Handkontakt
Künstlerische Lern- und Ausübungsprozesse sind ohne den Einsatz der Hände nicht denkbar. Bisweilen wird sogar der Hand selbst ein Denken unterstellt. In Musik und Bildender Kunst, aber auch in den Bereichen Theater und Tanz werden ästhetische Gegenstände mit den Händen gebildet, wird ihre Gegenständlichkeit im direkten Kontakt erfahren, und dieses An-wenden wird in pädagogischen Settings seit Langem auch auf Rezeptionsprozesse ausgeweitet. In beiden Fällen treffen das französische Wort comprendre und seine lateinischen Wurzeln den Kern besser als ein deutsches Verstehen: Es geht darum, etwas aufzunehmen und zu verarbeiten, man denke an das Kleinkind, das einen Gegenstand mit den Händen in den Mund nimmt, aus dem später dann Worte kommen. Hier wird buchstäblich etwas erfasst, der direkte Kontakt mit den Dingen wird aufgenommen, und im Kontakt steckt auch der Takt, hier geschieht ein Sich-Einschwingen in den Rhythmus der Gegenstände und des jeweils Anderen.
Das für künstlerische und musikalische Bildungsprozesse nicht nur in der Gefahr seines kulturell bedingten Verschwindens virulente Thema findet in den ersten Monaten des Jahres 2020 eine unvorhergesehene Ausweitung, die auf einmal alle betrifft: Die pandemische Situation ist geprägt durch Kontaktverbote, durch den bewussten Verzicht nicht nur auf das Anfassen, sondern auf das Handeln selbst, und auch der Handel im ökonomischen Sinn ist weitgehend ausgesetzt; Waren gehen nicht mehr von Hand zu Hand. Diese überwiegend unfreiwillige Erfahrung prägt das kollektive Bewusstsein und wird auch die Erinnerung prägen. Was bedeutet es, sie aus einer verantwortungsvoll aufgefassten pädagogischen Perspektive als aisthetische/ästhetische Erfahrung zu reflektieren und weiter zu denken? Der Mensch lernt in weiten Teilen immer noch handelnd und ist zugleich das einzige Lebewesen, das sein Handeln in der Kette Wahrnehmung – Urteil – Affekt – Handlungsfolge bewusst aussetzen kann; schmerzhaft gespürt im unterdrückten Impuls, jemanden in den Arm zu nehmen, aktiv umgelernt in Alltagshandlungen wie Einkauf oder Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Was bedeutet der Verzicht auf leibliche Anwesenheit für Bildungsprozesse? Gibt es eine künstlerische Wendung?
Für die geplante nächste Ausgabe der ZÄB werden Beiträge aus allen ästhetischen Disziplinen zu diesem Themenkreis erbeten.
Beiträge bitte bis zum 30.November 2020 an constanze.rora@hmt-leipzig.de