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Nicht ohne meinen Körper — Zur Erfahrung von Sinn in der bildenden Kunst und Musik

Matthias Vogel

[Beitrag als PDF]

1 Ein­leitung

Liest man den Titel meines Vor­trags, liegt einem vielle­icht eine nahe­liegende Frage auf der Zunge: Wie denn son­st, wenn nicht mit deinem Kör­p­er? Schließlich sind wir kör­per­liche Wesen, und natür­lich sind all unsere Wahrnehmungen, Gefüh­le und Gedanken kör­per­lich real­isiert. Für uns, die wir aus dem Schat­ten Descartes’ getreten sind und nicht mehr glauben, dass geistige Wesen Sub­stanzen sind, die wesentlich unaus­gedehnt und daher unkör­per­lich sind, hätte es gewis­ser­maßen gar keine Pointe, darauf hinzuweisen, dass auch Prozesse des Ver­ste­hens von Kun­st und Musik kör­per­lich real­isiert sind.

Im Kon­text ein­er Tagung wie der unseren sollte man jedoch erwarten dür­fen, dass ich einen Gedanken entwick­le, der über die physikalis­tis­che Geschäfts­grund­lage der heuti­gen Philoso­phie des Geistes hin­aus­ge­ht. Und das ist in der Tat richtig, denn ich möchte eine spez­i­fis­chere These vertreten, als die These, dass alle men­tal­en Phänomene kör­per­lich real­isiert sind.

Eine Weise, sich dieser These zu näh­ern, beste­ht darin, mehr über die Rolle zu sagen, die der Kör­p­er bei ästhetis­chen Ver­ste­hen­sprozessen spielt. Während die all­ge­meine These unspez­i­fisch besagt, dass alle men­tal­en Prozesse kör­per­lich real­isiert wer­den, möchte ich darüber hin­aus­ge­hend behaupten, dass es Ver­ste­hen­sprozesse gibt, bei denen kör­per­liche Bewe­gun­gen die Form darstellen, in der sich ein Ver­ständ­nis zeigt und artikuliert. In der­ar­ti­gen Fällen ist der Kör­p­er nicht bloß unspez­i­fisch Real­isier­er kog­ni­tiv­er Prozesse, seine Bewe­gun­gen bilden vielmehr das Medi­um, in dem wir den Sinn eines ästhetis­chen Gegen­stands erfassen. (Die Kör­per­be­we­gun­gen sind tech­nisch gesprochen Inter­pre­tan­tia.)

Um bess­er ver­ständlich zu wer­den, muss diese Über­legung natür­lich aus­buch­sta­biert wer­den. Bevor ich mich an diese Arbeit mache, will ich anhand eines ein­fachen Beispiels, das ich mir bei Hel­muth Pless­ner borge, deut­lich machen, worum es mir im Kern geht:

Wenn ein Kind, das eine durchs Gras glei­t­ende Schlange beobachtet, mit der Hand eine schlän­gel­nde Bewe­gung macht, dann erfasst es mit Hil­fe dieser Hand­be­we­gung die Form ein­er anderen Bewe­gung (die der Schlange) und es stellt zugle­ich dar, was es erfasst hat. Auch wenn es nahe­liegt, zu sagen, das Kind imi­tiere die Bewe­gung der Schlange nur,[1] ver­mag es mit Hil­fe der Geste eine Struk­tur in sein­er Umge­bung zu erfassen, die für das Kind eine bes­timmte Ord­nung aufweist. Die Geste leis­tet daher etwas, das zur Ori­en­tierung in der Welt beiträgt, indem sie – unab­hängig davon, dass das Kind über den Aus­druck oder den Begriff der Schlange ver­fügt – Aspek­te dieser Welt als eine struk­turi­erte Ein­heit zu erfassen hil­ft.

Im Fol­gen­den möchte ich gel­tend machen, dass ästhetis­che Gegen­stände, darunter erklin­gende Musik und Werke der bilden­den Kun­st, Her­aus­forderun­gen für uns darstellen, die der Her­aus­forderung, die für das Kind von der Bewe­gung der Schlange aus­ge­ht, ver­wandt sind. Ver­wandt sind die Her­aus­forderun­gen, insofern etwa von Musik die Frage aus­ge­ht, in welchem Zusam­men­hang die unter­schiedlichen Klan­gereignisse ste­hen, die die Musik aus­machen. Diesen Zusam­men­hang zu erfassen, indem wir die Musik mit Hil­fe von Gesten, kör­per­lichen Bewe­gun­gen, aber auch Vorstel­lun­gen nachvol­lziehen und dabei für uns struk­turi­eren, ist nun nicht das Erfassen ein­er angeb­baren Bedeu­tungvon Musik, son­dern die Erfahrung ihres Sinns.

Ich werde nun ver­suchen, diese noch ziem­lich abstrak­ten Über­legun­gen in Schrit­ten ver­ständlich zu machen. Dabei ori­en­tiere ich mich an den fol­gen­den The­sen, die ich Ihnen zunächst im Überblick vorstelle:

(T1) Ästhetis­ches Erfahren erschöpft sich nicht im Wahrnehmen, es schließt Prozesse des Ver­ste­hens ein.

(T2) In Ver­ste­hen­sprozessen geht es uns darum, die Beschaf­fen­heit eines Gegen­stands (ein­schließlich sein­er Verän­derun­gen) so zu struk­turi­eren, dass wir sie in für uns rel­e­van­ten Hin­sicht­en erfassen.

(T3) In Prozessen musikalis­chen Ver­ste­hens struk­turi­eren wir Klangse­quen­zen auf ein­er grundle­gen­den Ebene wesentlich durch kör­per­liche Nachvol­lzüge.

(T4) Dass kör­per­liche Bewe­gun­gen im Falle der Musik priv­i­legierte Nachvol­lzugsmod­elle darstellen, hat struk­turelle Gründe und entwick­lungs­geschichtliche Ursachen. Dies macht ver­ständlich, warum Tanz, gestis­ch­er Nachvol­lzug, aber auch das Ein­nehmen kör­per­lich­er Hal­tun­gen par­a­dig­ma­tis­che For­men musikalis­chen Ver­ste­hens darstellen.

(T5) Was für die Musik gilt, gilt mutatis mutan­dis auch für die bildende Kun­st.

(T6) Die Ent­fal­tung der Fähigkeit, ästhetis­che Erfahrun­gen zu machen und wertzuschätzen, sollte von spon­ta­nen Nachvol­lzugsmod­ellen aus­ge­hen und erst im Anschluss daran Wis­sen und Kom­pe­ten­zen ver­mit­teln, die für das ästhetis­che Erfahren nur insofern Rel­e­vanz gewin­nen, als sie es dif­feren­zieren und dazu beitra­gen kön­nen, die Spez­i­fi­ka der jew­eili­gen Erfahrun­gen zu artikulieren.

2 Ästhetis­ches Erfahren und Ver­ste­hen

Erfahrun­gen gehen nicht nur über Empfind­un­gen, son­dern auch über Wahrnehmungen hin­aus. Mit Kant und Dewey kön­nen wir sagen, dass ‚Erfahrung’ ein Erfol­gs­be­griff ist und Erfahrun­gen erst dann vor­liegen, wenn Empfind­un­gen und Wahrnehmungen für uns unter ein­er Hin­sicht zu ein­er Ein­heit zusam­men­treten, die wir als eine zusam­men­hän­gende Episode erfahren und erin­nern kön­nen.

Während uns für alltägliche Erfahrun­gen die Hin­sicht­en meist in Gestalt von Begrif­f­en zur Ver­fü­gung ste­hen, mit deren Hil­fe wir Empfind­un­gen und Wahrnehmungen als Ele­mente von Erfahrun­gen erfassen – etwa wenn wir eine Rei­he von beobachteten Kör­per­be­we­gun­gen zu Ein­heit­en wie ‚Tis­chdeck­en’ oder ‚Schlen­dern’ zusam­men­fassen – geht von kün­st­lerischen Arte­fak­ten die Frage aus, wie die Wahrnehmungen, die sie uns anbi­eten, zusam­men­hän­gen – ohne, dass wir gle­ich eine begrif­flich struk­turi­erte Antwort zu geben wüssten.

Daher kann man den Prozess der Struk­turierung von Wahrnehmungen, die man angesichts eines kün­st­lerischen Arte­fak­ts macht, als einen Prozess des Ver­ste­hens beschreiben – einen Prozess, in dem wir nach Hin­sicht­en suchen, in deren Licht unsere Wahrnehmungen zu Ein­heit­en zusam­men­find­en. Dieser Prozess erschöpft sich wed­er darin, sinnliche Eigen­schaften des Gegen­stands zu erfassen, noch ist sie – wie im Fall des Ver­ste­hens ein­er all­t­agssprach­lichen Äußerung auf das Erfassen ein­er angeb­baren Bedeu­tung des Gegen­stands gerichtet.

Die all­ge­me­in­ste Form des Ver­ste­hens kann man im Anschluss an Aris­tote­les fol­gen­der­maßen bes­tim­men: x zu ver­ste­hen, heißt x als ein y zu erfassen. Hier drei Ein­set­zun­gen in diese Form:

(V) x zu ver­ste­hen kann beispiel­sweise heißen,

[a] x als y-bedeu­tend zu erfassen (Bedeu­tungsver­ste­hen), oder

[b] x als durch y begründ­bar zu erfassen (Hand­lungs- Per­so­n­en­ver­ste­hen), oder

[c] die sinnlich erfahrbare Beschaf­fen­heit von x als durch y struk­turier­bar zu erfassen (ästhetis­ches Ver­ste­hen).

Gegenüber dem Bedeu­tungs- und Per­so­n­en­ver­ste­hen ist das ästhetis­che Ver­ste­hen durch deut­lich höhere Frei­heits­grade aus­geze­ich­net. Während Erstere ziem­lich fest­gelegte Erfol­gskri­te­rien haben, etwa das der Erfül­lung der Rela­tion des Gle­ichbe­deutens bzw. das der Ratio­nal­isierung von Hand­lun­gen ein­er Per­son (also eines Ver­ständlich­machens durch Gründe), kön­nen die Anforderun­gen an die erfahrungs­bildende Struk­turierung auf vielfältige Weisen erfüllt wer­den.

Im Licht dieser Über­legun­gen kön­nen wir zugle­ich ver­ständlich machen, warum wir ästhetis­ches Ver­ste­hen wertschätzen. Denn insofern wir beim ästhetis­chen Ver­ste­hen

[a] ein­er uns gemäßen Tätigkeit

[b] frei und unge­hin­dert

[c] und insofern vol­len­det nachge­hen, als das Prinzip der Vol­len­dung erst in jedem einzel­nen Ver­ste­hen­sakt bes­timmt wird,

sind all die Kri­te­rien erfüllt, die Aris­tote­les in sein­er Analyse der Lust in der Niko­machis­chen Ethik entwick­elt.[2]

Eine Weise, die sinnlich erfahrbare Beschaf­fen­heit von x als durch y struk­turier­bar zu erfassen, beste­ht nun meines Eracht­ens in nachvol­lziehen­den Struk­turierun­gen. In ihnen kön­nen Bewe­gungs­for­men, Gesten und Hal­tun­gen das y bilden, so dass das x, beispiel­sweise ein Musik­stück oder eine Skulp­tur als eine durch diese For­men bes­timmte Ein­heit ver­standen wer­den kann.[3]

Das Ver­ste­hen, um das es beim Hören von Musik oder beim Betra­cht­en von nicht abbilden­den Bildern geht, ist in den weitaus meis­ten Fällen kein Bedeu­tungsver­ste­hen. Denn das Ver­ste­hen von Bedeu­tung set­zt voraus, dass die Bedeu­tung infor­ma­tiv angegeben wer­den kann und es also unter­schiedliche For­men geben kön­nen muss, um dieselbe Bedeu­tung zu artikulieren. Das allerd­ings trifft im Fall des Musikver­ste­hens nicht zu.

[a] Weil das, was für ein erklin­gen­des Musik­stück spez­i­fisch ist, poten­ziell jedes sinnlich erfass­bare Merk­mal des Stücks ein­schließt, kann es nicht durch etwas vertreten wer­den, das sinnlich anders beschaf­fen ist und zugle­ich dieselbe Bedeu­tung hat.

[b] Was eine musikalis­che Auf­führung oder eine musikalis­che Äußerung vertreten kann, ist dann besten­falls ihre Wieder­hol­ung. Wieder­hol­un­gen allerd­ings sind keine infor­ma­tiv­en

[c] Weil Musik­stücke darüber hin­aus typ­is­cher­weise keine repräsen­ta­tionale Funk­tion haben, haben sie wed­er Wahrheits- noch Erfül­lungs­be­din­gun­gen, rel­a­tiv zu denen wir den Erfolg ein­er stel­lvertre­tenden Über­set­zung über­haupt bew­erten kön­nten.

Eine Weise, um vor dem Hin­ter­grund dieser Schwierigkeit­en den­noch an der Idee festzuhal­ten, dass Musik mehr ist als „bloßes Spiel­w­erk der Sinne“, näm­lich etwas, das wir ver­ste­hen kön­nen, beste­ht nun darin, zu sagen, dass wir nicht ihre Bedeu­tung, son­dern ihren Sinn erfassen – und zwar indem wir ihre sinnlich erfahrbare Beschaf­fen­heit in Akten des Nachvol­lzugs struk­turi­eren.

Als Beispiel für ein solch­es nachvol­lziehen­des Ver­ste­hen hat­te ich bere­its die schlän­gel­nde Hand­be­we­gung einge­führt, mit der ein Kind auf seine Wahrnehmung ein­er durchs Gras glei­t­en­den Schlange reagiert. Genau­so wenig wie im Fall der Schlange wird im Falle der Musik nicht erfasst, wovon ein Musik­stück oder Bild han­delt, son­dern wie es sich mir zeigt. Ich artikuliere gewis­ser­maßen – um in Anspielung auf Frege zu reden – die Gegeben­heitsweise – mithin den Sinn –, der meinen Bezug auf das Stück struk­turi­ert.

Um einen im Nachvol­lzug erfassten Sinn zu artikulieren, sind wir beim ästhetis­chen Ver­ste­hen nicht auf sprach­lich artikulierte Begriffe fest­gelegt. Es kann – wie Wittgen­stein sagt – so sein, dass ich die Frage, was die Pointe eines Stück ist, am besten mit Hil­fe ein­er Geste beant­worten kann.[4]            Damit ist die These (T1) etwas genauer erläutert, so dass wir sie fol­gen­der­maßen refor­mulieren kön­nen:

(T1*) Ästhetis­che Erfahrun­gen schließen Akte eines Ver­ste­hens ein, die nicht im Erfassen der Bedeu­tung des Gegen­stands der Erfahrung beste­hen, son­dern im Struk­turi­eren sinnlich­er Wahrnehmungen.

3 Kör­per­lich­es Nachvol­lziehen

Was hat das nun mit unseren Kör­pern zu tun? Zwar sind Gesten und Hal­tun­gen kör­per­liche Phänomene, aber dieser Hin­weis bringt die Rolle des Kör­pers nur sehr äußer­lich, als Real­isier­er dieser Bewe­gun­gen ins Spiel. Deut­lich­er wird die kör­per­liche Dimen­sion, wenn wir uns bewusst machen, dass Gesten keine arbi­trären Zeichen sind, wie etwa das Melden im Sem­i­nar, sie ste­hen vielmehr in nicht arbi­trären Rela­tio­nen zu den Prozessen, die wir mit ihrer Hil­fe struk­turi­eren.[5]

Damit Gesten uns etwas ver­ständlich machen kön­nen, müssen wir sie selb­st in gewiss­er Hin­sicht bere­its ver­ste­hen. Wir müssen wis­sen, wie es sich anfühlt, eine Geste zu vol­lziehen oder eine Hal­tung einzunehmen. Wenn wir eine Geste beispiel­sweise als hastig, gle­ich­wohl aber unkon­trol­liert und schließlich als abrupt innehal­tend erfahren, dann bedi­enen wir uns Bewe­gungsvorstel­lun­gen, die wir ver­möge unseres eige­nen kinäs­thetisch-interozep­tiv­en Wis­sens ver­ste­hen.

Wir wis­sen, wie es sich anfühlt, eine beruhi­gende Geste zu machen, wir sind mit ihrer Wirkung auf uns selb­st ver­traut, wir wis­sen, wie es ist, anges­pan­nt auf der Stuh­lka­nte zu sitzen und vol­lkom­men fokussiert einem Prozess zu fol­gen, oder nach der Anstren­gung eines Tages tief atmend in den Schlaf überzuge­hen. Weil uns die Musik solche Bewe­gun­gen nahelegt und weil wir mit Hil­fe dieser Bewe­gun­gen Aspek­te der Musik zu struk­turi­eren ver­mö­gen, erschließt sich uns ihr Sinn par­tiell in solchen kör­per­lichen Nachvol­lzü­gen. Daher real­isieren diese Bewe­gun­gen unser Ver­ste­hen nicht bloß, son­dern artikulieren es gewis­ser­maßen.

4 Bewe­gung als Grund­kat­e­gorie des Musikalis­chen

Es wird Ihnen nicht ent­gan­gen sein, dass meine Über­legun­gen wesentlich davon abhän­gen, dass zumin­d­est zwis­chen Gesten und Musik eine Ver­wandtschaft beste­ht, weil bei­de – sowohl die Geste als auch die Musik – grundle­gend durch Bewe­gungs­for­men bes­timmt sind. Mit Blick auf die Musik bedarf das im Gegen­satz zur Geste vielle­icht ein­er Erläuterung.

Ich würde wiederum im Anschluss an Pless­ner gern sagen, dass auch die Musik grundle­gend durch Bewe­gungs­for­men bes­timmt ist[6] und zwar deshalb,

  1. weil musikalis­che Prozesse sich in der ver­tikalen Dimen­sion des musikalis­chen Raums sowie inner­halb der musikalis­chen Zeit vol­lziehen, und nicht auf Bewe­gungs­for­men außer­halb der Musik zurück­ge­führt wer­den kön­nen.
  2. Dabei stellt die musikalis­che Zeit über die Dimen­sion bloßer Abfolge hin­aus eine Dimen­sion dar, die

[a] durch Ord­nun­gen (Metrum, Takt) bes­timmt wird, die ihrer­seits Ori­en­tierungsmuster in der Zeit bere­it­stellen; und

[b] durch Gewich­tun­gen bes­timmt wird, mithin durch ener­getis­che Eigen­schaften, die zum jew­eili­gen Bewe­gungscharak­ter (zum rhyth­mis­chen Charak­ter im weit­en Sinne) von Klangkon­fig­u­ra­tio­nen beitra­gen.

Die Bes­tim­mungen der Geste im gestis­chen Raum vol­lziehen sich wesentlich ver­mit­tels for­mer­fassender exterozep­tiv­er und interozep­tiv­er Wahrnehmungen, man kön­nte auch sagen: ver­mit­tels leib­lich­er Bewe­gungskat­e­gorien.

  1. Wesentlich für die Bewe­gun­gen im gestis­chen Raum ist also nicht ihre physikalis­che Spur im carte­sis­chen Raum, son­dern die Erfahrungs­di­men­sion der Bewe­gun­gen, die sich fast jedem mit­teilt, der über einen Kör­p­er, einen Leib der­sel­ben Art ver­fügt wie die gestikulierende Per­son.
  2. Solche Rezip­i­en­ten von Gesten wis­sen, wie es sich anfühlt, etwas Schw­eres anzuheben, die Arme nach ein­er Anstren­gung fall­en zu lassen, die Hand zu ein­er Faust zu ballen oder mit den Fin­gern leicht auf den Han­drück­en zu tip­pen.

Daher ste­hen Gesten dafür bere­it, musikalis­che Prozesse als solche zu erfassen, die ihrer­seits wesentlich durch Bewe­gungs­for­men wie Drän­gen, Streben, Schweben, Innehal­ten, Auf­tauchen, Absinken usf. bes­timmt sind.

Kurzum: Die Bedin­gun­gen für das Beste­hen ein­er Abbil­dungsre­la­tion zwis­chen Gesten und musikalis­chen Bewe­gun­gen wer­den nicht auf der Ebene gän­zlich ver­schieden­er physikalis­ch­er Prozesse (Schallereignisse und Kör­per­be­we­gun­gen) erfüllt, son­dern auf der Ebene der Erfahrung von Kör­per­be­we­gun­gen und der Bewe­gung von Klän­gen in der musikalis­chen Raumzeit.

Es ist eine inter­es­sante Frage, warum wir musikalis­che Klänge als bewegte Klänge hören. Wahrschein­lich gibt es hier­für zwei Erk­lärungsan­sätze: Auch wenn wir keine Kul­turen ken­nen, in denen wir nicht auf musikalis­che Prak­tiken tre­f­fen, so scheint unser Begriff von Musik ein his­torisches Dif­feren­zierung­spro­dukt zu sein, das längst nicht in allen Kul­turen anzutr­e­f­fen ist: In vie­len Fällen existiert Musik gar nicht unab­hängig von ein­er Ein­bindung in kul­tischePrak­tiken, darunter ins­beson­dere solche, in denen die Musik mit Bewe­gun­gen in Form des gemein­samen Tanzensver­bun­den ist.

In diesen Prak­tiken spielt Musik ganz offenkundig die Rolle eines Medi­ums, das Bewe­gun­gen und damit die Aktiv­itäten viel­er koor­diniert. Man kann ver­muten, dass die Erfahrung von Syn­chro­ni­sa­tion, Koor­di­na­tion und Zusam­menge­hörigkeit zugle­ich eine Erfahrung von Stärke ist und daher pos­i­tiv evaluiert wurde und wird. Denn mit Blick auf die Über­leben­schan­cen und das Woh­lerge­hen ist es ein Unter­schied ums Ganze, ob Men­schen als eine organ­isierte Ein­heit auftreten oder als vage zusam­men­hän­gende Indi­viduen.

Eine andere Wurzel der Bewe­gungs­för­migkeit der Musik liegt vielle­icht in frühkindlichen Inter­ak­tio­nen, in denen pro­to­musikalis­che Äußerun­gen eine wichtige Rolle für das Attune­ment zwis­chen Kind und Bezugsper­son sowie für die Affek­treg­u­la­tion spie­len, wobei sie wiederum in Verbindung mit Bewe­gun­gen auftreten, sei es Wiegen oder Stre­icheln.

5 Bildende Kun­st

Meine Über­legun­gen zur bilden­den Kun­st sind viel vor­läu­figer, und ich will sie hier primär nutzen, um zwei weit­ere Motive in den Blick zu bekom­men, die ich bish­er nicht erwäh­nt habe.

Natür­lich gibt es auch im Kon­text der bilden­den Kun­st Phänomene, die in Kat­e­gorien der Bewe­gung und des Gestis­chen zu beschreiben wären. Das liegt im Fall der Skulp­tur auf der Hand, aber auch im Falle von Bildern treten uns For­men mit gestis­chen Qual­itäten gegenüber, wird unser Blick geführt, unser Sehen gelenkt.

Ein weit­er­er Aspekt der Verbindung mit unser­er Kör­per­lichkeit kommt ins Spiel, wenn wir uns neuere Wahrnehmungs­the­o­rien anse­hen. So macht etwa Alva Noë gel­tend,[7] dass der Gehalt von Wahrnehmungsepiso­den nicht unab­hängig von kör­per­lichem Wis­sen erläutert wer­den kann. Wenn sen­so­mo­torische oder enak­tivis­tis­che The­o­rien der Wahrnehmung recht haben, dann geht die Geschichte unseres prak­tis­chen Umgangs mit Gegen­stän­den in die Bes­tim­mung des Gehalts unser­er Wahrnehmungen ein – und zwar dadurch, dass wir eine bes­timmte prak­tis­che Fähigkeit (ein prak­tis­ches Wis­sen) erwor­ben haben: wir wis­sen prak­tisch und eher impliz­it, wie sich durch Verän­derung unser­er Posi­tion zu einem Gegen­stand – und auch durch Verän­derung des Gegen­stands rel­a­tiv zu uns – die Wahrnehmung dieses Gegen­stands verän­dert.

Wenn unsere eige­nen kör­per­lichen Bewe­gun­gen oder die Bewe­gun­gen von Gegen­stän­den rel­a­tiv zu unseren Kör­pern mitbes­tim­men, was wir sehen – beispiel­sweise einen Ball, obwohl wir aus jed­er konkreten Per­spek­tive ja nur eine Kreiss­cheibe sehen, dann kön­nten wir uns vorstellen, dass wir im Betra­cht­en von Bildern dieses prak­tis­che Wis­sen in Anschlag brin­gen und dabei zwei­di­men­sion­ale Objek­te gewis­ser­maßen mit einem Bewe­gungswis­sen aufladen, das unseren Inter­ak­tio­nen mit der kör­per­lichen Welt entstammt und geeignet sein kann, etwas zur Struk­turierung des Bildes beizu­tra­gen. Auf diese Weise lässt sich ver­ständlich machen, dass wir beispiel­sweise auch Arbeit­en der abstrak­ten Malerei mit­tels gestisch-motorisch­er Allu­sio­nen struk­turi­eren.

Ein zweites Motiv, das ich nur kurz erwäh­nen will, das gle­ich­wohl aber sowohl im Kon­text des Musikhörens als auch beim Betra­cht­en von Bildern eine Rolle spielt, knüpft an diese Skizze an: Wenn wir uns Zuhörerin­nen und Zuhör­er in klas­sis­chen Konz­erten verge­gen­wär­ti­gen, dann fall­en diese meist nicht dadurch auf, dass sie tanzen oder gestikulieren. Spielt Nachvol­lzug bei ihnen also keine Rolle?

Wenn es sich um ein musikalis­ches Hören han­delt, dann sollte Nachvol­lzug bei solchen Hör­ern eine Rolle spie­len, und wir dür­fen Beschrei­bun­gen ihres Erlebens ent­nehmen, dass sie die Musik mit Hil­fe von Gesten oder Hal­tun­gen struk­turi­eren, aber eben imag­i­na­tiv­en und nicht prak­tisch vol­l­zo­ge­nen Gesten oder Hal­tun­gen.

Struk­turi­erende Nachvol­lzüge – seien es solche bild­ner­isch­er oder musikalis­ch­er Gegen­stände – kön­nen wir dank unser­er Vorstel­lungskraft unab­hängig von den Beschränkun­gen konkreter kör­per­lich­er Vol­lzüge vol­lziehen. Aber alle diese Vorstel­lun­gen wurzeln in Erfahrun­gen, die wir als sich bewe­gende kör­per­liche Wesen machen.

Daher sollte die in These 6 artikulierte Maxime halb­wegs gut begrün­det sein:

Die Ent­fal­tung der Fähigkeit, ästhetis­che Erfahrun­gen zu machen und wertzuschätzen, sollte von spon­ta­nen Nachvol­lzugsmod­ellen aus­ge­hen und erst im Anschluss daran Wis­sen und Kom­pe­ten­zen ver­mit­teln, die für das ästhetis­che Erfahren nur insofern Rel­e­vanz gewin­nen, als sie es dif­feren­zieren und dazu beitra­gen kön­nen, die Spez­i­fi­ka der jew­eili­gen Erfahrun­gen zu artikulieren.

 

Lit­er­atur

Aris­tote­les: Niko­machis­che Ethik. In: Flashar (Hg.): Werke in deutsch­er Über­set­zung, Bd. 6, Berlin 1999.

Cox, Arnie: Embody­ing Music: Prin­ci­ples of the Mimet­ic Hypoth­e­sis. In: Music The­o­ry Online 17, 2011, S. 1–24. 2011. (http://mto.societymusictheory.org/issues/mto.11.17.2/mto.11.17.2.cox.pdf).

Cox, Arnie: Music and Embod­ied Cog­ni­tion. Lis­ten­ing, Mov­ing Feel­ing, and Think­ing. Bloom­ing­ton & Indi­anapo­lis 2016.

Dworschak, Thomas: Hör­bar­er Sinn. Eine philosophis­che Unter­suchung über Wahrnehmung, Denken und Ver­ste­hen in der Musik. München 2017.

Pless­ner, Hel­muth: Zur Anthro­polo­gie der Musik. In: Dux / Strök­er (Hg.): Gesam­melte Schriften, Frank­furt am Main 1982, Bd. 7.

Vogel, Matthias: Nachvol­lzug und die Erfahrung musikalis­chen Sinns. In: Beck­er / Vogel (Hg.): Musikalis­ch­er Sinn, Frank­furt am Main 2007, S. 352–361.

Vogel, Matthias: Musik und Geste – Wahlver­wandtschaft oder zufäl­lige Liai­son. In: Eggers / Grüny (Hg.): Geste und Musik. The­o­rien, Ansätze, Per­spek­tiv­en. Pader­born 2017, S. 51–70.

Wittgen­stein, Lud­wig: Ver­mis­chte Bemerkun­gen. Frank­furt am Main 1977


[1] In Anbe­tra­cht der Tat­sache, dass nur wenige Tier­arten die Fähigkeit besitzen, Aktiv­itäts­for­men ander­er zu imi­tieren, unter­schätzt schon die Rede vom „bloßen“ Imi­tieren, dass es hier um eine kom­plexe Fähigkeit geht, die für kul­turelles Ler­nen eine fun­da­men­tale Rolle spielt. Der Aspekt der selek­tiv­en und pro­duk­tiv­en Erfas­sung von Aktiv­itätsmustern oder Hand­lungs­for­men, sollte vielmehr als eine grundle­gende Form des Ver­ste­hens solch­er Gegen­stände betra­chtet wer­den. Über­legun­gen zu diesem Zusam­men­hang find­en sich in Vogel: Nachvol­lzug und die Erfahrung musikalis­chen Sinns, S. 352–361, sowie in Cox, Embody­ing music, und in Cox, Music and embod­ied cog­ni­tion.

[2]  Vgl. Aris­tote­les, Niko­machis­che Ethik, 1153 a 13.

[3] Nachvol­lzug ste­ht in keinem Gegen­satz zum Mitvol­lzug. Das „Nach“ in „Nachvol­lzug“ ist nicht tem­po­ral zu ver­ste­hen, son­dern als Bes­tim­mung des Gegen­stands des Vol­lzugs (also ref­er­en­tiell, wie in „Nach Para­graph 9 gilt diese Hand­lung als …“). Zugle­ich soll mit diesem Aus­druck sig­nal­isiert wer­den, dass es auch Angemessen­heits­be­din­gun­gen für Nachvol­lzüge gibt, die in der Beschaf­fen­heit des Nachvol­lzug­sob­jek­ts liegen.

[4] Wittgen­stein, Ver­mis­chte Bemerkun­gen, S. 548.

[5] Vgl. Vogel, Musik und Geste.

[6] Vgl. Pless­ner, Zur Anthro­polo­gie der Musik, sowie zum fol­gen­den ins­beson­dere Thomas Dworschak, Hör­bar­er Sinn, und Cox, Embody­ing music, § 9.

[7]  Vgl. Noë, Action in Per­cep­tion sowie Noë, Strange Tools.

  • 1. April 20207. Mai 2020
around the gap – von Widerfahrnissen und Überraschungen morgens nicht zu ahnen, was man abends von sich weiß
Vorwort zur Ausgabe »körper bewusst«
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