Nicht ohne meinen Körper — Zur Erfahrung von Sinn in der bildenden Kunst und Musik
1 Einleitung
Liest man den Titel meines Vortrags, liegt einem vielleicht eine naheliegende Frage auf der Zunge: Wie denn sonst, wenn nicht mit deinem Körper? Schließlich sind wir körperliche Wesen, und natürlich sind all unsere Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken körperlich realisiert. Für uns, die wir aus dem Schatten Descartes’ getreten sind und nicht mehr glauben, dass geistige Wesen Substanzen sind, die wesentlich unausgedehnt und daher unkörperlich sind, hätte es gewissermaßen gar keine Pointe, darauf hinzuweisen, dass auch Prozesse des Verstehens von Kunst und Musik körperlich realisiert sind.
Im Kontext einer Tagung wie der unseren sollte man jedoch erwarten dürfen, dass ich einen Gedanken entwickle, der über die physikalistische Geschäftsgrundlage der heutigen Philosophie des Geistes hinausgeht. Und das ist in der Tat richtig, denn ich möchte eine spezifischere These vertreten, als die These, dass alle mentalen Phänomene körperlich realisiert sind.
Eine Weise, sich dieser These zu nähern, besteht darin, mehr über die Rolle zu sagen, die der Körper bei ästhetischen Verstehensprozessen spielt. Während die allgemeine These unspezifisch besagt, dass alle mentalen Prozesse körperlich realisiert werden, möchte ich darüber hinausgehend behaupten, dass es Verstehensprozesse gibt, bei denen körperliche Bewegungen die Form darstellen, in der sich ein Verständnis zeigt und artikuliert. In derartigen Fällen ist der Körper nicht bloß unspezifisch Realisierer kognitiver Prozesse, seine Bewegungen bilden vielmehr das Medium, in dem wir den Sinn eines ästhetischen Gegenstands erfassen. (Die Körperbewegungen sind technisch gesprochen Interpretantia.)
Um besser verständlich zu werden, muss diese Überlegung natürlich ausbuchstabiert werden. Bevor ich mich an diese Arbeit mache, will ich anhand eines einfachen Beispiels, das ich mir bei Helmuth Plessner borge, deutlich machen, worum es mir im Kern geht:
Wenn ein Kind, das eine durchs Gras gleitende Schlange beobachtet, mit der Hand eine schlängelnde Bewegung macht, dann erfasst es mit Hilfe dieser Handbewegung die Form einer anderen Bewegung (die der Schlange) und es stellt zugleich dar, was es erfasst hat. Auch wenn es naheliegt, zu sagen, das Kind imitiere die Bewegung der Schlange nur,[1] vermag es mit Hilfe der Geste eine Struktur in seiner Umgebung zu erfassen, die für das Kind eine bestimmte Ordnung aufweist. Die Geste leistet daher etwas, das zur Orientierung in der Welt beiträgt, indem sie – unabhängig davon, dass das Kind über den Ausdruck oder den Begriff der Schlange verfügt – Aspekte dieser Welt als eine strukturierte Einheit zu erfassen hilft.
Im Folgenden möchte ich geltend machen, dass ästhetische Gegenstände, darunter erklingende Musik und Werke der bildenden Kunst, Herausforderungen für uns darstellen, die der Herausforderung, die für das Kind von der Bewegung der Schlange ausgeht, verwandt sind. Verwandt sind die Herausforderungen, insofern etwa von Musik die Frage ausgeht, in welchem Zusammenhang die unterschiedlichen Klangereignisse stehen, die die Musik ausmachen. Diesen Zusammenhang zu erfassen, indem wir die Musik mit Hilfe von Gesten, körperlichen Bewegungen, aber auch Vorstellungen nachvollziehen und dabei für uns strukturieren, ist nun nicht das Erfassen einer angebbaren Bedeutungvon Musik, sondern die Erfahrung ihres Sinns.
Ich werde nun versuchen, diese noch ziemlich abstrakten Überlegungen in Schritten verständlich zu machen. Dabei orientiere ich mich an den folgenden Thesen, die ich Ihnen zunächst im Überblick vorstelle:
(T1) Ästhetisches Erfahren erschöpft sich nicht im Wahrnehmen, es schließt Prozesse des Verstehens ein.
(T2) In Verstehensprozessen geht es uns darum, die Beschaffenheit eines Gegenstands (einschließlich seiner Veränderungen) so zu strukturieren, dass wir sie in für uns relevanten Hinsichten erfassen.
(T3) In Prozessen musikalischen Verstehens strukturieren wir Klangsequenzen auf einer grundlegenden Ebene wesentlich durch körperliche Nachvollzüge.
(T4) Dass körperliche Bewegungen im Falle der Musik privilegierte Nachvollzugsmodelle darstellen, hat strukturelle Gründe und entwicklungsgeschichtliche Ursachen. Dies macht verständlich, warum Tanz, gestischer Nachvollzug, aber auch das Einnehmen körperlicher Haltungen paradigmatische Formen musikalischen Verstehens darstellen.
(T5) Was für die Musik gilt, gilt mutatis mutandis auch für die bildende Kunst.
(T6) Die Entfaltung der Fähigkeit, ästhetische Erfahrungen zu machen und wertzuschätzen, sollte von spontanen Nachvollzugsmodellen ausgehen und erst im Anschluss daran Wissen und Kompetenzen vermitteln, die für das ästhetische Erfahren nur insofern Relevanz gewinnen, als sie es differenzieren und dazu beitragen können, die Spezifika der jeweiligen Erfahrungen zu artikulieren.
2 Ästhetisches Erfahren und Verstehen
Erfahrungen gehen nicht nur über Empfindungen, sondern auch über Wahrnehmungen hinaus. Mit Kant und Dewey können wir sagen, dass ‚Erfahrung’ ein Erfolgsbegriff ist und Erfahrungen erst dann vorliegen, wenn Empfindungen und Wahrnehmungen für uns unter einer Hinsicht zu einer Einheit zusammentreten, die wir als eine zusammenhängende Episode erfahren und erinnern können.
Während uns für alltägliche Erfahrungen die Hinsichten meist in Gestalt von Begriffen zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe wir Empfindungen und Wahrnehmungen als Elemente von Erfahrungen erfassen – etwa wenn wir eine Reihe von beobachteten Körperbewegungen zu Einheiten wie ‚Tischdecken’ oder ‚Schlendern’ zusammenfassen – geht von künstlerischen Artefakten die Frage aus, wie die Wahrnehmungen, die sie uns anbieten, zusammenhängen – ohne, dass wir gleich eine begrifflich strukturierte Antwort zu geben wüssten.
Daher kann man den Prozess der Strukturierung von Wahrnehmungen, die man angesichts eines künstlerischen Artefakts macht, als einen Prozess des Verstehens beschreiben – einen Prozess, in dem wir nach Hinsichten suchen, in deren Licht unsere Wahrnehmungen zu Einheiten zusammenfinden. Dieser Prozess erschöpft sich weder darin, sinnliche Eigenschaften des Gegenstands zu erfassen, noch ist sie – wie im Fall des Verstehens einer alltagssprachlichen Äußerung auf das Erfassen einer angebbaren Bedeutung des Gegenstands gerichtet.
Die allgemeinste Form des Verstehens kann man im Anschluss an Aristoteles folgendermaßen bestimmen: x zu verstehen, heißt x als ein y zu erfassen. Hier drei Einsetzungen in diese Form:
(V) x zu verstehen kann beispielsweise heißen,
[a] x als y-bedeutend zu erfassen (Bedeutungsverstehen), oder
[b] x als durch y begründbar zu erfassen (Handlungs- Personenverstehen), oder
[c] die sinnlich erfahrbare Beschaffenheit von x als durch y strukturierbar zu erfassen (ästhetisches Verstehen).
Gegenüber dem Bedeutungs- und Personenverstehen ist das ästhetische Verstehen durch deutlich höhere Freiheitsgrade ausgezeichnet. Während Erstere ziemlich festgelegte Erfolgskriterien haben, etwa das der Erfüllung der Relation des Gleichbedeutens bzw. das der Rationalisierung von Handlungen einer Person (also eines Verständlichmachens durch Gründe), können die Anforderungen an die erfahrungsbildende Strukturierung auf vielfältige Weisen erfüllt werden.
Im Licht dieser Überlegungen können wir zugleich verständlich machen, warum wir ästhetisches Verstehen wertschätzen. Denn insofern wir beim ästhetischen Verstehen
[a] einer uns gemäßen Tätigkeit
[b] frei und ungehindert
[c] und insofern vollendet nachgehen, als das Prinzip der Vollendung erst in jedem einzelnen Verstehensakt bestimmt wird,
sind all die Kriterien erfüllt, die Aristoteles in seiner Analyse der Lust in der Nikomachischen Ethik entwickelt.[2]
Eine Weise, die sinnlich erfahrbare Beschaffenheit von x als durch y strukturierbar zu erfassen, besteht nun meines Erachtens in nachvollziehenden Strukturierungen. In ihnen können Bewegungsformen, Gesten und Haltungen das y bilden, so dass das x, beispielsweise ein Musikstück oder eine Skulptur als eine durch diese Formen bestimmte Einheit verstanden werden kann.[3]
Das Verstehen, um das es beim Hören von Musik oder beim Betrachten von nicht abbildenden Bildern geht, ist in den weitaus meisten Fällen kein Bedeutungsverstehen. Denn das Verstehen von Bedeutung setzt voraus, dass die Bedeutung informativ angegeben werden kann und es also unterschiedliche Formen geben können muss, um dieselbe Bedeutung zu artikulieren. Das allerdings trifft im Fall des Musikverstehens nicht zu.
[a] Weil das, was für ein erklingendes Musikstück spezifisch ist, potenziell jedes sinnlich erfassbare Merkmal des Stücks einschließt, kann es nicht durch etwas vertreten werden, das sinnlich anders beschaffen ist und zugleich dieselbe Bedeutung hat.
[b] Was eine musikalische Aufführung oder eine musikalische Äußerung vertreten kann, ist dann bestenfalls ihre Wiederholung. Wiederholungen allerdings sind keine informativen
[c] Weil Musikstücke darüber hinaus typischerweise keine repräsentationale Funktion haben, haben sie weder Wahrheits- noch Erfüllungsbedingungen, relativ zu denen wir den Erfolg einer stellvertretenden Übersetzung überhaupt bewerten könnten.
Eine Weise, um vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten dennoch an der Idee festzuhalten, dass Musik mehr ist als „bloßes Spielwerk der Sinne“, nämlich etwas, das wir verstehen können, besteht nun darin, zu sagen, dass wir nicht ihre Bedeutung, sondern ihren Sinn erfassen – und zwar indem wir ihre sinnlich erfahrbare Beschaffenheit in Akten des Nachvollzugs strukturieren.
Als Beispiel für ein solches nachvollziehendes Verstehen hatte ich bereits die schlängelnde Handbewegung eingeführt, mit der ein Kind auf seine Wahrnehmung einer durchs Gras gleitenden Schlange reagiert. Genauso wenig wie im Fall der Schlange wird im Falle der Musik nicht erfasst, wovon ein Musikstück oder Bild handelt, sondern wie es sich mir zeigt. Ich artikuliere gewissermaßen – um in Anspielung auf Frege zu reden – die Gegebenheitsweise – mithin den Sinn –, der meinen Bezug auf das Stück strukturiert.
Um einen im Nachvollzug erfassten Sinn zu artikulieren, sind wir beim ästhetischen Verstehen nicht auf sprachlich artikulierte Begriffe festgelegt. Es kann – wie Wittgenstein sagt – so sein, dass ich die Frage, was die Pointe eines Stück ist, am besten mit Hilfe einer Geste beantworten kann.[4] Damit ist die These (T1) etwas genauer erläutert, so dass wir sie folgendermaßen reformulieren können:
(T1*) Ästhetische Erfahrungen schließen Akte eines Verstehens ein, die nicht im Erfassen der Bedeutung des Gegenstands der Erfahrung bestehen, sondern im Strukturieren sinnlicher Wahrnehmungen.
3 Körperliches Nachvollziehen
Was hat das nun mit unseren Körpern zu tun? Zwar sind Gesten und Haltungen körperliche Phänomene, aber dieser Hinweis bringt die Rolle des Körpers nur sehr äußerlich, als Realisierer dieser Bewegungen ins Spiel. Deutlicher wird die körperliche Dimension, wenn wir uns bewusst machen, dass Gesten keine arbiträren Zeichen sind, wie etwa das Melden im Seminar, sie stehen vielmehr in nicht arbiträren Relationen zu den Prozessen, die wir mit ihrer Hilfe strukturieren.[5]
Damit Gesten uns etwas verständlich machen können, müssen wir sie selbst in gewisser Hinsicht bereits verstehen. Wir müssen wissen, wie es sich anfühlt, eine Geste zu vollziehen oder eine Haltung einzunehmen. Wenn wir eine Geste beispielsweise als hastig, gleichwohl aber unkontrolliert und schließlich als abrupt innehaltend erfahren, dann bedienen wir uns Bewegungsvorstellungen, die wir vermöge unseres eigenen kinästhetisch-interozeptiven Wissens verstehen.
Wir wissen, wie es sich anfühlt, eine beruhigende Geste zu machen, wir sind mit ihrer Wirkung auf uns selbst vertraut, wir wissen, wie es ist, angespannt auf der Stuhlkante zu sitzen und vollkommen fokussiert einem Prozess zu folgen, oder nach der Anstrengung eines Tages tief atmend in den Schlaf überzugehen. Weil uns die Musik solche Bewegungen nahelegt und weil wir mit Hilfe dieser Bewegungen Aspekte der Musik zu strukturieren vermögen, erschließt sich uns ihr Sinn partiell in solchen körperlichen Nachvollzügen. Daher realisieren diese Bewegungen unser Verstehen nicht bloß, sondern artikulieren es gewissermaßen.
4 Bewegung als Grundkategorie des Musikalischen
Es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass meine Überlegungen wesentlich davon abhängen, dass zumindest zwischen Gesten und Musik eine Verwandtschaft besteht, weil beide – sowohl die Geste als auch die Musik – grundlegend durch Bewegungsformen bestimmt sind. Mit Blick auf die Musik bedarf das im Gegensatz zur Geste vielleicht einer Erläuterung.
Ich würde wiederum im Anschluss an Plessner gern sagen, dass auch die Musik grundlegend durch Bewegungsformen bestimmt ist[6] und zwar deshalb,
- weil musikalische Prozesse sich in der vertikalen Dimension des musikalischen Raums sowie innerhalb der musikalischen Zeit vollziehen, und nicht auf Bewegungsformen außerhalb der Musik zurückgeführt werden können.
- Dabei stellt die musikalische Zeit über die Dimension bloßer Abfolge hinaus eine Dimension dar, die
[a] durch Ordnungen (Metrum, Takt) bestimmt wird, die ihrerseits Orientierungsmuster in der Zeit bereitstellen; und
[b] durch Gewichtungen bestimmt wird, mithin durch energetische Eigenschaften, die zum jeweiligen Bewegungscharakter (zum rhythmischen Charakter im weiten Sinne) von Klangkonfigurationen beitragen.
Die Bestimmungen der Geste im gestischen Raum vollziehen sich wesentlich vermittels formerfassender exterozeptiver und interozeptiver Wahrnehmungen, man könnte auch sagen: vermittels leiblicher Bewegungskategorien.
- Wesentlich für die Bewegungen im gestischen Raum ist also nicht ihre physikalische Spur im cartesischen Raum, sondern die Erfahrungsdimension der Bewegungen, die sich fast jedem mitteilt, der über einen Körper, einen Leib derselben Art verfügt wie die gestikulierende Person.
- Solche Rezipienten von Gesten wissen, wie es sich anfühlt, etwas Schweres anzuheben, die Arme nach einer Anstrengung fallen zu lassen, die Hand zu einer Faust zu ballen oder mit den Fingern leicht auf den Handrücken zu tippen.
Daher stehen Gesten dafür bereit, musikalische Prozesse als solche zu erfassen, die ihrerseits wesentlich durch Bewegungsformen wie Drängen, Streben, Schweben, Innehalten, Auftauchen, Absinken usf. bestimmt sind.
Kurzum: Die Bedingungen für das Bestehen einer Abbildungsrelation zwischen Gesten und musikalischen Bewegungen werden nicht auf der Ebene gänzlich verschiedener physikalischer Prozesse (Schallereignisse und Körperbewegungen) erfüllt, sondern auf der Ebene der Erfahrung von Körperbewegungen und der Bewegung von Klängen in der musikalischen Raumzeit.
Es ist eine interessante Frage, warum wir musikalische Klänge als bewegte Klänge hören. Wahrscheinlich gibt es hierfür zwei Erklärungsansätze: Auch wenn wir keine Kulturen kennen, in denen wir nicht auf musikalische Praktiken treffen, so scheint unser Begriff von Musik ein historisches Differenzierungsprodukt zu sein, das längst nicht in allen Kulturen anzutreffen ist: In vielen Fällen existiert Musik gar nicht unabhängig von einer Einbindung in kultischePraktiken, darunter insbesondere solche, in denen die Musik mit Bewegungen in Form des gemeinsamen Tanzensverbunden ist.
In diesen Praktiken spielt Musik ganz offenkundig die Rolle eines Mediums, das Bewegungen und damit die Aktivitäten vieler koordiniert. Man kann vermuten, dass die Erfahrung von Synchronisation, Koordination und Zusammengehörigkeit zugleich eine Erfahrung von Stärke ist und daher positiv evaluiert wurde und wird. Denn mit Blick auf die Überlebenschancen und das Wohlergehen ist es ein Unterschied ums Ganze, ob Menschen als eine organisierte Einheit auftreten oder als vage zusammenhängende Individuen.
Eine andere Wurzel der Bewegungsförmigkeit der Musik liegt vielleicht in frühkindlichen Interaktionen, in denen protomusikalische Äußerungen eine wichtige Rolle für das Attunement zwischen Kind und Bezugsperson sowie für die Affektregulation spielen, wobei sie wiederum in Verbindung mit Bewegungen auftreten, sei es Wiegen oder Streicheln.
5 Bildende Kunst
Meine Überlegungen zur bildenden Kunst sind viel vorläufiger, und ich will sie hier primär nutzen, um zwei weitere Motive in den Blick zu bekommen, die ich bisher nicht erwähnt habe.
Natürlich gibt es auch im Kontext der bildenden Kunst Phänomene, die in Kategorien der Bewegung und des Gestischen zu beschreiben wären. Das liegt im Fall der Skulptur auf der Hand, aber auch im Falle von Bildern treten uns Formen mit gestischen Qualitäten gegenüber, wird unser Blick geführt, unser Sehen gelenkt.
Ein weiterer Aspekt der Verbindung mit unserer Körperlichkeit kommt ins Spiel, wenn wir uns neuere Wahrnehmungstheorien ansehen. So macht etwa Alva Noë geltend,[7] dass der Gehalt von Wahrnehmungsepisoden nicht unabhängig von körperlichem Wissen erläutert werden kann. Wenn sensomotorische oder enaktivistische Theorien der Wahrnehmung recht haben, dann geht die Geschichte unseres praktischen Umgangs mit Gegenständen in die Bestimmung des Gehalts unserer Wahrnehmungen ein – und zwar dadurch, dass wir eine bestimmte praktische Fähigkeit (ein praktisches Wissen) erworben haben: wir wissen praktisch und eher implizit, wie sich durch Veränderung unserer Position zu einem Gegenstand – und auch durch Veränderung des Gegenstands relativ zu uns – die Wahrnehmung dieses Gegenstands verändert.
Wenn unsere eigenen körperlichen Bewegungen oder die Bewegungen von Gegenständen relativ zu unseren Körpern mitbestimmen, was wir sehen – beispielsweise einen Ball, obwohl wir aus jeder konkreten Perspektive ja nur eine Kreisscheibe sehen, dann könnten wir uns vorstellen, dass wir im Betrachten von Bildern dieses praktische Wissen in Anschlag bringen und dabei zweidimensionale Objekte gewissermaßen mit einem Bewegungswissen aufladen, das unseren Interaktionen mit der körperlichen Welt entstammt und geeignet sein kann, etwas zur Strukturierung des Bildes beizutragen. Auf diese Weise lässt sich verständlich machen, dass wir beispielsweise auch Arbeiten der abstrakten Malerei mittels gestisch-motorischer Allusionen strukturieren.
Ein zweites Motiv, das ich nur kurz erwähnen will, das gleichwohl aber sowohl im Kontext des Musikhörens als auch beim Betrachten von Bildern eine Rolle spielt, knüpft an diese Skizze an: Wenn wir uns Zuhörerinnen und Zuhörer in klassischen Konzerten vergegenwärtigen, dann fallen diese meist nicht dadurch auf, dass sie tanzen oder gestikulieren. Spielt Nachvollzug bei ihnen also keine Rolle?
Wenn es sich um ein musikalisches Hören handelt, dann sollte Nachvollzug bei solchen Hörern eine Rolle spielen, und wir dürfen Beschreibungen ihres Erlebens entnehmen, dass sie die Musik mit Hilfe von Gesten oder Haltungen strukturieren, aber eben imaginativen und nicht praktisch vollzogenen Gesten oder Haltungen.
Strukturierende Nachvollzüge – seien es solche bildnerischer oder musikalischer Gegenstände – können wir dank unserer Vorstellungskraft unabhängig von den Beschränkungen konkreter körperlicher Vollzüge vollziehen. Aber alle diese Vorstellungen wurzeln in Erfahrungen, die wir als sich bewegende körperliche Wesen machen.
Daher sollte die in These 6 artikulierte Maxime halbwegs gut begründet sein:
Die Entfaltung der Fähigkeit, ästhetische Erfahrungen zu machen und wertzuschätzen, sollte von spontanen Nachvollzugsmodellen ausgehen und erst im Anschluss daran Wissen und Kompetenzen vermitteln, die für das ästhetische Erfahren nur insofern Relevanz gewinnen, als sie es differenzieren und dazu beitragen können, die Spezifika der jeweiligen Erfahrungen zu artikulieren.
Literatur
Aristoteles: Nikomachische Ethik. In: Flashar (Hg.): Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, Berlin 1999.
Cox, Arnie: Embodying Music: Principles of the Mimetic Hypothesis. In: Music Theory Online 17, 2011, S. 1–24. 2011. (http://mto.societymusictheory.org/issues/mto.11.17.2/mto.11.17.2.cox.pdf).
Cox, Arnie: Music and Embodied Cognition. Listening, Moving Feeling, and Thinking. Bloomington & Indianapolis 2016.
Dworschak, Thomas: Hörbarer Sinn. Eine philosophische Untersuchung über Wahrnehmung, Denken und Verstehen in der Musik. München 2017.
Plessner, Helmuth: Zur Anthropologie der Musik. In: Dux / Ströker (Hg.): Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1982, Bd. 7.
Vogel, Matthias: Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns. In: Becker / Vogel (Hg.): Musikalischer Sinn, Frankfurt am Main 2007, S. 352–361.
Vogel, Matthias: Musik und Geste – Wahlverwandtschaft oder zufällige Liaison. In: Eggers / Grüny (Hg.): Geste und Musik. Theorien, Ansätze, Perspektiven. Paderborn 2017, S. 51–70.
Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. Frankfurt am Main 1977
[1] In Anbetracht der Tatsache, dass nur wenige Tierarten die Fähigkeit besitzen, Aktivitätsformen anderer zu imitieren, unterschätzt schon die Rede vom „bloßen“ Imitieren, dass es hier um eine komplexe Fähigkeit geht, die für kulturelles Lernen eine fundamentale Rolle spielt. Der Aspekt der selektiven und produktiven Erfassung von Aktivitätsmustern oder Handlungsformen, sollte vielmehr als eine grundlegende Form des Verstehens solcher Gegenstände betrachtet werden. Überlegungen zu diesem Zusammenhang finden sich in Vogel: Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns, S. 352–361, sowie in Cox, Embodying music, und in Cox, Music and embodied cognition.
[2] Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1153 a 13.
[3] Nachvollzug steht in keinem Gegensatz zum Mitvollzug. Das „Nach“ in „Nachvollzug“ ist nicht temporal zu verstehen, sondern als Bestimmung des Gegenstands des Vollzugs (also referentiell, wie in „Nach Paragraph 9 gilt diese Handlung als …“). Zugleich soll mit diesem Ausdruck signalisiert werden, dass es auch Angemessenheitsbedingungen für Nachvollzüge gibt, die in der Beschaffenheit des Nachvollzugsobjekts liegen.
[4] Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, S. 548.
[5] Vgl. Vogel, Musik und Geste.
[6] Vgl. Plessner, Zur Anthropologie der Musik, sowie zum folgenden insbesondere Thomas Dworschak, Hörbarer Sinn, und Cox, Embodying music, § 9.
[7] Vgl. Noë, Action in Perception sowie Noë, Strange Tools.