe­sen­heit von gesellschaftlichen Nor­men und Erwartun­gen Aspek­te des Men­schen her­vorscheinen lässt, die im All­t­ag durch einen immensen Leis­tungs- und Anpas­sungs­druck über­formt wer­den.

Abb. 11 bis 14: Pro­jekt Schat­ten­malerei, Kunst­werk­statt für Kinder­gartenkinder, 2016

(Agnes Einig, Tabea Fritz und Nicole Pät­zold, Päd­a­gogis­che Hochschule Karl­sruhe. Fotos: Agnes Einig)

Abb. 15: Schat­ten­malerei

In einem ästhetis­chen Pro­jekt mit Kinder­gartenkindern haben die drei Stu­dentin­nen die Fen­ster des Kinder­ate­liers abge­dunkelt, einen Over­head-Pro­jek­tor aufgestellt, die Mal­wand großflächig mit Zeichen­pa­pi­er bek­lebt sowie Pin­sel und schwarze Acryl­farbe bere­it gestellt.

Die erste Begeg­nung der Kinder mit dieser beson­deren Sit­u­a­tion führt zur Erkun­dung der eige­nen Bewe­gun­gen, die die Kör­p­er als Schat­ten auf die Lein­wand wer­fen. Die Kinder ent­deck­en ver­schiedene Phänomene wie auch sich ein­stel­lende pro­por­tionale Ver­schiebun­gen durch unter­schiedliche Abstände der abge­bilde­ten Objek­te zum Leucht­mit­tel.

Die Kinder begin­nen nun, ihre eige­nen Umrisse auf das Papi­er zu malen. Sie ent­deck­en bald, dass der Schat­ten von ein­er schwarzen Tiefe ist, die keine dif­feren­zierte Gestal­tung der Bin­nen­fläche der Fig­uren erlaubt. Da mehrere Kinder gle­ichzeit­ig tätig sind und die Auf­gabe so reizvoll erscheint, dass die gesamte Bild­fläche von 4 x 2m gestal­tet wer­den soll, nehmen die Kinder bald unter­schiedliche Bewe­gungspo­si­tio­nen ein, sie hock­en, sitzen oder ste­hen auf dem Boden oder dem Stuhl. Immer wieder holen sie neue Farbe auf ihre Palette und wen­den sich dann wieder der Bild­fläche zu: Mal wer­den die Umrisslin­ien schat­ten­schwarz gemalt, mal bleibt die Umris­sze­ich­nung erhal­ten. So entste­ht ein lebendi­ger Rhyth­mus zwis­chen dun­klen Flächen und Lin­ien, sowie offe­nen und verdichteten Stellen.

Das Wech­sel­spiel von Nähe und Dis­tanz, von Konzen­tra­tion in der bild­ner­ischen Tat und Zer­streu­ung beim Sich-Weg-Bewe­gen ist ein Muster, das kün­st­lerisches Han­deln grund­sät­zlich bes­timmt. Dabei sind die Bewe­gun­gen im Raum nicht wahl­los, weil das han­del­nde Sub­jekt intu­itiv dem Bild­prozess ver­bun­den bleibt und sich die einzel­nen Schritte im Prozess in Bezug zur Gesam­tauf­gabe verbinden. Die Bezo­gen­heit ver­schieden­er kör­per­lich­er Instanzen aufeinan­der ist über das Feld der Kun­st hin­aus ein anthro­pol­o­gis­ches Motiv, das zu wenig beachtet und zunehmend ratio­nalem Effizien­z­denken geopfert wird.

 

Lit­er­atur

Heyl, Thomas: Phan­tasie und Forschergeist: mit Kindern kün­st­lerische Wege ent­deck­en. Kösel, München, 2008

Heyl, Thomas/ Schäfer, Lutz: Frühe ästhetis­che Bil­dung – mit Kindern kreative Wege ent­deck­en. Springer-Spek­trum, Hei­del­berg 2016.

Kathke, Petra: Sinn und Eigensinn des Mate­ri­als: Pro­jek­te, Anre­gun­gen, Aktio­nen. Cor­nelsen Scrip­tor, Berlin Düs­sel­dorf; Mannheim 2008⁵.

Schäfer, Lutz: Der Zirkel des Schaf­fens. Ober­hausen: Athena 2006.

Schwarz­er, Gudrun: Entwick­lung des Denkens. In: Mar­tin Pinkquart / Gudrun Schwarz­er / Peter Zim­mer­mann: Entwick­lungspsy­cholo­gie — Kindes- und Jugen­dal­ter. Göt­tin­gen: Hogrefe 2011

Schwarz, Rolf: Effek­te der Bewe­gungs­förderung. Review längss­chnit­tlich­er Eval­u­a­tion­sstu­di­en zu Bewe­gungsin­ter­ven­tio­nen in der frühen Kind­heit. München 2014

Selle, Gert: Gebrauch der Sinne: eine kun­st­päd­a­gogis­che Prax­is. Rein­bek bei Ham­burg: Rowohlt 1988

Inter­netquellen

Friesen, Norm (2011): Klaus Mol­len­hauer on Self-Activ­i­ty (Selb­st­taetigkeit). Video des Vor­trags an der Uni­ver­sität Göt­tin­gen 1983. Web, 15.03.2019, in: https://vimeo.com/30806636

San Fran­cis­co Muse­um of Mod­ern Art (o.J.): William Ken­tridge: trans­for­ma­tion with ani­ma­tion. Web, 13.3.2020, in: https://www.sfmoma.org/watch/william-kentridge-transformation-with-animation

Schmidt, Stef­fen (2019): Entwick­lung der kör­per­lichen Aktiv­ität, motorischen Leis­tungs­fähigkeit und Gesund­heit im Erwach­se­nenal­ter. Eine Längss­chnittstudie über 18 Unter­suchungs­jahre. Web, 14.3.2019, in: https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000077870 /5308570


[1] Friesen, Norm (2011): Klaus Mol­len­hauer on Self-Activ­i­ty (Selb­st­taetigkeit). Video des Vor­trags an der Uni­ver­sität Göt­tin­gen 1983. Web, 15.03.2019, in: https://vimeo.com/30806636

[2] Wen­ngle­ich schon Jean Piaget betont hat, dass die Ver­bal­sprache nicht die einzige Sprache ist, fokussierte er dieses Sym­bol­sys­tem. Fol­gerichtig unter­suchte er Vorsta­di­en sprach­lich­er Sym­bol­bil­dung, wie es auch in dem von ihm ver­wen­de­ten Fachter­mi­nus »vor­be­grif­flich­es Denken« zum Aus­druck kommt.

[3] Selle, Gert: Gebrauch der Sinne: eine kun­st­päd­a­gogis­che Prax­is. Rowohlt, Rein­bek bei Ham­burg, 1988

[4] Kathke, Petra: Sinn und Eigensinn des Mate­ri­als: Pro­jek­te, Anre­gun­gen, Aktio­nen. Cor­nelsen Scrip­tor Berlin Düs­sel­dorf; Mannheim 2008⁵; Heyl, Thomas: Phan­tasie und Forschergeist: mit Kindern kün­st­lerische Wege ent­deck­en. Kösel München, 2008

[5] San Fran­cis­co Muse­um of Mod­ern Art (o.J.): William Ken­tridge: trans­for­ma­tion with ani­ma­tion. Web, 13.3.2020, in: https://www.sfmoma.org/watch/william-kentridge-transformation-with-animation

[6]   Zur offe­nen Struk­tur kün­st­lerisch­er Wege siehe: Schäfer, Lutz: Der Zirkel des Schaf­fens. Athena Ober­hausen, 2006

[7] Diese These beherbergt nicht die Band­bre­ite aller kün­st­lerischen Arbeitsweisen. So sind Werke der Konzep­tkun­st häu­fig dadurch gekennze­ich­net, dass die zu Grunde liegen­den Bewe­gun­gen intellek­tuelle Bewe­gun­gen des Künstlers/der Kün­st­lerin sind, der den Bewe­gung­sprozess der Mate­ri­al­isierung an Dritte aus­lagert und diesen keine Gestal­tungsspiel­räume ein­räumt.

  • 1. April 20207. Mai 2020
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