Ästhetik als Schulfach – Vorstellung eines Unterrichtskonzepts
Ein Stadtführer voller Atmosphären
Es ist ein Stadtführer der anderen Art: Nicht um Denkmäler, Museen oder Öffnungszeiten geht es, sondern um Atmosphären von Plätzen, Gebäuden und Straßen – in diesem Fall: in Frankfurt. Es sind Orte, drinnen sowie draußen, deren Atmosphären die Schülerinnen und Schüler als interessant, auffällig oder als in irgendeiner Form besonders erachten. Nicht das Sehenswerte steht im Vordergrund, sondern das, was „spürenswert“ ist. Im Inhaltsverzeichnis findet man hiervon eine Auflistung, einen Überblick in Form einer atmosphärischen Stadtkarte oder aber Vorschläge für einen Atmosphärenspaziergang entlang ausgewiesener Orte. Wer die Möglichkeit hat, folgt der Empfehlung, die Orte zu bestimmten Tages-, Uhr- oder gar Jahreszeiten zu besuchen – denn natürlich ändert sich mit den Zeiten immer auch die Atmosphäre.
Die Stadtführer, um die es hier geht, bezeichnen wir im Unterricht als „Atmosphärische Stadtführer“. Das Unterrichtsfach, in dem sie angefertigt werden, ist der Wahlpflichtunterricht Ästhetik, in den sich die Schülerinnen und Schüler am Adorno-Gymnasium in Frankfurt für zwei Jahre einwählen können. Die „Atmosphärischen Stadtführer“ stellen das Endprodukt des ersten Teils des Schuljahrs dar – im Sinne der Bewusstseinsbildung, die mit dieser Arbeit einhergeht, sind sie jedoch erst der Anfang einer anderen Art zu „sehen“. Dass sie damit Forschungsneuland betreten, ist vielen Schülerinnen und Schülern zunächst nicht klar.
Das dem Fach zugrunde liegende Konzept wurde vor dem Hintergrund einer progressiven Ästhetisierungswelle, wie sie Wolfgang Welsch und Gernot Böhme in immer weiteren Bereichen unserer heutigen Lebenswelt beobachten, von vier Lehrpersonen aus unterschiedlichen Fächern interdisziplinär entwickelt. Im Rahmen des Artikels wird dieses Konzept vorgestellt und in Relation gesetzt zu Fragen, die das Bildungssystem auf grundlegende Weise betreffen.
Theoretischer Hintergrund: Fortschreitende Ästhetisierungsprozesse
Bereits einige Jahre alt und gleichzeitig aktueller denn je scheinen Welschs Beobachtungen einer fortschreitenden Ästhetisierung des alltäglichen Lebens (vgl. Welsch 2017/1990, S. 15 ff.). Ästhetisierung bedeutet: etwas Nichtästhetisches wird ästhetisch gemacht oder wird als solches begriffen – etwas wird auf Empfindungen hin ausgelegt (vgl. Welsch 1996, S. 20/21). Der Ästhetikbegriff, um den es hier geht, ist derjenige einer neuen Ästhetik[1]wie sie Gernot Böhme beschreibt: Dem Wortursprung aisthesis nach verstanden als allgemeine Wahrnehmungslehre, betrachtet sie die Dinge in ihren Erscheinungen (vgl. Böhme 2001, S. 29 ff.). Die Form der Wahrnehmung ist hierbei eine sinnliche – es geht also nicht um die Dinge selbst, die man wahrnimmt, sondern um das, was man an ihnen empfindet: deren Atmosphären (vgl. Böhme 2014, S. 15). Die neue Ästhetik fragt nach der Art und Weise dieser Wahrnehmung. Die Erweiterung des traditionellen Ästhetikbegriffs, der allen voran die Kunst und das Schöne umfasst, sieht Böhme in den veränderten Anforderungen an die Ästhetik von außen begründet:
„Es ist die progressive Ästhetisierung der Realität, d.h. des Alltags, der Politik, der Ökonomie, und es ist die durch das Umweltproblem erzwungene Frage nach einem anderen Verhältnis zur Natur, dem sie zu entsprechen versucht. Für beide Aufgaben ist die traditionelle Ästhetik von Kant bis Adorno nicht gerüstet. Eine vornehmlich an Kunst und dem Kunstwerk orientierte Ästhetik konnte die Ästhetisierung der Realität nur als Kitsch, Kunsthandwerk oder als angewandte Kunst mit abfälligen Blick streifen.“ (Böhme 2014, S. 7.)
Spricht man von einer Ästhetisierung des Realen oder der Realität, meint dies im Allgemeinen die „ästhetische Aufmachung, die Zurichtung und […] Inszenierung von allem, womit und worin wir leben“ (Böhme 2001, S. 20). Eine solche Ästhetisierung reicht von der Gestaltung von Städten und Essen (Stichwort „Foodstyling“), von der eigenen Aufmachung und Erscheinung über das Konsumverhalten und vermeintlichen Erlebnisschaffung bis hin zur eigenen Identitätsstiftung, zur Politik und zum gesellschaftlichen Denken. Es geht um Inszenierungen und um Scheinwelten (vgl. Böhme 2014, S. 13 ff.). Welsch unterscheidet hier eine Ästhetisierung auf vordergründiger Ebene – eine Art „Überzuckerung des Realen mit ästhetische[m] Flair“ (Welsch 1996, S. 11) – mit einer tiefergehenden. Erstere bezeichnet er als Oberflächen-, letztere als Tiefenästhetisierung (vgl. ebd., S. 10 ff.). Im Gegensatz zur Oberflächenästhetisierung betrifft die Tiefenästhetisierung
„grundlegende Strukturen der Wirklichkeit als solcher: der materiellen Wirklichkeit im Gefolge der neuen Materialtechnologien, der sozialen Wirklichkeit infolge ihrer medialen Vermittlung und der subjektiven Wirklichkeit infolge der Ablösung moralischer Standards durch Selbststilisierungen.“ (Welsch 1996, S. 20)
Eine „einst für hart gehaltene Wirklichkeit erweist sich als veränderbar, neu kombinierbar und offen für die Realisierung beliebiger ästhetisch konturierter Wünsche.“ (ebd., S. 14/15)
Es ist offensichtlich, dass mit der Ästhetisierung zwei Welten entstehen (Böhme 2014 S. 13 ff.): Eine – immer dominantere – Welt des Scheins, der Aufmachung, des Sich-Zeigens – Böhme bezeichnet sie als „theatralisches Zeitalter“, als das „Zeitalter eines neuen Barocks“ (vgl. ebd., S. 14) – und eine dahinterstehende Realität mit dem Sein der Dinge (vgl. ebd., S. 13/14). Mit der Dominanz der Scheinwelten[2] sieht Böhme in der Ästhetisierung zugleich einen Prozess der Verdrängung des Realen mit der Folge, dass das Reale immer stärker in den Hintergrund gerät oder gar verschwindet (vgl. ebd.).
Betrachtet man die Ästhetisierung der Realität unter kritischen Gesichtspunkten, ergibt sich auf der einen Seite durchaus ein gewisses Potenzial: Man denke beispielsweise an die Verschönerung von Städten, im Sinne einer „Wirklichkeitskosmetik“ (Welsch 1996, S. 13) etwa durch Beleuchtung oder architektonische Gestaltung (vgl. hierzu auch Hasse 2012, S. 33/34), an die Gestaltung von Atmosphären zur Erzeugung positiver Gestimmtheiten oder an die Sensibilisierung des eigenen Selbst durch eine bewusste Auseinandersetzung mit ästhetischen Inhalten (s. hierzu auch Welsch 1996, S. 58 ff.).
Kritisch wird es jedoch, wenn es zu einer Vertauschung von Schein und Sein kommt und damit grundlegende Strukturen betroffen sind, wenn die Scheinwelten bedeutsamer werden als die dahinterstehende Realität, kurz: wenn die Ästhetik zur „Essenz“ wird (vgl. Welsch 1996, S. 14 ff. und vgl. Böhme 2014, S. 13/14). Grundbedürfnisse bleiben dann unbefriedigt und die Wirklichkeit nimmt einen Charakter der Unverbindlichkeit an, des Schwebens, der Veränderbarkeit (vgl. Welsch 1996, S. 21): „Die Erlebnisse sind wohl gar keine. Sie sind eher schal und öd. Deshalb sucht man schnell nach dem nächsten Erlebnis und hastet so von einer Enttäuschung zur anderen.“ (ebd., S. 264) Dies betrifft beispielsweise Bereiche wie das Reisen, Selbstdarstellungen in sozialen Netzwerken oder das Konsum- und Essverhalten. Slogans wie „Kauf dich glücklich“ oder „Mehr als nur Essen“ stellen hierfür Beispiele aus der Werbung dar. Böhme sieht dahinterstehend ein Wirtschaftssystem beziehungswiese eine bestimmte Form des Kapitalismus und bezeichnet dies als „ästhetische Ökonomie“ (vgl. Böhme 2014 S. 45 ff.). Die Kritik daran besteht in der „Erregung der Emotionen“ (ebd., S. 45) und dem „Erzeugen von Begehrlichkeiten“ (ebd.) des Menschen unter gleichzeitiger Nichtbefriedigung; eine „Verschwendungsökonomie“ (ebd., S. 47) – und eine „gesellschaftliche Macht“ (ebd., S. 48): „Es gibt ästhetische Bedürfnisse und es gibt eine ästhetische Versorgung. Es gibt allerdings die ästhetische Lust, aber es gibt auch die ästhetische Manipulation.“ (Böhme 2014, S. 48)[3]
Die Kritik einer ständigen Steigerung bis hin zu einem Zuviel, betrifft weiter unsere Wahrnehmung als solche, läuft ein stetiges Mehr an Ästhetisierungen – Welsch spricht hier von einer „Hyperästhetisierung“ (Welsch 1996, S. 57) – irgendwann gerade auf ihr Gegenteil hinaus (vgl. ebd.): „Wo alles schön wird, ist nichts mehr schön; Dauerberegnungen führen zu Abstumpfung; Ästhetisierung schlägt in Anästhetisierung um.“ (ebd.) Es ist dann ein Zustand einer ständigen „ästhetischen Überdrehtheit“ (ebd.) und Überreizung – einhergehend mit gleichzeitigem Wahrnehmungsverlust, mit der Entweichung der Sinnlichkeit und mit einer Betäubung (vgl. ebd., S. 259 und Welsch 2017/1990, S. 12).
„[Was bleibt ist] eine Atmosphäre, eine diffuse Stimmung, die wir kaum mehr beschreiben können. Wir nehmen nicht mehr bewusst wahr, spüren aber etwas. ´Irgendwie´, wie das Zauberwort für diese Erfahrung lautet, gefällt oder missfällt uns irgendetwas. Mehr wissen wir davon nicht zu sagen.“ (Liessmann 2010, S. 38/39)
Es sind allem voran ästhetische Gründe, die somit dafür sprechen, diesen „Ästhetisierungstrubel“ (Welsch 1996, S. 57) zu durchbrechen und „ästhetische Brachflächen“ (ebd.) zu schaffen: „Im Bombardement der Sinne benötigen wir Zonen der Unterbrechung, merkliche Pausen, Stille.“ (ebd., S. 259)[4]
„Atmosphärische Kompetenz“ im Rahmen einer ästhetischen Bildung
Worum es bei Ästhetisierungen letztendlich immer geht, das sind die Atmosphären – um deren Wahrnehmung und um deren Gestaltung. Gerade vor dem beschriebenen Hintergrund fortschreitender Ästhetisierungsprozesse und vor dem Hintergrund des Potenzials aber auch der Gefahr, die solche Prozesse mit sich bringen, steht Böhmes Forderung zur Herausbildung einer „atmosphärischen Kompetenz“ im Rahmen einer ästhetischen Erziehung (vgl. Böhme 2007, S. 40).[5] Es geht darum, Atmosphären – in ihrem Charakter, aber auch in der Manipulation – wahrzunehmen, sich bewusst darauf einzulassen und auch, aus produktiver Sicht, solche zu erzeugen und zu gestalten (vgl. ebd.). Böhme sieht darin ein großes Potenzial, gerade auch für das heutige Zeitalter:
„Der bewusste Umgang mit Atmosphären verschließt sich durchaus nicht der modernen Welt. Im Gegenteil: er eröffnet sich gerade Grundzügen dieser modernen Welt und lässt sich kritisch auf sie ein. Es ist die Avantgarde der modernen Kunst mit ihrem Zug ins Performative, es ist die neue Musik mit ihrer Tendenz zur Raumkunst zu werden, es ist die Ästhetisierung und Inszenierung der Alltagswelt, die Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik nahegelegt haben. Mit Atmosphären umgehen zu lernen macht den einzelnen Menschen gerade zum kritischen Teilnehmer und Mitwirkenden dieser Welt, die wir als Moderne verstehen.“ (ebd., S. 42)
Eine pauschalisierende Wertung von Ästhetisierungsprozessen ist, wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, nur schwer vorzunehmen. Sicher ist jedoch, und das muss Aufgabe der Bildung sein, dass es ein Wissen darum braucht, verbunden mit einem kritischen Bewusstsein und der Fähigkeit, wahrzunehmen, zu reflektieren, sich in diesen Prozessen zurechtzufinden und zu verorten – eine atmosphärische Kompetenz also, die die Menschen zu eben diesen kritischen und spürenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern macht, von denen Böhme spricht.[6]
Betrachtet man das aktuelle Fächerangebot an Schulen, so stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage nach einer zu diskutierenden Notwendigkeit, das Angebot durch ein neues Fach zu erweitern, das sich sowohl explizit mit der beschriebenen Thematik als Lerngegenstand als auch damit zusammenhängend mit der Herausbildung einer atmosphärischen Kompetenz befasst. Mehr noch: Mit fortschreitender Ästhetisierung erhöht sich auch die Dringlichkeit noch einmal mehr – im Hinblick auf das Individuum, die Gesellschaft und die Umgebung, in der wir leben.
Erweiterung des Fächerangebots – Ästhetik als eigenständiges Unterrichtsfach
Die Forderung hinsichtlich einer generellen Fächererweiterung ist nicht neu – aktuell gibt es beispielsweise auf politischer Ebene Vorschläge und Diskussionen darum, ob und inwiefern Digitalität oder Klimaschutz – als eigenständiges Fach oder als Teil bereits bestehender Fächer – in den Lehrplan verankert werden sollten.[7]
Forderungen dieser Art können naturgemäß nie gestellt werden, ohne nicht auch grundsätzliche Fragen aufzuwerfen, auf die es Antworten zu finden gilt: Beispielsweise muss diskutiert werden, welche Rolle Schule heute generell im Hinblick auf sich aufdrängende (lebens-)weltliche Themen wie etwa genannte Ästhetisierungen im Alltag oder aber auch Digitalisierung, Umwelt- und Lärmverschmutzung spielen kann, soll, muss, und welche bildenden Maßnahmen und Themen der Gesellschaft und den Elternhäuser zuteilwerden sollten. Sicher ist: Schule kann nicht, kann nie, alles leisten. Einiges muss sie aber – vielleicht gerade heute: Die zunehmende Komplexität und Dringlichkeit einzelner Themen sowie die rasante Geschwindigkeit, mit der sich diese stetig weiterentwickeln – um ihrem allgemeinen Bildungsauftrag gerecht zu werden, ist es für die Schule unabdingbar, sich hier einzuklinken. Natürlich kann sie nicht alles leisten, kann sie nicht alle Gebiete abdecken, auch die Gesellschaft ist hier sicher in ihrer Pflicht zu sehen, aber in einer Starre verbleiben und sich verschließen darf sie eben auch nicht. Vielmehr braucht es Flexibilität, um – etwa durch eine Fächerangebotserweiterung – auf Veränderungen reagieren und sich an der jeweiligen Lebenswelt Heranwachsender orientieren zu können.
Um dem gerecht zu werden bedarf es einer breitangelegten Diskussion auf verschiedenen Ebenen: Welche Themen sind aktuell „dringlich“? Können ältere Inhalte ersetzt werden oder genügt es vielleicht, darauf zu verweisen? Müssen weitere Fächer hinzugefügt werden? Wie viel Komplexität und Mehr an Inhalten, Themen und Fächern können Schülerinnen und Schüler aber überhaupt noch (er-)tragen? Braucht es eine noch stärkere oder gar eine andere Kompetenzorientierung? Was passiert, wenn die Kluft zwischen dem Innen und dem Außen der Schule zu groß wird? Was macht das mit den Kindern und jungen Erwachsenen? Wie geht es ihnen dabei? Wie kommen sie zurecht? Und: Kommen sie überhaupt noch zurecht? Zahlreiche weitere Fragen könnten hier noch hinzugefügt werden. Die Antworten sind nicht einfach, vermutlich braucht es einen Mittelweg.
Vor dem Hintergrund solcher Fragen und vor dem Hintergrund der beschriebenen thematischen Dringlichkeit stellt der Artikel eine Fächererweiterung um das Fachs Ästhetik zur Diskussion – am Adorno-Gymnasium in Frankfurt wird dies bereits praktiziert. Das Gymnasium besitzt ein breites Wahlpflichtangebot[8]. Neben Nachhaltig leben oder Robotik ist Ästhetik eines dieser Wahlpflichtfächer. Es ist der Versuch, der Komplexität der Lebenswelt zumindest ansatzweise gerecht zu werden, wohlwissend, dass durch dieses Fächerangebot auch die Schulwelt ein Stück weit komplexer gemacht wird. Die Tatsache, dass sich die Notengebung in diesen Fächern nur im positiven Sinne auswirken kann, erlaubt, sie eher als gewählten Zusatz denn als Pflicht zu sehen. Damit wird ein Mittelweg eingeschlagen, der den Schülerinnen und Schülern eine ganzheitliche Bildung unter Bezugnahme sich aktuell aufdrängender neuer Themen ermöglicht, ohne sie jedoch zu sehr zu vereinnahmen.
Als Teilgebiet vieler Unterrichtsfächer stellt die Ästhetik im Grunde genommen nichts Neues dar: In künstlerischen Fächern etwa ist sie an ästhetische Erfahrungen geknüpft, manche Fächer beschäftigen sich damit inhaltlich, meist jedoch eher implizit und gebunden an andere Themen, andere Fächer wiederum fördern Kompetenzen, die mit der Ästhetik im Zusammenhang stehen. Hier denke man beispielsweise im Musikunterricht an die Förderung einer differenzierten Wahrnehmungsfähigkeit (s. z.B. hessischer Lehrplan Musik) anhand von Themen wie Soundscapes, Klangspaziergängen (vgl. hierzu Schafer 2002/1992), der Beschäftigung mit der Thematik der Stille[9] oder, auf gestalterischer Ebene, an die Erzeugung von Atmosphären im Rahmen von Bühnenauftritten[10].
Wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, ist die Thematik der Ästhetik und der Ästhetisierungsprozesse jedoch so komplex und weitreichend, dass die Beschäftigung damit im Rahmen des Musikunterrichts oder anderer Fächer als ein Thema von vielen kaum ausreicht – kaum ausreichen kann, wenn man zusätzlich auch der zunehmenden Komplexität fachlicher Themen als solchen gerecht werden möchte.[11]
Ästhetik als eigenständiges Fach erlaubt eine Auslagerung beziehungsweise Erweiterung ästhetischer Inhalte aus herkömmlichen Unterrichtsfächern – und vor allem erlaubt es eine thematische Vertiefung. Nicht als Beiwerk anderer Themen beziehungsweise als Teilbereich anderer Fächer wird sie dann verstanden, sondern als eine eigenständige Pädagogik, die eine gezielte ästhetische Bildung als solche ermöglicht.[12]
Das Unterrichtskonzept – Themen, Inhalte und Ziele
Im Diskurs einer ästhetischen Erziehung beziehungsweise Bildung gibt es bereits sowohl auf grundlagentheoretischer als auch auf praxisorientierter Ebene Konzepte und Ideen hinsichtlich einer Einbettung ästhetischer Inhalte in unterschiedliche Lernkontexte. Ein Beispiel findet sich bei Dietrich et al. (2013/2012)[13]: Mit ihren vier Teildimensionen „Fingerfertigkeiten“, „Alphabetisierung“, „Selbstaufmerksamkeit“ und „Sprache“ beschreibt sie wie ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung, beispielsweise in den Musik- , Kunst- oder auch Sprachenunterricht eingebettet, gelingen können (vgl. ebd., S. 26ff.; „FASS-Schema“). Etwas allgemeiner formuliert umfassen ihre Dimensionen damit die Bereiche Wahrnehmen und Gestalten (jeweils der Umgebung, der Objekte und des eigenen Selbst), explizites und implizites Wissen sowie das Sprechen darüber.[14]
Ähnlich ist auch das im Folgenden vorgestellte Unterrichtskonzept aufgebaut. Der Unterschied ist, dass hier die Ästhetik selbst zum Lerngegenstand wird, anhand dessen Fähig- und Fertigkeiten entwickelt werden sollen. Die Darstellung des Konzepts erfolgt skizzen- und beispielhaft und stellt eine von mehreren didaktischen Möglichkeiten dar, wie Ästhetik als eigenständiges Unterrichtsfach inhaltlich gefüllt werden kann.
Das Konzept wurde von vier Lehrpersonen[15] des Adorno-Gymnasiums gemeinsam entwickelt. Da die Ästhetik, verstanden als allgemeine Wahrnehmungslehre (s.o.), Teil unterschiedlicher Disziplinen ist beziehungsweise in verschiedene Bereiche hineinreicht, ist auch das Schulfach interdisziplinär angelegt: Lehrpersonen aus den Fächern Musik, Philosophie, Darstellendes Spiel, Politikwissenschaft und Kunst unterrichten die Schülerinnen und Schüler im Teamteaching, derzeit im ersten beziehungsweise zweiten Durchlauf[16].
Inhaltlich ist das Fach Ästhetik, in Orientierung an den vier Halbjahren, in vier Teile gegliedert. Zwei Teile legen den Fokus auf eine theoretische Auseinandersetzung mit ästhetischen Inhalten: Es geht zum einen um die eigene sinnlich-reflexive Wahrnehmung der Umgebung und Wahrnehmungsprozesse innerhalb der Gesellschaft sowie zum anderen um die Wirkung des eigenen Selbst und anderer Individuen nach außen. Im Rahmen der weiteren Teile werden die besprochenen Inhalte zu einer eigenen Performance verarbeitet, wodurch noch einmal eine andere, ästhetisch-künstlerische Ebene hinzugenommen wird. Jeder Teil endet jeweils mit einer zusammenfassenden Reflexion. Alle Teile gehen in ihren Inhalten von der Ästhetik aus: Entweder wird die Ästhetik selbst zum Lerngegenstand oder ein anderer Gegenstand dient dazu, ästhetische Prozesse anzustoßen und zu ermöglichen.
Erstes Schuljahr
Im ersten Halbjahr beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler zunächst mit der Wahrnehmung der Umgebung: Nach einer theoretischen Grundlage zur Begriffsklärung – Was ist Ästhetik? Was bedeutet neue Ästhetik? Was sind Atmosphären? Was sind Ästhetisierungsprozesse? – geht es darum, den Blick der Schülerinnen und Schüler zu schärfen und den eigenen Alltag durch die „ästhetische Brille“ zu sehen: Welche Ästhetisierungsprozesse gibt es generell und im eigenen Alltag? Welches Potenzial und welche Kritikpunkte ergeben sich daraus? Beispiele werden gesammelt und zu Präsentationen verarbeitet. Ein weiterer Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler besteht in der Frage nach prägenden atmosphärischen Erfahrungen und danach, wie Atmosphären erzeugt werden können. Als kleine Praxisübung werden dazu Atmosphären im Schulgebäude und von einzelnen Gegenständen im Raum gespürt und beschrieben sowie – zum Beispiel durch die eigene Stimme – selbst erzeugt.
Im Speziellen geht es bei der Erzeugung von Atmosphären um die Musik. Neben einer theoretischen Auseinandersetzung werden bei einem „Klangspaziergang“ (vgl. hierzu Schafer 2002/1992) bewusst Geräusche und Klänge wahrgenommen und in Bezug auf deren atmosphärische Wirkung auf das eigene Selbst beschrieben. Selbiges passiert im Rahmen eines Architekturspaziergangs, dieses Mal allerdings im Hinblick auf Formen, Farben und Gestalten der Stadtarchitektur. Vertiefend können hierzu noch Referate der Schülerinnen und Schüler durchgeführt werden (z.B. zu Themen wie Farbenlehre, Bauhausarchitektur, Waldorfschularchitektur). Das erste Halbjahr endet mit der eigenständigen Erstellung eines „Atmosphärischen Stadtführers“: In Eigenarbeit „sammelt“ jede Schülerin und jeder Schüler Atmosphären der Stadt, indem sie sich selbst zu Orten ihrer Wahl begeben, dort verweilen, die Atmosphären spüren und beschreiben. Die gesammelten Atmosphären werden abschließend im Stil eines Stadtführers aufbereitet. Eine abschließende Reflexionsphase soll die Schülerinnen und Schüler dazu anregen, darüber nachzudenken, ob sich etwas in ihrem „Sehen“ verändert hat: Nehmen sie nun anders wahr? Spüren sie mehr? Richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf andere Dinge als zuvor? Ist der Umgang mit äußeren Einflüssen bewusster, aufmerksamer, anders? Oder ist vielleicht auch alles gleich geblieben?
Im zweiten Halbjahr liegt der inhaltliche Fokus nicht mehr auf der Wahrnehmung und Wirkung der äußeren Umgebung durch und auf das eigene Selbst, sondern auf der Wirkung des Ichs nach außen: Welche Darstellungsformen gibt es im Allgemeinen, in sozialen Netzwerken, in der Kunst? Wie wirke ich selbst? Wie möchte ich wirken? Diese Fragen zielen darauf ab, das Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler zu erweitern. Inhaltlich dienen sie als Grundlage für die Performance, die sie selbstständig entwickeln sollen. Hierzu werden zunächst verschiedene Übungen aus der Theaterkunst durchgeführt, aus denen sich einzelne Bausteine und am Ende eine gesamte Performance ergeben, die zum Abschluss des Schuljahres präsentiert werden kann. Auch hier ist eine abschließende Reflexionsphase von großer Bedeutung.
1. Schuljahr | Inhalt – Übersicht |
1. Halbjahr
Fächer: Musik und Philosophie |
Thema: Wahrnehmung der Umgebung (u.a. Böhme, Welsch)
Ästhetik als aisthesis: Was ist Ästhetik?, Traditionelle und neue Ästhetik, Ästhetisierungsprozesse im Alltag, Ästhetische Arbeit Atmosphären als Hauptthema der neuen Ästhetik: Der Begriff der Atmosphäre, Atmosphären selbst spüren, Erzeugen von Atmosphären Musik und Atmosphäre: Klangatmosphären, Klangspaziergänge Architektur und Atmosphäre: Formen- und Farbenlehre, Stadtarchitektur, Waldorfschulen, etc. Erstellung eines Atmosphärischen Stadtführers Reflexion: Bewusstseins- und Wahrnehmungsveränderung? |
2. Halbjahr
Fächer: Musik und Darstellendes Spiel |
Thema: Wahrnehmung des eigenen Ichs auf die Umgebung
Darstellungsformen des Subjekts: u.a. in sozialen Netzwerken Wirkung des eigenen Selbst: Wie wirke ich nach außen? Wie möchte ich wirken? Künstlerische Darstellungen: u.a. Beispiele aus der Performancekunst Entwicklung einer eigenen Performance und Aufführung: Ästhetik wird zur Kunst Reflexion: Bewusstseins- und Wahrnehmungsveränderung? |
Übergeordnete Ziele | Inhalt: Theoretische Grundlagenschaffung, erste Berührung mit Darstellungskunst
Kompetenzen: Bewusstseinsbildung, Förderung des kritischen Denkens und der differenzierten Wahrnehmungsfähigkeit, Förderung der Artikulationsfähigkeit über die Sprache |
Tabelle 1
Zweites Schuljahr
Im Sinne einer Vertiefung und Weiterführung des ersten Schuljahres steht im zweiten Jahr der Aspekt des eigenen Handelns und der Einfluss anderer darauf im Vordergrund: Wie werden wir in unserer Wahrnehmung beeinflusst und zu welchem Zweck? Diese Kernfrage umfasst die Beschäftigung mit Themen wie Manipulation, Suggestion und Propaganda. Es geht um die Ästhetisierung der Gewalt, um die Beeinflussung durch Sprache und Bilder – Werbung, Plakate, politische Reden – sowie durch Musik. Gesellschaftskritische und hochaktuelle Themen wie Framing, Verschwörungstheorien, Fake News und Halbwahrheiten bilden die Grundlage zur inhaltlichen Auseinandersetzung. Die das erste Halbjahr abschließende Reflexion fragt auch hier wieder nach einer Bewusstseins- und weiterführend auch nach einer möglichen Handlungsveränderung: Hat sich etwas in der Wahrnehmung, im Bewusstsein verändert? Und: Hat sich etwas im alltäglichen Handeln der Schülerinnen und Schüler verändert?
Ähnlich wie im ersten Schuljahr entwickeln die Schülerinnen und Schüler auch im zweiten Halbjahr dieses Jahres eine eigene Performance auf Grundlage der vorangegangenen Inhalte. Auch hier endet das Schuljahr mit einer Aufführung und einer abschließenden Reflexionsphase.
2. Schuljahr | Inhalt – Übersicht |
1. Halbjahr
Fächer: Politik, Kunst und Musik |
Thema: Einfluss anderer auf das eigene Handeln: Manipulation, Suggestion und Propaganda. Kernfrage: Wie werden wir in unserer Wahrnehmung beeinflusst und zu welchem Zweck?
Ästhetisierung der Gewalt: Wie wird die Wahrnehmung von Ereignissen beeinflusst? Beeinflussung durch Sprache: Werbung, Plakate und politische Reden – Framing, Halbwahrheiten und Verschleierung Meinungsbilder: Dokumentarfotografie, Propagandakunst und Werbespots Geräuschdesign und funktionaler Einsatz von Musik: von der Autotür bis zur Marschmusik Bewusste Destabilisierung/Zerstörung einer geteilten Vorstellung von Wahrheit und Realität: Verschwörungstheorien, Fake News und Hexenjagden Reflexion: Bewusstseins- und Handlungsveränderung? |
2. Halbjahr
Fächer: Politik, Kunst und Musik |
Thema: Erstellung einer eigenen künstlerisch-praktischen Präsentation
Künstlerisch-praktische Verarbeitung der Themen aus dem 1. Halbjahrhin zu einer Performance Aufführung der Performance Reflexion: Bewusstseins- und Handlungsveränderung? |
Übergeordnete Ziele | Inhalt: Vertiefung des ersten Schuljahrs
Kompetenzen: Bewusstseinsbildung, Förderung des kritischen Denkens und der differenzierten Wahrnehmungsfähigkeit, Förderung der Artikulationsfähigkeit über die Sprache |
Tabelle 2
Eine veränderte Wahrnehmung der Stadt und der Umgebung
Ästhetisierungsprozesse und Atmosphären sind in den Lebenswelten und im Alltag der Schülerinnen und Schülern sehr präsent – und gerade deswegen auch sehr zugänglich. Mit dem Hinweisen darauf, dem Aufzeigen und vor allem mit der Versprachlichung werden diese Themen für die Schülerinnen und Schüler sicht- und greifbar. Unbewusstes wird in deren Bewusstsein geholt, mehr und mehr gelingt es ihnen Worte zu finden für das „Irgendwie“, von dem Liessmann schreibt (s.o.). Neben der inhaltlichen Beschäftigung laden die Themen ein zur kritischen Auseinandersetzung, zur ästhetischen Reflexion der Umwelt, der Gesellschaft und des eigenen Ichs. Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass es dafür ein Sich-darauf-Einlassen braucht. Eine andere Art des „Sehens“ entsteht, Sensibilisierungsprozesse werden in Gang gesetzt, und eine offene und wachsamere Haltung wird hervorgerufen – einhergehend mit einer bewussteren Art zu handeln.
Fragt man die Schülerinnen und Schüler, ob sich deren Wahrnehmung verändert habe, antwortet die Mehrzahl bereits nach Abschluss des ersten Halbjahres eindeutig mit einem Ja – und ist auch in der Lage, dieses Ja sprachlich zu begründen: Für den einen ist es nun die veränderte Wahrnehmung der Straße, in der er wohnt – je nach Tageszeit ändert sich dort die Atmosphäre und lässt die Straße anders erscheinen –, für den anderen ist es die Deutlichkeit des Kontrasts zwischen stillen Orten mit ruhiger und lauten Orten mit für ihn als stressig empfundener Atmosphäre. Einer Schülerin ist bewusst geworden, dass man beim Betreten von Plätzen und Räumen plötzlich auch in eine Atmosphäre eintritt und dass sich diese verändern kann, wenn man einen Moment dort verweilt. Eine andere Schülerin hat für sich persönlich Orte gefunden, deren Atmosphären sie nutzt, um sich selbst je nach gewünschter Stimmlage (um-) zu stimmen.
Diese Beispiele sind einige von vielen, die zeigen, dass eine Wahrnehmungsveränderung möglich ist und dass die Wahrnehmung des „Irgendwie“ über die Sprache eine Kontur erhalten kann. An dieser Stelle lernen die Schülerinnen und Schüler mit Atmosphären umzugehen: sich darauf einzulassen, sie wahrzunehmen und sie zu gestalten – an dieser Stelle geschieht Bildung und an dieser Stelle beginnt die Entwicklung einer atmosphärischen Kompetenz.
Literatur
Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 2014. (2. Aufl.)
Böhme, Gernot: Ich-Selbst. Über die Formation des Subjekts. München 2012.
Böhme, Gernot: Atmosphären wahrnehmen, Atmosphären gestalten – mit Atmosphären leben. Ein neues Konzept ästhetischer Bildung. In: Rainer Goetz / Stefan Graupner (Hg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München 2007, S. 31–43.
Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001.
Dietrich, Cornelie et al. Einführung in die ästhetische Bildung. Weinheim und Basel 2012 (2013).
Hasse, Jürgen: Atmosphären des Lichts – Medien des Urbanen?. In: Rainer Goetz / Stefan Graupner (Hg.): Atmosphären. Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München 2012, S. 31–53.
Jung, Julia (in Vorbereitung): „Atmosphären der Stille“ – Vom Innehalten und Zuhören im (Musik-)Unterricht. Erscheint in: Diskussion Musikpädagogik (2021).
Jung, Julia: Stimmungen weben. Eine unterrichtswissenschaftliche Studie zur Gestaltung von Atmosphären. Wiesbaden 2019.
Liessmann, Konrad: Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen. Wien 2010.
Schafer, R. Murray: Anstiftung zum Hören. Hundert Übungen zum Hören und Klänge Machen. Aarau 2002. (orig. englisch, 1992)
Von Uexküll, Jakob Johann: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin 1909.
Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart 2017. (Erstauflage: 1990)
Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996.
[1] Die hier vorgenommene Darstellung der „neuen Ästhetik“ folgt derjenigen Gernot Böhmes, der sich in seinen Schriften unter anderem auf Herrmann Schmitz, Aristoteles und Schiller („Über die ästhetische Erziehung des Menschen“) bezieht. Natürlich gibt es in der (philosophischen) Ästhetik auch andere Ansätze, die Ästhetik als aisthesis verstehen und sich damit von der eher als intellektuell verstandenen „traditionellen“ Ästhetik mit ihrer Orientierung an der Kunst (z.B. Kants Urteilsästhetik) abgrenzen (z.B. Alexander Gottlieb Baumgarten, Schiller). Für den Artikel von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang jedoch die Schärfung des Begriffs der Atmosphäre – als Grundthema der Ästhetik findet sich dies allen voran bei Böhme.
[2] Bereits 1996 spricht Welsch von einem „Ästhetik-Boom“ (vgl. Welsch 1996, S. 9).
[3] Ihre Legitimierung bezieht die Ästhetisierung des Alltags und der Lebenswelt interessanterweise aus einem menschlichen Grundbedürfnis beispielsweise nach Anerkennung, nach einem Gesehen-Werden, und nicht zuletzt aus einem Bedürfnis atmosphärischer Mitbestimmung und Gestaltung (vgl. Böhme 2012, S. 146 und 2014, S. 46): „Das Atmosphärische gehört zum Leben, und die Inszenierung dient der Steigerung des Lebens.“ (ebd. S. 46)
[4] Welsch spricht dahingehend von einem „ästhetischen Grundgesetz“ (Welsch 1996, S. 57).
[5] s. hierzu auch Jung 2019: Das „Konzept des atmosphärischen Vermögens“ für Lehrpersonen.
[6] Anzumerken sei, dass sich dieser Artikel mit Böhme und Welsch als zwei wichtige Vertreter der Philosophie der Bedeutung einer sinnlichen Wahrnehmung im Bildungs- beziehungsweise Erziehungskontext von einer philosophischen Sichtweise aus nähert. Es soll betont werden, dass diese Herangehensweise keineswegs andere Disziplinen wie zum Beispiel die Psychologie oder die Pädagogik ausschließt.
[7] Die CSU schlägt beispielsweise Programmieren und Digitale Wirtschaft als neue Schulfächer vor (s. dazu Positionspapier Digitale Bildungsoffensive Schulen.pdf (cducsu.de), 25.2.21); Neben anderen Ländern hat sich Deutschland mit der Unterzeichnung der Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen (UN) zur BNE – Bildung für nachhaltige Entwicklung – verpflichtet, Klimaschutz auch zum Lehrinhalt in Schulen zu machen (aktuell wird das Thema vor allen Dingen im Erdkundeunterricht behandelt) (s. dazu: Was ist BNE — BNE-Portal (bne-portal.de), 25.2.21).
[8] Wahlpflichtunterricht bedeutet, die Schülerinnen und Schüler können sich nach eigenem Interesse und für mindestens zwei Jahre in ein Unterrichtsfach einwählen. Nach dieser Einwahl ist das Fach schließlich verpflichtend. Die Notengebung erfolgt wie in anderen Fächern, obgleich die Endnote nur im positiven Sinne zur Versetzung beitragen kann, im negativen Fall bleibt sie ohne Auswirkungen.
[9] Vgl. hierzu auch Jung, Julia (in Vorbereitung): „Atmosphären der Stille“ – Vom Innehalten und Zuhören im (Musik-)Unterricht. Erscheint in: Diskussion Musikpädagogik (2021).
[10] S. hierzu Böhmes Begriff der „Ästhetischen Arbeit“ (Böhme 2001, S. 53)
[11] An dieser Stelle sind sich Praxis und Theorie oft uneins: Auf theoretischer Ebene lassen sich, gerade in den künstlerischen Fächern, viele ästhetische Anknüpfungspunkte finden. Der Lehrplan schränkt dies jedoch bereits etwas ein und in der alltäglichen Unterrichtspraxis nehmen soziale Themen sowie der Umgang mit einer zunehmend kulturellen und meist auch stark fachlichen Heterogenität oftmals so viel Raum ein, dass nur wenig Platz bleibt, um allen Inhalten gerecht zu werden. Je nach Schule sind künstlerische Fächer darüber hinaus nur einstündig im Schulcurriculum verankert, wodurch Raum und Zeit noch einmal mehr eingeschränkt werden.
[12] Alternativ und in einer weiterführenden, fachinternen Diskussion müsste, wie bereits angeklungen, die Frage nach der aktuellen Bedeutung mancher Fachinhalte gestellt werden. Und: Inwiefern können ästhetische Inhalte – sowohl im Hinblick auf eine Kompetenzorientierung als auch hinsichtlich einer Ästhetik als Lerngegenstand – noch einmal stärker in die einzelnen Fächer (in die „traditionell“ ästhetischen aber auch zum Beispiel in die naturwissenschaftlichen) hineingeflochten werden ohne andere Themen zu vernachlässigen?
[13] Siehe auch z.B. Georg Peez z.B. 2012; Jürgen Hasse 2010.
[14] Die doppelte Beziehung, in der Individuen zu ihrer Umgebung stehen, findet sich auch bereits bei Uexküll mit seinem Funktionskreis und der Unterteilung in „Wirkwelt“ und „Merkwelt“ (vgl. hierzu J. von Uexküll 1909.).
[15] Erstes Schuljahr: Peter Claus und Dr. Julia Jung; Zweites Schuljahr: Laura Härtel und Johannes Müller-Hornbach (jeweils Lehrkräfte des Adorno-Gymnasiums in Frankfurt).
[16] Das erste Jahr (Claus/Jung) wiederholt sich bereits mit einer neuen Klasse, das zweite Jahr (Härtel/Müller-Hornbach) wird noch im Erstdurchlauf von der ersten Klasse „erprobt“.
Dr. Julia Jung ist Studienrätin am Adorno-Gymnasium (Fächer: Musik, Spanisch und Ästhetik) und Lehrbeauftragte im Bereich Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Im Rahmen ihrer Promotion bei Prof. Dr. Maria Spychiger entwickelte sie ein Konzept für Lehrerinnen und Lehrer zur Gestaltung von Unterrichtsatmosphären.