Skip to content
ZAeB
  • Blog
  • Aktuelle Ausgabe
  • Archiv
  • About
  • Impressum
Site Search
  • Handkontakt
    Gundel Mattenklott, Constanze Rora, Petra Kathke, Christina Griebel
  • Was wir sehen wenn wir sehen: Gedanken über Auge und Hand
    Martha Burkart
  • HANDkontakthand — Erfahrungen und Gedanken zum pädagogischen Handwerk unter Pandemiebedingungen
    Holger Erbach
  • Make your hands dirty: The magic wheel
    Christina Griebel
  • implicit touch
    Notburga Karl
  • Gedanken zu einer Ästhetik des Taktilen: Marlen Haushofers Roman Die Wand.
    Katja Hachenberg
  • Fragen an ein Wort, von einem Wort aus fragen
    Thomas Schlereth
  • Händische Responsivität im Kontext (post-)digitaler Präsenz
    Andreas Brenne und Katharina Brönnecke
  • Haptik im Geschichtsunterricht?! Umsetzung haptischer Zugriffe auf (historische) Gegenstände am Beispiel von Graffiti
    Martin Buchsteiner & Thomas Must
  • Umräumen in Kunsträumen — über Kunstseminare im Lockdown
    Thomas Heyl
  • Ästhetik als Schulfach – Vorstellung eines Unterrichtskonzepts
    Julia Jung
  • Künstlerisch-ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund von Distanzerfahrungen: Die Chance des Routinebruchs im Rahmen einer Theorie der Wiederholung
    Nadja Wolf
  • Spürendes In-Kontakt-Treten: taktil-kinästhetische Handfertigkeiten
    Elke Mark

Ästhetik als Schulfach – Vorstellung eines Unterrichtskonzepts

Julia Jung

[Beitrag als PDF]

Ein Stadt­führer voller Atmo­sphären

Es ist ein Stadt­führer der anderen Art: Nicht um Denkmäler, Museen oder Öff­nungszeit­en geht es, son­dern um Atmo­sphären von Plätzen, Gebäu­den und Straßen – in diesem Fall: in Frank­furt. Es sind Orte, drin­nen sowie draußen, deren Atmo­sphären die Schü­lerin­nen und Schüler als inter­es­sant, auf­fäl­lig oder als in irgen­dein­er Form beson­ders eracht­en. Nicht das Sehenswerte ste­ht im Vorder­grund, son­dern das, was „spürenswert“ ist. Im Inhaltsverze­ich­nis find­et man hier­von eine Auflis­tung, einen Überblick in Form ein­er atmo­sphärischen Stadtkarte oder aber Vorschläge für einen Atmo­sphärenspazier­gang ent­lang aus­gewiesen­er Orte. Wer die Möglichkeit hat, fol­gt der Empfehlung, die Orte zu bes­timmten Tages-, Uhr- oder gar Jahreszeit­en zu besuchen – denn natür­lich ändert sich mit den Zeit­en immer auch die Atmo­sphäre.

Die Stadt­führer, um die es hier geht, beze­ich­nen wir im Unter­richt als „Atmo­sphärische Stadt­führer“. Das Unter­richts­fach, in dem sie ange­fer­tigt wer­den, ist der Wahlpflich­tun­ter­richt Ästhetik, in den sich die Schü­lerin­nen und Schüler am Adorno-Gym­na­si­um in Frank­furt für zwei Jahre ein­wählen kön­nen. Die „Atmo­sphärischen Stadt­führer“ stellen das End­pro­dukt des ersten Teils des Schul­jahrs dar – im Sinne der Bewusst­seins­bil­dung, die mit dieser Arbeit ein­herge­ht, sind sie jedoch erst der Anfang ein­er anderen Art zu „sehen“. Dass sie damit Forschungsneu­land betreten, ist vie­len Schü­lerin­nen und Schülern zunächst nicht klar.

Das dem Fach zugrunde liegende Konzept wurde vor dem Hin­ter­grund ein­er pro­gres­siv­en Ästhetisierungswelle, wie sie Wolf­gang Welsch und Ger­not Böhme in immer weit­eren Bere­ichen unser­er heuti­gen Lebenswelt beobacht­en, von vier Lehrper­so­n­en aus unter­schiedlichen Fäch­ern inter­diszi­plinär entwick­elt. Im Rah­men des Artikels wird dieses Konzept vorgestellt und in Rela­tion geset­zt zu Fra­gen, die das Bil­dungssys­tem auf grundle­gende Weise betr­e­f­fen.

The­o­retis­ch­er Hin­ter­grund: Fortschre­i­t­ende Ästhetisierung­sprozesse

Bere­its einige Jahre alt und gle­ichzeit­ig aktueller denn je scheinen Welschs Beobach­tun­gen ein­er fortschre­i­t­en­den Ästhetisierung des alltäglichen Lebens (vgl. Welsch 2017/1990, S. 15 ff.). Ästhetisierung bedeutet: etwas Nichtäs­thetis­ches wird ästhetisch gemacht oder wird als solch­es begrif­f­en – etwas wird auf Empfind­un­gen hin aus­gelegt (vgl. Welsch 1996, S. 20/21). Der Ästhetik­be­griff, um den es hier geht, ist der­jenige ein­er neuen Ästhetik[1]wie sie Ger­not Böhme beschreibt: Dem Wor­tur­sprung ais­the­sis nach ver­standen als all­ge­meine Wahrnehmungslehre, betra­chtet sie die Dinge in ihren Erschei­n­un­gen (vgl. Böhme 2001, S. 29 ff.). Die Form der Wahrnehmung ist hier­bei eine sinnliche – es geht also nicht um die Dinge selb­st, die man wahrn­immt, son­dern um das, was man an ihnen empfind­et: deren Atmo­sphären (vgl. Böhme 2014, S. 15). Die neue Ästhetik fragt nach der Art und Weise dieser Wahrnehmung. Die Erweiterung des tra­di­tionellen Ästhetik­be­griffs, der allen voran die Kun­st und das Schöne umfasst, sieht Böhme in den verän­derten Anforderun­gen an die Ästhetik von außen begrün­det:

„Es ist die pro­gres­sive Ästhetisierung der Real­ität, d.h. des All­t­ags, der Poli­tik, der Ökonomie, und es ist die durch das Umwelt­prob­lem erzwun­gene Frage nach einem anderen Ver­hält­nis zur Natur, dem sie zu entsprechen ver­sucht. Für bei­de Auf­gaben ist die tra­di­tionelle Ästhetik von Kant bis Adorno nicht gerüstet. Eine vornehm­lich an Kun­st und dem Kunst­werk ori­en­tierte Ästhetik kon­nte die Ästhetisierung der Real­ität nur als Kitsch, Kun­sthandw­erk oder als ange­wandte Kun­st mit abfäl­li­gen Blick streifen.“ (Böhme 2014, S. 7.)

Spricht man von ein­er Ästhetisierung des Realen oder der Real­ität, meint dies im All­ge­meinen die „ästhetis­che Auf­machung, die Zurich­tung und […] Insze­nierung von allem, wom­it und worin wir leben“ (Böhme 2001, S. 20). Eine solche Ästhetisierung reicht von der Gestal­tung von Städten und Essen (Stich­wort „Food­styling“), von der eige­nen Auf­machung und Erschei­n­ung über das Kon­sumver­hal­ten und ver­meintlichen Erleb­niss­chaf­fung bis hin zur eige­nen Iden­titätss­tiftung, zur Poli­tik und zum gesellschaftlichen Denken. Es geht um Insze­nierun­gen und um Schein­wel­ten (vgl. Böhme 2014, S. 13 ff.). Welsch unter­schei­det hier eine Ästhetisierung auf vorder­gründi­ger Ebene – eine Art „Überzuckerung des Realen mit ästhetische[m] Flair“ (Welsch 1996, S. 11) – mit ein­er tiefer­ge­hen­den. Erstere beze­ich­net er als Ober­flächen-, let­ztere als Tiefenäs­thetisierung (vgl. ebd., S. 10 ff.). Im Gegen­satz zur Ober­flächenäs­thetisierung bet­rifft die Tiefenäs­thetisierung

„grundle­gende Struk­turen der Wirk­lichkeit als solch­er: der materiellen Wirk­lichkeit im Gefolge der neuen Mate­ri­al­tech­nolo­gien, der sozialen Wirk­lichkeit infolge ihrer medi­alen Ver­mit­tlung und der sub­jek­tiv­en Wirk­lichkeit infolge der Ablö­sung moralis­ch­er Stan­dards durch Selb­st­stil­isierun­gen.“ (Welsch 1996, S. 20)

Eine „einst für hart gehal­tene Wirk­lichkeit erweist sich als verän­der­bar, neu kom­binier­bar und offen für die Real­isierung beliebiger ästhetisch kon­turi­ert­er Wün­sche.“ (ebd., S. 14/15)

Es ist offen­sichtlich, dass mit der Ästhetisierung zwei Wel­ten entste­hen (Böhme 2014 S. 13 ff.): Eine – immer dom­i­nan­tere – Welt des Scheins, der Auf­machung, des Sich-Zeigens – Böhme beze­ich­net sie als „the­atralis­ches Zeital­ter“, als das „Zeital­ter eines neuen Barocks“ (vgl. ebd., S. 14) – und eine dahin­ter­ste­hende Real­ität mit dem Sein der Dinge (vgl. ebd., S. 13/14). Mit der Dom­i­nanz der Schein­wel­ten[2] sieht Böhme in der Ästhetisierung zugle­ich einen Prozess der Ver­drän­gung des Realen mit der Folge, dass das Reale immer stärk­er in den Hin­ter­grund gerät oder gar ver­schwindet (vgl. ebd.).

Betra­chtet man die Ästhetisierung der Real­ität unter kri­tis­chen Gesicht­spunk­ten, ergibt sich auf der einen Seite dur­chaus ein gewiss­es Poten­zial: Man denke beispiel­sweise an die Ver­schönerung von Städten, im Sinne ein­er „Wirk­lichkeit­skos­metik“ (Welsch 1996, S. 13) etwa durch Beleuch­tung oder architek­tonis­che Gestal­tung (vgl. hierzu auch Has­se 2012, S. 33/34), an die Gestal­tung von Atmo­sphären zur Erzeu­gung pos­i­tiv­er Ges­timmtheit­en oder an die Sen­si­bil­isierung des eige­nen Selb­st durch eine bewusste Auseinan­der­set­zung mit ästhetis­chen Inhal­ten (s. hierzu auch Welsch 1996, S. 58 ff.).

Kri­tisch wird es jedoch, wenn es zu ein­er Ver­tauschung von Schein und Sein kommt und damit grundle­gende Struk­turen betrof­fen sind, wenn die Schein­wel­ten bedeut­samer wer­den als die dahin­ter­ste­hende Real­ität, kurz: wenn die Ästhetik zur „Essenz“ wird (vgl. Welsch 1996, S. 14 ff. und vgl. Böhme 2014, S. 13/14). Grundbedürfnisse bleiben dann unbe­friedigt und die Wirk­lichkeit nimmt einen Charak­ter der Unverbindlichkeit an, des Schwebens, der Verän­der­barkeit (vgl. Welsch 1996, S. 21): „Die Erleb­nisse sind wohl gar keine. Sie sind eher schal und öd. Deshalb sucht man schnell nach dem näch­sten Erleb­nis und hastet so von ein­er Ent­täuschung zur anderen.“ (ebd., S. 264) Dies bet­rifft beispiel­sweise Bere­iche wie das Reisen, Selb­st­darstel­lun­gen in sozialen Net­zw­erken oder das Kon­sum- und Essver­hal­ten. Slo­gans wie „Kauf dich glück­lich“ oder „Mehr als nur Essen“ stellen hier­für Beispiele aus der Wer­bung dar. Böhme sieht dahin­ter­ste­hend ein Wirtschaftssys­tem beziehungswiese eine bes­timmte Form des Kap­i­tal­is­mus und beze­ich­net dies als „ästhetis­che Ökonomie“ (vgl. Böhme 2014 S. 45 ff.). Die Kri­tik daran beste­ht in der „Erre­gung der Emo­tio­nen“ (ebd., S. 45) und dem „Erzeu­gen von Begehrlichkeit­en“ (ebd.) des Men­schen unter gle­ichzeit­iger Nicht­be­friedi­gung; eine „Ver­schwen­dungsökonomie“ (ebd., S. 47) – und eine „gesellschaftliche Macht“ (ebd., S. 48): „Es gibt ästhetis­che Bedürfnisse und es gibt eine ästhetis­che Ver­sorgung. Es gibt allerd­ings die ästhetis­che Lust, aber es gibt auch die ästhetis­che Manip­u­la­tion.“ (Böhme 2014, S. 48)[3]

Die Kri­tik ein­er ständi­gen Steigerung bis hin zu einem Zuviel, bet­rifft weit­er unsere Wahrnehmung als solche, läuft ein stetiges Mehr an Ästhetisierun­gen – Welsch spricht hier von ein­er „Hyper­äs­thetisierung“ (Welsch 1996, S. 57) – irgend­wann ger­ade auf ihr Gegen­teil hin­aus (vgl. ebd.): „Wo alles schön wird, ist nichts mehr schön; Dauer­bereg­nun­gen führen zu Abs­tump­fung; Ästhetisierung schlägt in Anäs­thetisierung um.“ (ebd.) Es ist dann ein Zus­tand ein­er ständi­gen „ästhetis­chen Über­drehtheit“ (ebd.) und Über­reizung – ein­herge­hend mit gle­ichzeit­igem Wahrnehmungsver­lust, mit der Entwe­ichung der Sinnlichkeit und mit ein­er Betäubung (vgl. ebd., S. 259 und Welsch 2017/1990, S. 12).

 „[Was bleibt ist] eine Atmo­sphäre, eine dif­fuse Stim­mung, die wir kaum mehr beschreiben kön­nen. Wir nehmen nicht mehr bewusst wahr, spüren aber etwas. ´Irgend­wie´, wie das Zauber­wort für diese Erfahrung lautet, gefällt oder miss­fällt uns irgen­det­was. Mehr wis­sen wir davon nicht zu sagen.“ (Liess­mann 2010, S. 38/39)

Es sind allem voran ästhetis­che Gründe, die somit dafür sprechen, diesen „Ästhetisierungstrubel“ (Welsch 1996, S. 57) zu durch­brechen und „ästhetis­che Brach­flächen“ (ebd.) zu schaf­fen: „Im Bom­barde­ment der Sinne benöti­gen wir Zonen der Unter­brechung, merk­liche Pausen, Stille.“ (ebd., S. 259)[4]

„Atmo­sphärische Kom­pe­tenz“ im Rah­men ein­er ästhetis­chen Bil­dung

Worum es bei Ästhetisierun­gen let­z­tendlich immer geht, das sind die Atmo­sphären – um deren Wahrnehmung und um deren Gestal­tung. Ger­ade vor dem beschriebe­nen Hin­ter­grund fortschre­i­t­en­der Ästhetisierung­sprozesse und vor dem Hin­ter­grund des Poten­zials aber auch der Gefahr, die solche Prozesse mit sich brin­gen, ste­ht Böhmes Forderung zur Her­aus­bil­dung ein­er „atmo­sphärischen Kom­pe­tenz“ im Rah­men ein­er ästhetis­chen Erziehung (vgl. Böhme 2007, S. 40).[5] Es geht darum, Atmo­sphären – in ihrem Charak­ter, aber auch in der Manip­u­la­tion – wahrzunehmen, sich bewusst darauf einzu­lassen und auch, aus pro­duk­tiv­er Sicht, solche zu erzeu­gen und zu gestal­ten (vgl. ebd.). Böhme sieht darin ein großes Poten­zial, ger­ade auch für das heutige Zeital­ter:

„Der bewusste Umgang mit Atmo­sphären ver­schließt sich dur­chaus nicht der mod­er­nen Welt. Im Gegen­teil: er eröffnet sich ger­ade Grundzü­gen dieser mod­er­nen Welt und lässt sich kri­tisch auf sie ein. Es ist die Avant­garde der mod­er­nen Kun­st mit ihrem Zug ins Per­for­ma­tive, es ist die neue Musik mit ihrer Ten­denz zur Raumkun­st zu wer­den, es ist die Ästhetisierung und Insze­nierung der All­t­agswelt, die Atmo­sphäre als Grund­be­griff ein­er neuen Ästhetik nahegelegt haben. Mit Atmo­sphären umge­hen zu ler­nen macht den einzel­nen Men­schen ger­ade zum kri­tis­chen Teil­nehmer und Mitwirk­enden dieser Welt, die wir als Mod­erne ver­ste­hen.“ (ebd., S. 42)

Eine pauschal­isierende Wer­tung von Ästhetisierung­sprozessen ist, wie im vorigen Abschnitt deut­lich wurde, nur schw­er vorzunehmen. Sich­er ist jedoch, und das muss Auf­gabe der Bil­dung sein, dass es ein Wis­sen darum braucht, ver­bun­den mit einem kri­tis­chen Bewusst­sein und der Fähigkeit, wahrzunehmen, zu reflek­tieren, sich in diesen Prozessen zurechtzufind­en und zu verorten – eine atmo­sphärische Kom­pe­tenz also, die die Men­schen zu eben diesen kri­tis­chen und spüren­den Teil­nehmerin­nen und Teil­nehmern macht, von denen Böhme spricht.[6]

Betra­chtet man das aktuelle Fächerange­bot an Schulen, so stellt sich vor diesem Hin­ter­grund die Frage nach ein­er zu disku­tieren­den Notwendigkeit, das Ange­bot durch ein neues Fach zu erweit­ern, das sich sowohl expliz­it mit der beschriebe­nen The­matik als Lernge­gen­stand als auch damit zusam­men­hän­gend mit der Her­aus­bil­dung ein­er atmo­sphärischen Kom­pe­tenz befasst. Mehr noch: Mit fortschre­i­t­en­der Ästhetisierung erhöht sich auch die Dringlichkeit noch ein­mal mehr – im Hin­blick auf das Indi­vidu­um, die Gesellschaft und die Umge­bung, in der wir leben.

Erweiterung des Fächerange­bots – Ästhetik als eigen­ständi­ges Unter­richts­fach

Die Forderung hin­sichtlich ein­er generellen Fächer­erweiterung ist nicht neu – aktuell gibt es beispiel­sweise auf poli­tis­ch­er Ebene Vorschläge und Diskus­sio­nen darum, ob und inwiefern Dig­i­tal­ität oder Kli­maschutz – als eigen­ständi­ges Fach oder als Teil bere­its beste­hen­der Fäch­er –  in den Lehrplan ver­ankert wer­den soll­ten.[7]

Forderun­gen dieser Art kön­nen naturgemäß nie gestellt wer­den, ohne nicht auch grund­sät­zliche Fra­gen aufzuw­er­fen, auf die es Antworten zu find­en gilt: Beispiel­sweise muss disku­tiert wer­den, welche Rolle Schule heute generell im Hin­blick auf sich auf­drän­gende (lebens-)weltliche The­men wie etwa genan­nte Ästhetisierun­gen im All­t­ag oder aber auch Dig­i­tal­isierung, Umwelt- und Lär­mver­schmutzung spie­len kann, soll, muss, und welche bilden­den Maß­nah­men und The­men der Gesellschaft und den Eltern­häuser zuteil­w­er­den soll­ten. Sich­er ist: Schule kann nicht, kann nie, alles leis­ten. Einiges muss sie aber – vielle­icht ger­ade heute: Die zunehmende Kom­plex­ität und Dringlichkeit einzel­ner The­men sowie die ras­ante Geschwindigkeit, mit der sich diese stetig weit­er­en­twick­eln – um ihrem all­ge­meinen Bil­dungsauf­trag gerecht zu wer­den, ist es für die Schule unab­d­ing­bar, sich hier einzuk­linken. Natür­lich kann sie nicht alles leis­ten, kann sie nicht alle Gebi­ete abdeck­en, auch die Gesellschaft ist hier sich­er in ihrer Pflicht zu sehen, aber in ein­er Starre verbleiben und sich ver­schließen darf sie eben auch nicht. Vielmehr braucht es Flex­i­bil­ität, um – etwa durch eine Fächerange­bot­ser­weiterung – auf Verän­derun­gen reagieren und sich an der jew­eili­gen Lebenswelt Her­anwach­sender ori­en­tieren zu kön­nen.

Um dem gerecht zu wer­den bedarf es ein­er bre­i­tan­gelegten Diskus­sion auf ver­schiede­nen Ebe­nen: Welche The­men sind aktuell „dringlich“? Kön­nen ältere Inhalte erset­zt wer­den oder genügt es vielle­icht, darauf zu ver­weisen? Müssen weit­ere Fäch­er hinzuge­fügt wer­den? Wie viel Kom­plex­ität und Mehr an Inhal­ten, The­men und Fäch­ern kön­nen Schü­lerin­nen und Schüler aber über­haupt noch (er-)tragen? Braucht es eine noch stärkere oder gar eine andere Kom­pe­ten­zori­en­tierung? Was passiert, wenn die Kluft zwis­chen dem Innen und dem Außen der Schule zu groß wird? Was macht das mit den Kindern und jun­gen Erwach­se­nen? Wie geht es ihnen dabei? Wie kom­men sie zurecht? Und: Kom­men sie über­haupt noch zurecht? Zahlre­iche weit­ere Fra­gen kön­nten hier noch hinzuge­fügt wer­den. Die Antworten sind nicht ein­fach, ver­mut­lich braucht es einen Mit­tel­weg.

Vor dem Hin­ter­grund solch­er Fra­gen und vor dem Hin­ter­grund der beschriebe­nen the­ma­tis­chen Dringlichkeit stellt der Artikel eine Fächer­erweiterung um das Fachs Ästhetik zur Diskus­sion – am Adorno-Gym­na­si­um in Frank­furt wird dies bere­its prak­tiziert. Das Gym­na­si­um besitzt ein bre­ites Wahlpflich­tange­bot[8]. Neben Nach­haltig leben oder Robotik ist Ästhetik eines dieser Wahlpflicht­fäch­er. Es ist der Ver­such, der Kom­plex­ität der Lebenswelt zumin­d­est ansatzweise gerecht zu wer­den, wohlwis­send, dass durch dieses Fächerange­bot auch die Schul­welt ein Stück weit kom­plex­er gemacht wird. Die Tat­sache, dass sich die Notenge­bung in diesen Fäch­ern nur im pos­i­tiv­en Sinne auswirken kann, erlaubt, sie eher als gewählten Zusatz denn als Pflicht zu sehen. Damit wird ein Mit­tel­weg eingeschla­gen, der den Schü­lerin­nen und Schülern eine ganzheitliche Bil­dung unter Bezug­nahme sich aktuell auf­drän­gen­der neuer The­men ermöglicht, ohne sie jedoch zu sehr zu vere­in­nah­men.

Als Teil­ge­bi­et viel­er Unter­richts­fäch­er stellt die Ästhetik im Grunde genom­men nichts Neues dar: In kün­st­lerischen Fäch­ern etwa ist sie an ästhetis­che Erfahrun­gen geknüpft, manche Fäch­er beschäfti­gen sich damit inhaltlich, meist jedoch eher impliz­it und gebun­den an andere The­men, andere Fäch­er wiederum fördern Kom­pe­ten­zen, die mit der Ästhetik im Zusam­men­hang ste­hen. Hier denke man beispiel­sweise im Musikun­ter­richt an die Förderung ein­er dif­feren­zierten Wahrnehmungs­fähigkeit (s. z.B. hes­sis­ch­er Lehrplan Musik) anhand von The­men wie Sound­scapes, Klangspaziergän­gen (vgl. hierzu Schafer 2002/1992), der Beschäf­ti­gung mit der The­matik der Stille[9] oder, auf gestal­ter­isch­er Ebene, an die Erzeu­gung von Atmo­sphären im Rah­men von Büh­ne­nauftrit­ten[10].

Wie im vorigen Abschnitt deut­lich wurde, ist die The­matik der Ästhetik und der Ästhetisierung­sprozesse jedoch so kom­plex und weitre­ichend, dass die Beschäf­ti­gung damit im Rah­men des Musikun­ter­richts oder ander­er Fäch­er als ein The­ma von vie­len kaum aus­re­icht – kaum aus­re­ichen kann, wenn man zusät­zlich auch der zunehmenden Kom­plex­ität fach­lich­er The­men als solchen gerecht wer­den möchte.[11]

Ästhetik als eigen­ständi­ges Fach erlaubt eine Aus­lagerung beziehungsweise Erweiterung ästhetis­ch­er Inhalte aus herkömm­lichen Unter­richts­fäch­ern – und vor allem erlaubt es eine the­ma­tis­che Ver­tiefung. Nicht als Bei­w­erk ander­er The­men beziehungsweise als Teil­bere­ich ander­er Fäch­er wird sie dann ver­standen, son­dern als eine eigen­ständi­ge Päd­a­gogik, die eine gezielte ästhetis­che Bil­dung als solche ermöglicht.[12]

Das Unter­richt­skonzept – The­men, Inhalte und Ziele

Im Diskurs ein­er ästhetis­chen Erziehung beziehungsweise Bil­dung gibt es bere­its sowohl auf grund­la­gen­the­o­retis­ch­er als auch auf prax­isori­en­tiert­er Ebene Konzepte und Ideen hin­sichtlich ein­er Ein­bet­tung ästhetis­ch­er Inhalte in unter­schiedliche Lernkon­texte. Ein Beispiel find­et sich bei Diet­rich et al. (2013/2012)[13]: Mit ihren vier Teildimen­sio­nen „Fin­ger­fer­tigkeit­en“, „Alpha­betisierung“, „Selb­staufmerk­samkeit“ und „Sprache“ beschreibt sie wie ästhetis­che Erziehung und ästhetis­che Bil­dung, beispiel­sweise in den Musik- , Kun­st- oder auch Sprache­nun­ter­richt einge­bet­tet, gelin­gen kön­nen (vgl. ebd., S. 26ff.; „FASS-Schema“). Etwas all­ge­mein­er for­muliert umfassen ihre Dimen­sio­nen damit die Bere­iche Wahrnehmen und Gestal­ten (jew­eils der Umge­bung, der Objek­te und des eige­nen Selb­st), explizites und implizites Wis­sen sowie das Sprechen darüber.[14]

Ähn­lich ist auch das im Fol­gen­den vorgestellte Unter­richt­skonzept aufge­baut. Der Unter­schied ist, dass hier die Ästhetik selb­st zum Lernge­gen­stand wird, anhand dessen Fähig- und Fer­tigkeit­en entwick­elt wer­den sollen. Die Darstel­lung des Konzepts erfol­gt skizzen- und beispiel­haft und stellt eine von mehreren didak­tis­chen Möglichkeit­en dar, wie Ästhetik als eigen­ständi­ges Unter­richts­fach inhaltlich gefüllt wer­den kann.

Das Konzept wurde von vier Lehrper­so­n­en[15] des Adorno-Gym­na­si­ums gemein­sam entwick­elt. Da die Ästhetik, ver­standen als all­ge­meine Wahrnehmungslehre (s.o.), Teil unter­schiedlich­er Diszi­plinen ist beziehungsweise in ver­schiedene Bere­iche hinein­re­icht, ist auch das Schul­fach inter­diszi­plinär angelegt: Lehrper­so­n­en aus den Fäch­ern Musik, Philoso­phie, Darstel­len­des Spiel, Poli­tik­wis­senschaft und Kun­st unter­richt­en die Schü­lerin­nen und Schüler im Teamteach­ing, derzeit im ersten beziehungsweise zweit­en Durch­lauf[16].

Inhaltlich ist das Fach Ästhetik, in Ori­en­tierung an den vier Hal­b­jahren, in vier Teile gegliedert. Zwei Teile leg­en den Fokus auf eine the­o­retis­che Auseinan­der­set­zung mit ästhetis­chen Inhal­ten: Es geht zum einen um die eigene sinnlich-reflex­ive Wahrnehmung der Umge­bung und Wahrnehmung­sprozesse inner­halb der Gesellschaft sowie zum anderen um die Wirkung des eige­nen Selb­st und ander­er Indi­viduen nach außen. Im Rah­men der weit­eren Teile wer­den die besproch­enen Inhalte zu ein­er eige­nen Per­for­mance ver­ar­beit­et, wodurch noch ein­mal eine andere, ästhetisch-kün­st­lerische Ebene hinzugenom­men wird. Jed­er Teil endet jew­eils mit ein­er zusam­men­fassenden Reflex­ion. Alle Teile gehen in ihren Inhal­ten von der Ästhetik aus: Entwed­er wird die Ästhetik selb­st zum Lernge­gen­stand oder ein ander­er Gegen­stand dient dazu, ästhetis­che Prozesse anzus­toßen und zu ermöglichen.

Erstes Schul­jahr

Im ersten Hal­b­jahr beschäfti­gen sich die Schü­lerin­nen und Schüler zunächst mit der Wahrnehmung der Umge­bung: Nach ein­er the­o­retis­chen Grund­lage zur Begriff­sklärung – Was ist Ästhetik? Was bedeutet neue Ästhetik? Was sind Atmo­sphären? Was sind Ästhetisierung­sprozesse? – geht es darum, den Blick der Schü­lerin­nen und Schüler zu schär­fen und den eige­nen All­t­ag durch die „ästhetis­che Brille“ zu sehen: Welche Ästhetisierung­sprozesse gibt es generell und im eige­nen All­t­ag? Welch­es Poten­zial und welche Kri­tikpunk­te ergeben sich daraus? Beispiele wer­den gesam­melt und zu Präsen­ta­tio­nen ver­ar­beit­et. Ein weit­er­er Bezug zur Lebenswelt der Schü­lerin­nen und Schüler beste­ht in der Frage nach prä­gen­den atmo­sphärischen Erfahrun­gen und danach, wie Atmo­sphären erzeugt wer­den kön­nen. Als kleine Prax­isübung wer­den dazu Atmo­sphären im Schul­ge­bäude und von einzel­nen Gegen­stän­den im Raum gespürt und beschrieben sowie – zum Beispiel durch die eigene Stimme – selb­st erzeugt.

Im Speziellen geht es bei der Erzeu­gung von Atmo­sphären um die Musik. Neben ein­er the­o­retis­chen Auseinan­der­set­zung wer­den bei einem „Klangspazier­gang“ (vgl. hierzu Schafer 2002/1992)  bewusst Geräusche und Klänge wahrgenom­men und in Bezug auf deren atmo­sphärische Wirkung auf das eigene Selb­st beschrieben. Sel­biges passiert im Rah­men eines Architek­turspazier­gangs, dieses Mal allerd­ings im Hin­blick auf For­men, Far­ben und Gestal­ten der Stadtar­chitek­tur. Ver­tiefend kön­nen hierzu noch Refer­ate der Schü­lerin­nen und Schüler durchge­führt wer­den (z.B. zu The­men wie Far­ben­lehre, Bauhausar­chitek­tur, Wal­dorf­schu­lar­chitek­tur). Das erste Hal­b­jahr endet mit der eigen­ständi­gen Erstel­lung eines „Atmo­sphärischen Stadt­führers“: In Eige­nar­beit „sam­melt“ jede Schü­lerin und jed­er Schüler Atmo­sphären der Stadt, indem sie sich selb­st zu Orten ihrer Wahl begeben, dort ver­weilen, die Atmo­sphären spüren und beschreiben. Die gesam­melten Atmo­sphären wer­den abschließend im Stil eines Stadt­führers auf­bere­it­et. Eine abschließende Reflex­ion­sphase soll die Schü­lerin­nen und Schüler dazu anre­gen, darüber nachzu­denken, ob sich etwas in ihrem „Sehen“ verän­dert hat: Nehmen sie nun anders wahr? Spüren sie mehr? Richtet sich die Aufmerk­samkeit auch auf andere Dinge als zuvor? Ist der Umgang mit äußeren Ein­flüssen bewusster, aufmerk­samer, anders? Oder ist vielle­icht auch alles gle­ich geblieben?

Im zweit­en Hal­b­jahr liegt der inhaltliche Fokus nicht mehr auf der Wahrnehmung und Wirkung der äußeren Umge­bung durch und auf das eigene Selb­st, son­dern auf der Wirkung des Ichs nach außen: Welche Darstel­lungs­for­men gibt es im All­ge­meinen, in sozialen Net­zw­erken, in der Kun­st? Wie wirke ich selb­st? Wie möchte ich wirken? Diese Fra­gen zie­len darauf ab, das Bewusst­sein der Schü­lerin­nen und Schüler zu erweit­ern. Inhaltlich dienen sie als Grund­lage für die Per­for­mance, die sie selb­st­ständig entwick­eln sollen. Hierzu wer­den zunächst ver­schiedene Übun­gen aus der The­aterkun­st durchge­führt, aus denen sich einzelne Bausteine und am Ende eine gesamte Per­for­mance ergeben, die zum Abschluss des Schul­jahres präsen­tiert wer­den kann. Auch hier ist eine abschließende Reflex­ion­sphase von großer Bedeu­tung.

1. Schul­jahr Inhalt – Über­sicht
1. Hal­b­jahr

 

 

Fäch­er:

Musik und Philoso­phie

The­ma: Wahrnehmung der Umge­bung (u.a. Böhme, Welsch)

Ästhetik als ais­the­sis: Was ist Ästhetik?, Tra­di­tionelle und neue Ästhetik, Ästhetisierung­sprozesse im All­t­ag, Ästhetis­che Arbeit

Atmo­sphären als Haupt­the­ma der neuen Ästhetik: Der Begriff der Atmo­sphäre, Atmo­sphären selb­st spüren, Erzeu­gen von Atmo­sphären

Musik und Atmo­sphäre: Klan­gat­mo­sphären, Klangspaziergänge

Architek­tur und Atmo­sphäre: For­men- und Far­ben­lehre, Stadtar­chitek­tur, Wal­dorf­schulen, etc.

Erstel­lung eines Atmo­sphärischen Stadt­führers

Reflex­ion: Bewusst­seins- und Wahrnehmungsverän­derung?

2. Hal­b­jahr

 

 

Fäch­er:

Musik und Darstel­len­des Spiel

The­ma: Wahrnehmung des eige­nen Ichs auf die Umge­bung

Darstel­lungs­for­men des Sub­jek­ts: u.a. in sozialen Net­zw­erken

Wirkung des eige­nen Selb­st: Wie wirke ich nach außen? Wie möchte ich wirken?

Kün­st­lerische Darstel­lun­gen: u.a. Beispiele  aus der Per­for­mancekun­st

Entwick­lung ein­er eige­nen Per­for­mance und Auf­führung: Ästhetik wird zur Kun­st

Reflex­ion: Bewusst­seins- und Wahrnehmungsverän­derung?

Über­ge­ord­nete Ziele Inhalt: The­o­retis­che Grund­la­gen­schaf­fung, erste Berührung mit Darstel­lungskun­st

Kom­pe­ten­zen: Bewusst­seins­bil­dung, Förderung des kri­tis­chen Denkens und der dif­feren­zierten Wahrnehmungs­fähigkeit, Förderung der Artiku­la­tions­fähigkeit über die Sprache

Tabelle 1

Zweites Schul­jahr

Im Sinne ein­er Ver­tiefung und Weit­er­führung des ersten Schul­jahres ste­ht im zweit­en Jahr der Aspekt des eige­nen Han­delns und der Ein­fluss ander­er darauf im Vorder­grund: Wie wer­den wir in unser­er Wahrnehmung bee­in­flusst und zu welchem Zweck? Diese Kern­frage umfasst die Beschäf­ti­gung mit The­men wie Manip­u­la­tion, Sug­ges­tion und Pro­pa­gan­da. Es geht um die Ästhetisierung der Gewalt, um die Bee­in­flus­sung durch Sprache und Bilder – Wer­bung, Plakate, poli­tis­che Reden – sowie durch Musik. Gesellschaft­skri­tis­che und hochak­tuelle The­men wie Fram­ing, Ver­schwörungs­the­o­rien, Fake News und Halb­wahrheit­en bilden die Grund­lage zur inhaltlichen Auseinan­der­set­zung. Die das erste Hal­b­jahr abschließende Reflex­ion fragt auch hier wieder nach ein­er Bewusst­seins- und weit­er­führend auch nach ein­er möglichen Hand­lungsverän­derung: Hat sich etwas in der Wahrnehmung, im Bewusst­sein verän­dert? Und: Hat sich etwas im alltäglichen Han­deln der Schü­lerin­nen und Schüler verän­dert?

Ähn­lich wie im ersten Schul­jahr entwick­eln die Schü­lerin­nen und Schüler auch im zweit­en Hal­b­jahr dieses Jahres eine eigene Per­for­mance auf Grund­lage der vor­ange­gan­genen Inhalte. Auch hier endet das Schul­jahr mit ein­er Auf­führung und ein­er abschließen­den Reflex­ion­sphase.

2. Schul­jahr Inhalt – Über­sicht
1. Hal­b­jahr

 

 

Fäch­er:

Poli­tik, Kun­st und Musik

The­ma: Ein­fluss ander­er auf das eigene Han­deln: Manip­u­la­tion, Sug­ges­tion und Pro­pa­gan­da. Kern­frage: Wie wer­den wir in unser­er Wahrnehmung bee­in­flusst und zu welchem Zweck?

Ästhetisierung der Gewalt:  Wie wird die Wahrnehmung von Ereignis­sen bee­in­flusst?

Bee­in­flus­sung durch Sprache: Wer­bung, Plakate und poli­tis­che Reden – Fram­ing, Halb­wahrheit­en und Ver­schleierung

Mei­n­ungs­bilder: Doku­men­tar­fo­tografie, Pro­pa­gan­dakun­st und Werbespots

Geräuschde­sign und funk­tionaler Ein­satz von Musik: von der Autotür bis zur Marschmusik

Bewusste Destabilisierung/Zerstörung ein­er geteil­ten Vorstel­lung von Wahrheit und Real­ität: Ver­schwörungs­the­o­rien, Fake News und Hex­en­jag­den

Reflex­ion: Bewusst­seins- und Hand­lungsverän­derung?

2. Hal­b­jahr

Fäch­er:

Poli­tik, Kun­st und Musik

The­ma: Erstel­lung ein­er eige­nen kün­st­lerisch-prak­tis­chen Präsen­ta­tion

Kün­st­lerisch-prak­tis­che Ver­ar­beitung der The­men aus dem 1. Hal­b­jahrhin zu ein­er Per­for­mance

Auf­führung der Per­for­mance

Reflex­ion: Bewusst­seins- und Hand­lungsverän­derung?

Über­ge­ord­nete Ziele Inhalt: Ver­tiefung des ersten Schul­jahrs

Kom­pe­ten­zen: Bewusst­seins­bil­dung, Förderung des kri­tis­chen Denkens und der dif­feren­zierten Wahrnehmungs­fähigkeit, Förderung der Artiku­la­tions­fähigkeit über die Sprache

Tabelle 2

Eine verän­derte Wahrnehmung der Stadt und der Umge­bung

Ästhetisierung­sprozesse und Atmo­sphären sind in den Lebenswel­ten und im All­t­ag der Schü­lerin­nen und Schülern sehr präsent – und ger­ade deswe­gen auch sehr zugänglich. Mit dem Hin­weisen darauf, dem Aufzeigen und vor allem mit der Ver­sprach­lichung wer­den diese The­men für die Schü­lerin­nen und Schüler sicht- und greif­bar. Unbe­wusstes wird in deren Bewusst­sein geholt, mehr und mehr gelingt es ihnen Worte zu find­en für das „Irgend­wie“, von dem Liess­mann schreibt (s.o.). Neben der inhaltlichen Beschäf­ti­gung laden die The­men ein zur kri­tis­chen Auseinan­der­set­zung, zur ästhetis­chen Reflex­ion der Umwelt, der Gesellschaft und des eige­nen Ichs. Die Schü­lerin­nen und Schüler wis­sen, dass es dafür ein Sich-darauf-Ein­lassen braucht. Eine andere Art des „Sehens“ entste­ht, Sen­si­bil­isierung­sprozesse wer­den in Gang geset­zt, und eine offene und wach­samere Hal­tung wird her­vorgerufen – ein­herge­hend mit ein­er bewussteren Art zu han­deln.

Fragt man die Schü­lerin­nen und Schüler, ob sich deren Wahrnehmung verän­dert habe, antwortet die Mehrzahl bere­its nach Abschluss des ersten Hal­b­jahres ein­deutig mit einem Ja – und ist auch in der Lage, dieses Ja sprach­lich zu begrün­den: Für den einen ist es nun die verän­derte Wahrnehmung der Straße, in der er wohnt – je nach Tageszeit ändert sich dort die Atmo­sphäre und lässt die Straße anders erscheinen –, für den anderen ist es die Deut­lichkeit des Kon­trasts zwis­chen stillen Orten mit ruhiger und laut­en Orten mit für ihn als stres­sig emp­fun­den­er Atmo­sphäre. Ein­er Schü­lerin ist bewusst gewor­den, dass man beim Betreten von Plätzen und Räu­men plöt­zlich auch in eine Atmo­sphäre ein­tritt und dass sich diese verän­dern kann, wenn man einen Moment dort ver­weilt. Eine andere Schü­lerin hat für sich per­sön­lich Orte gefun­den, deren Atmo­sphären sie nutzt, um sich selb­st je nach gewün­schter Stimm­lage (um-) zu stim­men.

Diese Beispiele sind einige von vie­len, die zeigen, dass eine Wahrnehmungsverän­derung möglich ist und dass die Wahrnehmung des „Irgend­wie“ über die Sprache eine Kon­tur erhal­ten kann. An dieser Stelle ler­nen die Schü­lerin­nen und Schüler mit Atmo­sphären umzuge­hen: sich darauf einzu­lassen, sie wahrzunehmen und sie zu gestal­ten – an dieser Stelle geschieht Bil­dung und an dieser Stelle begin­nt die Entwick­lung ein­er atmo­sphärischen Kom­pe­tenz.

 

 

Lit­er­atur

Böhme, Ger­not: Atmo­sphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 2014. (2. Aufl.)

Böhme, Ger­not: Ich-Selb­st. Über die For­ma­tion des Sub­jek­ts. München 2012.

Böhme, Ger­not: Atmo­sphären wahrnehmen, Atmo­sphären gestal­ten – mit Atmo­sphären leben. Ein neues Konzept ästhetis­ch­er Bil­dung. In: Rain­er Goetz / Ste­fan Graup­n­er (Hg.): Atmosphäre(n). Inter­diszi­plinäre Annäherun­gen an einen unschar­fen Begriff. München 2007, S. 31–43.

Böhme, Ger­not: Ais­thetik. Vor­lesun­gen über Ästhetik als all­ge­meine Wahrnehmungslehre. München 2001.

Diet­rich, Cor­nelie et al. Ein­führung in die ästhetis­che Bil­dung. Wein­heim und Basel 2012 (2013).

Has­se, Jür­gen: Atmo­sphären des Lichts – Medi­en des Urba­nen?. In: Rain­er Goetz / Ste­fan Graup­n­er (Hg.): Atmo­sphären. Annäherun­gen an einen unschar­fen Begriff. München 2012, S. 31–53.

Jung, Julia (in Vor­bere­itung): „Atmo­sphären der Stille“ – Vom Innehal­ten und Zuhören im (Musik-)Unterricht. Erscheint in: Diskus­sion Musikpäd­a­gogik (2021).

Jung, Julia: Stim­mungen weben. Eine unter­richtswis­senschaftliche Studie zur Gestal­tung von Atmo­sphären. Wies­baden 2019.

Liess­mann, Kon­rad: Das Uni­ver­sum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen. Wien 2010.

Schafer, R. Mur­ray: Ans­tiftung zum Hören. Hun­dert Übun­gen zum Hören und Klänge Machen. Aarau 2002. (orig. englisch, 1992)

Von Uexküll, Jakob Johann: Umwelt und Innen­welt der Tiere. Berlin 1909.

Welsch, Wolf­gang: Ästhetis­ches Denken. Stuttgart 2017. (Erstau­flage: 1990)

Welsch, Wolf­gang: Gren­zgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996.

 


[1] Die hier vorgenommene Darstel­lung der „neuen Ästhetik“ fol­gt der­jeni­gen Ger­not Böhmes, der sich in seinen Schriften unter anderem auf Her­rmann Schmitz, Aris­tote­les und Schiller („Über die ästhetis­che Erziehung des Men­schen“) bezieht. Natür­lich gibt es in der (philosophis­chen) Ästhetik auch andere Ansätze, die Ästhetik als ais­the­sis ver­ste­hen und sich damit von der eher als intellek­tuell ver­stande­nen „tra­di­tionellen“ Ästhetik mit ihrer Ori­en­tierung an der Kun­st (z.B. Kants Urteil­säs­thetik) abgren­zen (z.B. Alexan­der Got­tlieb Baum­garten, Schiller). Für den Artikel von Bedeu­tung ist in diesem Zusam­men­hang jedoch die Schär­fung des Begriffs der Atmo­sphäre – als Grundthe­ma der Ästhetik find­et sich dies allen voran bei Böhme.

[2] Bere­its 1996 spricht Welsch von einem „Ästhetik-Boom“ (vgl. Welsch 1996, S. 9).

[3] Ihre Legit­imierung bezieht die Ästhetisierung des All­t­ags und der Lebenswelt inter­es­san­ter­weise aus einem men­schlichen Grundbedürf­nis beispiel­sweise nach Anerken­nung, nach einem Gese­hen-Wer­den, und nicht zulet­zt aus einem Bedürf­nis atmo­sphärisch­er Mitbes­tim­mung und Gestal­tung (vgl. Böhme 2012, S. 146 und 2014, S. 46): „Das Atmo­sphärische gehört zum Leben, und die Insze­nierung dient der Steigerung des Lebens.“ (ebd. S. 46)

[4] Welsch spricht dahinge­hend von einem „ästhetis­chen Grundge­setz“ (Welsch 1996, S. 57).

[5] s. hierzu auch Jung 2019: Das „Konzept des atmo­sphärischen Ver­mö­gens“ für Lehrper­so­n­en.

[6] Anzumerken sei, dass sich dieser Artikel mit Böhme und Welsch als zwei wichtige Vertreter der Philoso­phie der Bedeu­tung ein­er sinnlichen Wahrnehmung im Bil­dungs- beziehungsweise Erziehungskon­text von ein­er philosophis­chen Sichtweise aus nähert. Es soll betont wer­den, dass diese Herange­hensweise keineswegs andere Diszi­plinen wie zum Beispiel die Psy­cholo­gie oder die Päd­a­gogik auss­chließt.

[7] Die CSU schlägt beispiel­sweise Pro­gram­mieren und Dig­i­tale Wirtschaft als neue Schulfäch­er vor (s. dazu Posi­tion­spa­pi­er Dig­i­tale Bil­dung­sof­fen­sive Schulen.pdf (cducsu.de), 25.2.21); Neben anderen Län­dern hat sich Deutsch­land mit der Unterze­ich­nung der Nach­haltigkeit­sagen­da der Vere­in­ten Natio­nen (UN) zur BNE – Bil­dung für nach­haltige Entwick­lung – verpflichtet, Kli­maschutz auch zum Lehrin­halt in Schulen zu machen (aktuell wird das The­ma vor allen Din­gen im Erd­kun­de­un­ter­richt behan­delt) (s. dazu: Was ist BNE — BNE-Por­tal (bne-portal.de), 25.2.21).

[8] Wahlpflich­tun­ter­richt bedeutet, die Schü­lerin­nen und Schüler kön­nen sich nach eigen­em Inter­esse und für min­destens zwei Jahre in ein Unter­richts­fach ein­wählen. Nach dieser Ein­wahl ist das Fach schließlich verpflich­t­end. Die Notenge­bung erfol­gt wie in anderen Fäch­ern, obgle­ich die End­note nur im pos­i­tiv­en Sinne zur Ver­set­zung beitra­gen kann, im neg­a­tiv­en Fall bleibt sie ohne Auswirkun­gen.

[9] Vgl. hierzu auch Jung, Julia (in Vor­bere­itung): „Atmo­sphären der Stille“ – Vom Innehal­ten und Zuhören im (Musik-)Unterricht. Erscheint in: Diskus­sion Musikpäd­a­gogik (2021).

[10] S. hierzu Böhmes Begriff der „Ästhetis­chen Arbeit“ (Böhme  2001, S. 53)

[11] An dieser Stelle sind sich Prax­is und The­o­rie oft uneins: Auf the­o­retis­ch­er Ebene lassen sich, ger­ade in den kün­st­lerischen Fäch­ern, viele ästhetis­che Anknüp­fungspunk­te find­en. Der Lehrplan schränkt dies jedoch bere­its etwas ein und in der alltäglichen Unter­richt­sprax­is nehmen soziale The­men sowie der Umgang mit ein­er zunehmend kul­turellen und meist auch stark fach­lichen Het­ero­gen­ität oft­mals so viel Raum ein, dass nur wenig Platz bleibt, um allen Inhal­ten gerecht zu wer­den. Je nach Schule sind kün­st­lerische Fäch­er darüber hin­aus nur ein­stündig im Schul­cur­ricu­lum ver­ankert, wodurch Raum und Zeit noch ein­mal mehr eingeschränkt wer­den.

[12] Alter­na­tiv und in ein­er weit­er­führen­den, fach­in­ter­nen Diskus­sion müsste, wie bere­its angek­lun­gen, die Frage nach der aktuellen Bedeu­tung manch­er Fach­in­halte gestellt wer­den. Und: Inwiefern kön­nen ästhetis­che Inhalte – sowohl im Hin­blick auf eine Kom­pe­ten­zori­en­tierung als auch hin­sichtlich ein­er Ästhetik als Lernge­gen­stand – noch ein­mal stärk­er in die einzel­nen Fäch­er (in die „tra­di­tionell“ ästhetis­chen aber auch zum Beispiel in die natur­wis­senschaftlichen) hineinge­flocht­en wer­den ohne andere The­men zu ver­nach­läs­si­gen?

[13] Siehe auch z.B. Georg Peez z.B. 2012; Jür­gen Has­se 2010.

[14] Die dop­pelte Beziehung, in der Indi­viduen zu ihrer Umge­bung ste­hen, find­et sich auch bere­its bei Uexküll mit seinem Funk­tion­skreis und der Unterteilung in „Wirk­welt“ und „Merk­welt“ (vgl. hierzu J. von Uexküll 1909.).

[15] Erstes Schul­jahr: Peter Claus und Dr. Julia Jung; Zweites Schul­jahr: Lau­ra Här­tel und Johannes Müller-Horn­bach (jew­eils Lehrkräfte des Adorno-Gym­na­si­ums in Frank­furt).

[16] Das erste Jahr (Claus/Jung) wieder­holt sich bere­its mit ein­er neuen Klasse, das zweite Jahr (Härtel/Müller-Horn­bach) wird noch im Erst­durch­lauf von der ersten Klasse „erprobt“.

 

 

Dr. Julia Jung ist Stu­di­en­rätin am Adorno-Gym­na­si­um (Fäch­er: Musik, Spanisch und Ästhetik) und Lehrbeauf­tragte im Bere­ich Musikpäd­a­gogik an der Hochschule für Musik und Darstel­lende Kun­st in Frank­furt am Main. Im Rah­men ihrer Pro­mo­tion bei Prof. Dr. Maria Spy­chiger entwick­elte sie ein Konzept für Lehrerin­nen und Lehrer zur Gestal­tung von Unter­richt­sat­mo­sphären. 

  • 24. Mai 202126. Mai 2021
Künstlerisch-ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund von Distanzerfahrungen: Die Chance des Routinebruchs im Rahmen einer Theorie der Wiederholung
Umräumen in Kunsträumen — über Kunstseminare im Lockdown
© ZAeB
Theme by Colorlib Powered by WordPress