Gedanken zu einer Ästhetik des Taktilen: Marlen Haushofers Roman Die Wand.
Essay
Einleitende Bemerkungen
Jede Zeit hat ihre Themen und Herausforderungen, ihre Deutungsversuche und Deutungssysteme. Jede Zeit hat ihre Literatur und ihren spezifischen (analytischen) Blick auf die Literatur — vom Hier und Jetzt bedingte Ansätze der Rezeption und des Verstehens.
Marlen Haushofers im Jahr 1963 erschienener Roman Die Wand erfuhr im Lauf der Jahre und Jahrzehnte die unterschiedlichsten Interpretationen: Er wurde biografisch gelesen als eine Metapher auf „das unlebbare Leben“ der Autorin, als Science-Fiction-Roman, als Aufforderung zu neuem Denken, als ein exemplarisches Beispiel spezifisch weiblichen Schreibens, als „moderne Robinsonade“, „Zivilisationskritik“ und erzählerische Darstellung der möglichen Folgen einer nuklearen Katastrophe.[1] Der Roman ermöglicht all diese Annäherungen nicht nur, er fordert sie — in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit, Offenheit und zeitüberdauernden Klassizität — sogar heraus.
Der vorliegende Beitrag diskutiert Haushofers Text vor dem Hintergrund des Jahres 2020, der Corona-Pandemie, ihren Implikationen und Auswirkungen. Es scheint beinahe so, als sei dem Roman ein utopisches, in die Zukunft weisendes und diese gleichsam prophetisch heraufbeschwörendes Gepräge eingeschrieben. In einer Zeit, in der wir alle wie hinter Wänden leben, einer vom anderen getrennt, unter dem Gebot, Abstand zu halten, dazu aufgefordert, Freunde, Bekannte, ja, sogar die Angehörigen der eigenen Familie nicht in die Arme zu schließen, erfahren wir schmerzhaft, was es bedeutet, an die Stelle eines Nahsinns die Fernsinne treten zu lassen Berührung gegen Sehen (auf Distanz) und Hören einzutauschen.
Eine unsichtbare, glasklare Wand trennt eines Morgens die namenlose Protagonistin, vierzigjährige Mutter zweier Töchter und Witwe, von der übrigen Welt ab: „Die Wand steht am Anfang der Geschichte wie bei Kafka die Tatsache, daß einer als Riesenungeziefer aufwacht; ein innerer Vorgang wird nach außen projiziert“, schreibt Clara Menck in einer frühen Rezension des Romans.[2] Die gläserne Wand erfülle „anscheinend einen Angsttraum: allein als letzter Mensch übrigzubleiben, jenseits der Wand alles Leben versteinert zu sehen“.[3]
Die Pandemie sowie die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung beschneiden um der Sicherheit des Einzelnen willen weite Teile des öffentlichen und privaten Lebens und wirken direkt auf das Selbstbild des Menschen als eines sozialen, auf ein Gegenüber angewiesenen Wesens. Welche Konsequenzen diese Einschränkungen des sozialen Austauschs für die Entwicklung des einzelnen wie der Gesellschaft haben, ist noch überhaupt gar nicht abzuschätzen. Eines aber führen sie prominent vor Augen: Der Mensch bedarf um seiner selbst willen notwendig des Austauschs mit anderen; hierzu gehört auf basale Weise der Tastsinn, die Berührung. Während die Nahsinne Tasten, Riechen und Schmecken vom ersten Lebenstag an eine zentrale Rolle spielen und schon bei der Geburt weit entwickelt sind, gilt dies für den Fernsinn des Sehens nicht.[4]
Ästhetik des Taktilen als Aisthetik des Taktilen
Ästhetik in einem begrifflich weit gefassten Sinn — als aisthesis oder Aisthetik — hat es mit sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis zu tun und hier insbesondere mit den ‚anderen’ Formen der sinnlichen Wahrnehmung, die im Laufe der Philosophiegeschichte abgewertet und in einer Hierarchie der Sinne hintangestellt wurden: Tasten, Riechen und Schmecken. Erst spät kam es in der Geschichte des Denkens zu einer Aufwertung der unteren Sinne, der Nah-Sinne — ein Faktum, das zweifelsohne in einem Zusammenhang zu sehen ist mit der bis in die Antike und das Mittelalter zurückreichenden ideengeschichtlichen Abwertung des Körpers und der Hochschätzung des Geistigen sowie dem frühneuzeitlichen Dualismus von Geist (res cogitans) und Körper (res extensa), wie er sich uns im Werk eines René Descartes darstellt.
Erst mit Alexander Gottlieb Baumgarten erfolgte die Begründung der Ästhetik als einer philosophischen Disziplin und, damit verknüpft, die Aufwertung der Sensitivität respektive Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen wie auch als eines Gegenstands der philosophischen Betrachtung. In den Prolegomena zu seiner Aesthetica wird im Paragrafen 1 der Gegenstandsbereich wie folgt definiert: „AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis,) est scientia cognitionis sensitivae“.[5] Die Ästhetik ist hier also zugleich Kunst („ars“) als auch eine Wissenschaft („scientia“) beziehungsweise ein die Kunst reflektierendes gedankliches System — eine Theorie der „Freien Kunst“ („liberalium artium“). Als entscheidend in Baumgartens Definition des Gegenstandsbereichs der philosophischen Ästhetik sind die Begriffe gnoseologia inferior und scientia cognitionis sensitivae anzusehen, denn damit bildet das untere Erkenntnisvermögen das Fundament der philosophischen Disziplin ‚Ästhetik’. Ästhetik in diesem Sinne befasst sich als Wissenschaft, also in diskursiv-begrifflicher Weise, mit dem, was über das rein Rationale hinausgeht, mit sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindungen, mit Fantasie und Einbildungskraft, Begehren und Erinnerung, dem ‚Anderen’ der Vernunft. Während den Sinnesqualitäten bei Descartes lediglich eine biologische Bedeutung ohne objektiven Erkenntniswert zukam, wurden sie bei Baumgarten erheblich aufgewertet: Baumgarten sprach ihnen gar einen der Ratio analogen erkenntnisrelevanten Charakter zu und damit eine zentrale Rolle im Prozess der Erkenntnis.
Ästhetik als Aisthetik hat einen breit angelegten Gegenstandsbereich: Sie ist Wissenschaft wie Kunst, verfährt imaginativ wie logisch-rational, beruht auf Begriffen ebenso wie auf Empfindungen. Ihr ist solcherart, je nach Betrachtungswinkel, eine Spaltung oder aber eine Dopplung eingeschrieben: die von Begrifflichkeit und dem, was sich nicht begrifflich subsumieren lässt, die von Gedanke und Emotion, von geistigem und körperlichem Leben. Ästhetik in einem weit gefassten Sinn lässt sich somit keinesfalls beschränken auf jene gedanklich eng geführte Kunstlehre des Schönen, als die sie durch die Jahrhunderte hindurch gedacht wurde. Sie ist eine Form des nicht allein begrifflichen Erkennens, sondern eines analogen und assoziativen Denkens.[6] Ästhetik hat es nach Baumgarten auch mit der Erkenntnis von Wahrheit zu tun, wobei die Sinne zum Medium des Erkennens werden. Gleich dem Verstand sind sie zu gnoseologisch relevanten, durch eine eigenständige Qualität ausgezeichneten Urteilen befähigt. Ihr sprachliches Äquivalent, ihre literarische Ausdrucksform sind nicht abstrakte metaphysische Beweisführungen, sondern „unmittelbare konkrete Bilder und Tropen“.[7]
Für den vorliegenden Beitrag nun bildet das dargelegte begrifflich weit gefasste Verständnis der Ästhetik die Grundlage. Dies ist notwendig für die Hinwendung zum Phänomen des Nahsinns Tasten in seiner Bedeutung als Medium der (Selbst-)Erkenntnis, wie er uns in Haushofers Text begegnet, und für die Diskussion des Romans als eines literarischen Entwurfs einer Aisthetik des Taktilen.
Mit der Öffnung des Gegenstandsbereichs der Ästhetik geriet nicht allein ein Phänomen wie das Hässliche ins Visier des philosophischen Denkens,[8] sondern ebenso all jene Phänomene und Konstrukte, die sich dem Begriff einer Ästhetik des Performativen zuordnen lassen, wie beispielsweise Berührung,[9] Atmosphäre, Präsenz, Liveness.[10]Der Begriff des Performativen macht den Körper in seiner Materialität zum Gegenstand der philosophisch-künstlerischen Reflexion. Über die Hinwendung zum Körper im Hier und Jetzt seines raumzeitlichen Erscheinens werden Sinne wie das Hören, Riechen und Tasten zum Sujet der philosophisch-kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung. Des Weiteren gerät Räumlichkeit als performative und inszenierte in den Blick.
Wolfgang Welsch beleuchtet in Grenzgänge der Ästhetik (neue) Szenarien des Ästhetischen, untersucht Phänomene der Gegenwartskunst wie Konstellationen der Wahrnehmung. Hierbei konturiert er eine Geschichte der Wahrnehmung im Abendland, die sich durch zunehmende Subjektivierung gekennzeichnet sieht: „Die spezifisch moderne Geschichte der Wahrnehmung will ich nun unter dem Stichwort ‚Subjektivität‘ verfolgen“.[11] Ästhetische Erfahrung heuteanerkennt die sinnliche Präsenz als Grundverfassung der (bildenden) Künste.[12]
Fiktionaler Raum als Schutz und Gefängnis
Damit einher geht ein spezifisch modelliertes Verständnis des Raum-Begriffs, was sich als ebenso bedeutsam für Marlen Haushofers Roman erweist, der ja die Raummetaphorik bereits im Titel trägt. Spätestens seit den 1980er Jahren avancierte der Raum zu einem Schlüsselthema der Geistes- und Kulturwissenschaften (spatial / topographical turn),[13] im jüngeren wie jüngsten interdisziplinären Denken spielt er eine herausragende Rolle. Insbesondere die Geographie, die Soziologie und die Ästhetik läuteten eine Wende im Raumdenken ein.[14] Raum als erlebter Raum ist eng an ein wahrnehmendes Subjekt gebunden und ein multisensuell-synästhetisches Phänomen. Wie Michel Foucault in seinem richtungsweisenden Text Andere Räume bemerkte, leben wir als Subjekte nicht „in einem homogenen und leeren Raum, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist“.[15] Bei Gaston Bachelard heißt es, zum ursprünglichen Schutzwert der Räume kämen noch imaginierte Werte hinzu, und diese Werte seien bald „die dominierenden Werte“: Der von der Einbildungskraft erfasste Raum könne nicht „der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist“.[16] Der imaginäre Raum „wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft. […] Er konzentriert das Sein im Innern der Grenzen, die es beschützen“.[17]
Schutz und Gefängnis für die Protagonistin: So zeigt sich uns der fiktive Raum in Haushofers Roman. Die Wandsperrt die Frau ein und beschützt sie zugleich. Durch die Wand bildet sich ein überschaubares Terrain mit einem spezifischen Klimat aus, das der namenlosen Hauptfigur zum Lebensraum wird, in dem sie sich einrichtet und dem sie zugleich nicht entkommen kann. Die Wand grenzt ein Stück Natur ein, das die Frau kultiviert. Nach und nach wird sie zu einem Teil des Lebens der Frau — so sehr, dass diese oft wochenlang nicht an sie denkt.[18] Sie ist „ein Ding, das weder tot noch lebendig ist“.[19] Mehr und mehr wird das Dasein hinter der Wand zum ihr angemessenen Platz,[20] und der Impuls, sich selbst und die Tiere am Leben zu erhalten, bestimmt das Dasein der Frau.[21]
Was für ein Phänomen ist diese Wand? Jahrzehnte interpretatorischer Bemühungen kreisten um diese Frage. Wir haben es mit einem Produkt der literarischen Einbildungskraft zu tun, mit einem fiktiven Raum, geschaffen von der Imagination einer Autorin, von ihr „eingebildet“, eben: „imaginiert“. So ist ihm ein bildhaftes (image / Imagination / Ein-Bildung) Moment eingeschrieben. Wir haben es mit einem poetischen Raum zu tun, der in der Offenheit seiner Bezüge und Assoziationen letztlich unbestimmt bleibt. Es ist ein figürlich strukturierter Raum, für den die Verwischung der Grenzen von Wahrnehmung und Vorstellung, Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, konstitutiv ist.[22]
Die Wand ist unsichtbar und teilt den Lebensraum der Protagonistin in ein Innen und Außen, ein Hier und Dort. Sie ist nicht allein ein räumliches Phänomen, ihr ist ebenso sehr ein zeitliches Moment eingeschrieben: Sie teilt das Leben der Frau in ein Jetzt und Damals, in Gegenwart und Vergangenheit.
Grenze gehört zu den zentralen Metaphern der Philosophie[23]; der Begriff ist eng mit dem Erkennen(können) verknüpft: Die Grenzen des Erkennens und die Grenzen der Sprache sehen sich verschwistert.[24]Philosophiegeschichtlich stellt der Mensch sich uns als ein Wesen der Grenze(n) dar.[25]
In der Metapher Wand sehen sich in Marlen Haushofers Roman die genannten Zusammenhänge verknüpft: Das Phänomen der Grenzziehung (implizit eines Einschluss-Ausschluss-Gepräges), die Infragestellung der eigenen Zeitlichkeit, die Erfahrung des Lebens als eines deutlich in Gegenwart und Vergangenheit geschiedenen, die Konfrontation mit Sterblichkeit (der eigenen wie der der anderen), die Erfahrung einer Spaltung im Ich, das, mit der Wand, sogar den eigenen Namen verliert. Die Wand ist für die Protagonistin als Grenze gleichsam ein körperhaftes Wesen, dessen Erscheinen von Anbeginn an mit dem Erlebnis von Schmerz und Verletzung verbunden ist:
„Als ich endlich den Ausgang der Schlucht erreichte, hörte ich Luchs schmerzlich und erschrocken jaulen. Ich bog um einen Scheiterstoß, der mir die Aussicht verstellt hatte, und da saß Luchs und heulte. Aus seinem Maul tropfte roter Speichel. Ich beugte mich über ihn und streichelte ihn. Zitternd und winselnd drängte er sich an mich. Er mußte sich in die Zunge gebissen oder einen Zahn angeschlagen haben. Als ich ihn ermunterte, mit mir weiterzugehen, klemmte er den Schwanz ein, stellte sich vor mich und drängte mich mit seinem Körper zurück. Ich konnte nicht sehen, was ihn so ängstigte. […] Unwillig schob ich den Hund zur Seite und ging allein weiter. Zum Glück war ich, durch ihn behindert, langsamer geworden, denn nach wenigen Schritten stieß ich mit der Stirn heftig an und taumelte zurück.“[26]
Um zu begreifen, was sich ihr da unsichtbar in den Weg stellt, streckt die Protagonistin die Hand aus und berührt „etwas Glattes und Kühles: einen glatten, kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft“.[27] Zögernd versucht sie es ein weiteres Mal, wieder ruht ihre Hand „wie auf der Scheibe eines Fensters“.[28]Dann hört sie ein lautes Pochen und sieht um sich, nur um zu begreifen, dass es ihr eigener Herzschlag ist, den sie hört: „Mein Herz hatte sich schon gefürchtet, ehe ich es wußte“.[29] Nachdem sie sich eine Weile auf einen Baumstamm am Straßenrand gesetzt und zu überlegen versucht hat, in welcher Situation sie sich befindet, steht sie auf und überzeugt sich noch mehrere Male davon, dass „hier, drei Meter vor mir, wirklich etwas Unsichtbares, Glattes, Kühles“ ist, das sie am Weitergehen hindert.[30] Sie denkt an eine Sinnestäuschung, aber begreift zugleich, dass es „nichts Derartiges“ ist: „Ich hätte mich leichter mit einer kleinen Verrücktheit abgefunden als mit dem schrecklichen unsichtbaren Ding. Aber da war Luchs mit seinem blutenden Maul, und da war die Beule auf meiner Stirn, die anfing zu schmerzen“.[31]
Im Nachhinein, beim Schreiben ihres Berichts, weiß die Frau nicht, wie lange sie noch auf dem Baumstamm saß, doch sie erinnert sich daran, dass ihre Gedanken „immerfort um ganz nebensächliche Dinge kreisten, als wollten sie sich um keinen Preis mit der unfaßbaren Erfahrung abgeben“.[32]
Wo entscheidet sich das Subjekt?
Mit der Hand berührt die Frau die Wand — um sich zu überzeugen, um zu ‚begreifen’. Wohl auch, um sich ihrer Existenz, ihres Da-Seins, zu versichern.
„Wo entscheidet sich das Subjekt?“, fragt Michel Serres in seiner Philosophie der Gemenge und Gemische, einem Buch, das sich mit den fünf Sinnen befasst, mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem denkenden, erkennenden, sprechenden Subjekt und dem, was ihm durch seine Sinne unmittelbar gegeben ist:
„In der Berührung mit sich selbst erlangt die Haut Bewußtsein. Ohne […] die Berührung mit sich selbst, gäbe es keinen inneren Sinn, keinen wirklichen Körper, weniger Körpergefühl und kein eigentliches Körperschema; wir würden ohne Bewußtsein leben, glatt und stets in Gefahr, uns zu verlieren.“[33]
Serres beschreibt die Haut als „Karte unserer Identität“, als „carte d’identité“, wie ein „Personalausweis“: „Jeder trägt seine eigene bei sich, unverwechselbar wie der Fingerabdruck oder das Gebiss“ (und wie die Stimme), „keine dieser Hautkarten gleicht der anderen; jede verändert sich mit der Zeit“.[34] Die Haut mit ihren „eintätowierten Geschichten trägt und zeigt die eigene Geschichte“:
„Entweder sichtbar: Abnutzung, die Narben alter Wunden, von der Arbeit verhärtete Stellen, die Runzeln und Furchen vergangener Hoffnungen, Flecken, Male, Ekzeme, Schuppenflechten, Begierden. Hier hat das Gedächtnis sich eingegraben; warum sollte man es anderswo suchen. Oder unsichtbar: die flüchtigen Spuren von Liebkosungen, Erinnerungen an Seide, Wolle, Samt, Pelze, Steine, Baumrinde, rauhe Oberflächen, Eiskristalle, Flammen, die Zaghaftigkeit feinsinnigen Takts und die Kühnheit gewagter Berührungen.“[35]
Serres bemerkt, dass die meisten Philosophen sich auf den Gesichtssinn beziehen, nur wenige auf das Gehör, und noch weniger ihr Vertrauen auf den Tast- oder Geruchssinn setzen.[36] Die Abstraktion zerschneide den empfindenden Körper.[37]
Die Protagonistin in Haushofers Roman kann in der Begegnung mit der Wand auf nichts als auf ihre Hände vertrauen: Immer wieder nähert sie sich vorsichtig mit ausgestreckten Händen dem unsichtbaren Hindernis und tastet sich an ihm entlang.[38] Im Versuch, sie zu begreifen, schlägt die Frau auch mit der Faust gegen die Wand: „Es schmerzte ein wenig, aber nichts geschah. Und plötzlich hatte ich nicht mehr das Verlangen, die Wand zu zerschlagen, die mich von dem Unbegreiflichen trennte“.[39] Die Wand ist nicht zu sehen, nicht zu riechen, nicht zu hören, nicht zu schmecken — die Begegnung mit ihr reduziert sich auf den Tastsinn.
Die erste Berührung steht am Beginn einer Entwicklung, die sich im weiteren Handlungsverlauf fortsetzt: Die Forcierung des Tastens, die Entwicklung der Frau hin zu einem händischen, taktilen, Wesen. Die Protagonistin versichert sich in den folgenden Tagen immer wieder der Existenz der unsichtbaren Grenze. Beide Handflächen an die Wand gepresst, starrt sie durch diese hindurch auf das Dahinterliegende: einen alten (versteinerten) Mann, mehr Ding als Mensch, auf einen Brunnenrand gestützt, die gehöhlte Hand zum Gesicht erhoben; ein kleines Stück Tal, erfüllt von Sonnenlicht: „Wenn der Mann am Brunnen tot war, und daran konnte ich nicht mehr zweifeln, mußten alle Menschen im Tal tot sein, und nicht nur die Menschen, alles was lebend gewesen war. Nur das Gras auf den Wiesen lebte, das Gras und die Bäume“.[40]
Die Frau beschließt, den Grenzverlauf der Wand mit Zweigen abzustecken, Sichtbarkeit verheißt Sicherheit. Es ist eine mühsame Beschäftigung, aber sie ist wie besessen von der Vorstellung, diese Arbeit erledigen zu müssen: „Sie beruhigte mich und brachte einen Hauch von Ordnung in die große, schreckliche Unordnung, die über mich hereingebrochen war“.[41] „Etwas wie die Wand durfte es einfach nicht geben“, sinniert die Protagonistin. „Daß ich sie mit grünen Hölzern absteckte, war der erste Versuch, sie, da sie nun einmal da war, auf einen angemessenen Platz zu verweisen.“[42]
Sorge-um-sich und Selbsterkenntnis
In der Folgezeit richtet sie sich ein in dem durch die Wand von dem Rest der Welt abgetrennten Bereich — mit dem Jagdhund Luchs, einer zugelaufenen Katze, einer zugelaufenen Kuh, die ein Stierkalb zur Welt bringt. Die Frau muss alles neu erlernen: Heu wenden, Bohnen anbauen, Kartoffeln ausgraben, die Kuh melken, das Stierkalb aus dem Leib der Mutter herausziehen, die ganze monotone Mühsal eines Überlebens als Ackerbauerin inmitten der Natur. Sie lernt, für sich selbst zu sorgen und begreift mit der Zeit, dass ihr vergangenes Leben ihr fremd geworden ist, sie die Gesellschaft der Menschen nicht mehr braucht und nicht mehr will.[43] An die Stelle der Menschen sind die Tiere und die Natur getreten.
Michel Foucault beschreibt in seiner Vorlesung Hermeneutik des Subjekts die historischen wie theoretischen Voraussetzungen des wirkungsmächtigen Konzepts der Sorge um sich. Foucaults elaborierter Entwurf einer Ästhetik der Existenz ist geknüpft an eine Theorie des Subjekts, die die Arten und Weisen beleuchtet, wie wir uns als Subjekte zu uns selbst verhalten. Die Hermeneutik des Subjekts stellt eine konkrete Analyse des Selbst-Verhältnisses dar. Mit dem Begriff der Sorge um sich selbst versucht Foucault, „den äußerst komplexen, vielschichtigen […] Begriff der epimeleia heautou zu übersetzen, der sich in der gesamten griechischen Kultur sehr lang gehalten hat“.[44] Die Lateiner übersetzten ihn mit cura sui. Die Sorge um sich selbst nun bedeutet ein Sich-um-sich-Kümmern, ein Sich-um-sich-Sorgen, ein Sich-selbst-Aufmerksamkeit-Zuwenden.[45] Dem Begriff der epimeleia heautou, führt Foucault weiter aus, sei, im Gegensatz zum bekannten Orakelspruch „gnothi seauton“ („Erkenne dich selbst!“),[46] im griechischen Denken nie ein besonderer Status eingeräumt worden. Alles in der Geschichte des abendländischen Denkens deute darauf hin, dass dieses „Erkenne dich selbst“ die Formel sei, in der die Frage nach den Beziehungen von Subjekt und Wahrheit gründet.
Marlen Haushofers Roman ist als literarischer Entwurf der beiden genannten Weisen des Selbstbezugs zu lesen: Die Sorge um sich selbst spielt im Roman eine ebenso zentrale Rolle wie die Thematik der Selbsterkenntnis, beide Konzepte sind eng miteinander verknüpft. Das Moment des Taktilen, die Hände, sind es, die im Text die Sorge um sich selbst und die (intellektuelle) Selbsterkenntnis verbinden. Mit ihren Händen düngt, sät, sägt, erntet, mäht und näht die Frau.[47] Mit ihren Händen schreibt sie ihren Bericht, in dem sie sich auf ihre spärlichen Notizen im Kalender und ihre Erinnerung bezieht: „Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist.“[48] Die Protagonistin schreibt nicht aus Freude am Schreiben: Es „hat sich eben so für mich ergeben, daß ich schreiben muß, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte. Ich bin ganz allein.“ [49]
Hände als Werkzeug und reflexives Medium
Die „händische“ (taktile) Existenz der Protagonistin besteht im Gebrauch der Hände als Werkzeuge — ihre Hände, „immer mit Blasen und Schwielen bedeckt“, sind zu den „wichtigsten Werkzeugen“[50] der Frau geworden — wie auch als eines reflexiven Mediums im Prozess des Schreibens, der Niederschrift ihres Berichts eben mit Hand und Stift. Die Hände konservieren die Geschichte ihres Ichs, bilden Hornhaut aus, von der schweren körperlichen Arbeit verhärtete Stellen; ihre Hände werden für die Frau zum Medium der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung, des Überlebens wie auch der Bezugnahme auf die Welt mit ihren Objekten und die Natur. Ihre Ringe hat sie längst abgelegt, denn wer „würde schon seine Werkzeuge mit goldenen Ringen schmücken. Es schien mir absurd und lächerlich, daß ich es früher getan hatte“.[51] In ihren Händen fühlt sie immer wieder das warme Herz der geschossenen Rehe erkalten.[52] Ihre Hände, die das schwere Arbeiten wie das Töten von Wild erlernen (müssen) wie die Fürsorge, das Hegen der Pflanzen und das Pflegen der Tiere, verlernen ganz, „mit […] kleinen Dingen umzugehen“.[53]
Haushofers Text setzt die Hände mit dem Ich gleich, so beispielsweise, als die Frau lernt, das Brennholz für den Winter zu sägen:
„Ich legte die Scheiter auf einen Sägebock aus der Garage und fand sogleich, daß ich mit der Säge sehr schlecht fertig wurde. Immer wieder blieb sie im Holz stecken, und ich mußte mich plagen, um sie wieder herauszubekommen. Am dritten Tag begriff ich endlich, das heißt, meine Hände, Arme und Schultern begriffen, und plötzlich war es, als hätte ich mein Leben lang nur Holz gesägt. Ich arbeitete langsam, aber stetig weiter. Meine Hände waren bald voll Blasen, die schließlich aufsprangen und näßten.“[54]
Das Begreifen besteht hier in einem konkreten Begreifen mit Körper und Händen. Mit dem veränderten Blick auf ihre Hände verändert sich auch der Blick der Frau auf die Frau, die sie einmal war (und die ihr nicht sehr sympathisch erscheinen will), wie auf die Frau, die sie jetzt ist und die ruhig vergessen könne, daß sie eine Frau sei: „Manchmal war ich ein Kind, das Erdbeeren suchte, dann wieder ein junger Mann, der Holz zersägte, oder, wenn ich […] auf der Bank saß […], ein sehr altes, geschlechtsloses Wesen“.[55]
Im Laufe des Berichts gelangt die Frau zu der Erkenntnis, dass sie erst im Alter von vierzig Jahren darauf gekommen ist, Hände zu besitzen.[56] Immer wieder sieht sie sich vor Arbeiten gestellt, mit denen sie nicht fertig wird: „Man darf nicht zuviel von mir verlangen. Der größte Erfolg wäre es wohl, wenn ich die Tür zu Bellas neuem Stall richtig einsetzen könnte. Zimmermannsarbeit fällt mir immer noch besonders schwer“.[57] Dafür zeigt sie sich in der Landwirtschaft und in der Tierpflege geschickt: „Alles, was mit Pflanzen und Tieren zu tun hat, hat mir schon von jeher eingeleuchtet.“[58] An zahlreichen Stellen ihres Berichts reflektiert sie über das Mensch-Tier-Verhältnis[59]: „Manchmal bildete ich mir ein, daß Luchs, wären ihm plötzlich Hände gewachsen, bald auch zu denken und zu reden angefangen hätte“.[60] Die Hände werden an das menschliche Denk-, Erkenntnis- und Sprachvermögen angekoppelt und stehen ein für die Individualität des Menschen. Zugleich sind das Spüren und die Kognition zwei unterschiedliche Arten und Weisen, mit denen das Subjekt Wahrheit über sich selbst erlangen kann: „Ich spüre nicht mehr, wie schön es war, ich weiß es nur noch. Das ist ein schrecklicher Unterschied. […] Meine Sinne erinnern sich schlechter als mein Hirn.“[61]
Das Schreiben ihres Berichts wird für die Frau, da es keine anderen Gespräche (ausgenommen mit ihren Tieren) mehr gibt, ein endloses Selbstgespräch. Das Niederschreiben „in Menschenschrift und Menschenworten“[62]vermittelt ihr ein Gefühl von Sicherheit vergleichbar dem Abstecken der Wand mit Zweigen.[63] Das Aufschreiben des Erlebten ist für die Protagonistin „ein letzter Versuch“: „Ich konnte doch nicht den ganzen Winter am Tisch sitzen mit dieser einen Frage im Kopf, die mir kein Mensch, überhaupt niemand auf der Welt, beantworten kann“[64] — die Frage, warum der fremde Mann, der am Ende des Textes auftaucht und über den wir nur wenig erfahren[65], ihren Hund Luchs und den kleinen Stier auf eine so grausame Art getötet hat. In Notwehr erschießt sie den fremden Mann, während sie mitansehen muss, wie das von ihm geführte Beil aufblitzt und dumpf auf Luchs’ Schädel aufschlägt.[66]
Im Laufe der hinter der Wand verbrachten Monate ist die Frau zu einem wehrhaften Ich geworden, „mißtrauisch […] wie meine Katze. Mein Gewehr hängt immer geladen an der Wand, und ich gehe keinen Schritt weg, ohne mein scharfes Knickmesser“.[67]
Die Protagonistin beendet die Niederschrift ihres Berichts am fünfundzwanzigsten Februar mit dem Gefühl, „ganz ruhig“ zu sein und „ein kleines Stück weiter“ zu sehen: „Ich sehe, daß dies noch nicht das Ende ist. Alles geht weiter. […] etwas Neues kommt heran, und ich kann mich ihm nicht entziehen“.[68] Sobald das Wetter wärmer wird, will sie daran gehen, die Kammer in der Jagdhütte zu Bellas neuem Stall umzubauen, „und es wird mir auch gelingen. Ich weiß noch nicht wie, aber es wird mir bestimmt noch einfallen. Ich werde Bella und dem neuen Kalb ganz nahe sein und werde sie Tag und Nacht bewachen“.[69]
Wo entscheidet sich das Subjekt? Mit der Protagonistin sind wir am Punkt dieser Entscheidung angekommen: Es ist jene diffuse Stelle oder Naht, wo zwei Hände sich tastend auf eine unsichtbare Wand legen, das Sehen in seine Grenzen verwiesen, und der Tastsinn an seinen Anfang gestellt wird — in der Berührung von Damals und Heute, Raum und Zeit, im Gemenge von fiktivem und realem Moment, in der atmenden Haut eines Textes.
Literaturverzeichnis
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Schneider, Norbert: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Eine paradigmatische Einführung. Mit 8 Abbildungen. Stuttgart 1996
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[1] Vgl. hierzu: Haushofer: Die Wand, 2006, S. 227 ff. (Materialien)
[2] Menck: Hinter der Glaswand. In: Haushofer: Die Wand, 2006, S. 259–262, hier: S. 259.
[3] Ebenda.
[4] Pauen: Wahrnehmung. In: Vom Baby zum Kleinkind, S. 96–117, https://doi.org/10.1007/978–3-8274–2780-9_4 (Stand: 5.11.2020).
[5] Hier zitiert nach: Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Eine paradigmatische Einführung, S. 23.
[6] Norbert Schneider bemerkt hierzu: „Der Begriff des ‚analogon rationis‘ stammt von Leibniz, der ihn auf das seiner Meinung nach rein triebartige und assoziativ-begriffslose Denken der Tiere bezog“. Ebenda.
[7] A. a. O., S. 24.
[8] Für Karl Rosenkranz gehört das Hässliche unzertrennlich zum Schönen und der Begriff des Hässlichen als eines „Negativschönen“ macht einen Teil der Ästhetik aus; vgl. Schneider, a. a. O., S. 97.
[9] Aktuell ist das Phänomen „Berührung“ Thema der Ausstellung VALIE EXPORT. Fragmente einer Berührung. 31.10.–31.12.2020 der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden. Im Fokus der Ausstellung stehen Installationen und Werkgruppen, die laut Begleittext ein besonderes Moment in dem Œuvre der Künstlerin hervorheben: die Berührung. Berührung sei hier nicht nur im klassischen Sinne körperlich zu verstehen, sondern beinhalte auch eine medienreflexive Ebene. In diesem Sinne fungiere sie als Feststellung der Grenze oder auch des Übergangs zwischen den Realitäten: zwischen Bild und Raum, Materie und Leere, Körper und Umwelt. Gerade in Zeiten der Kontakt- und Berührungssperre bedingt durch die Covid-19-Pandemie bekomme das Ausstellungsthema eine besondere Relevanz, https://kunsthalle-baden-baden.de/program/valie-export/ (Stand: 5.11.2020).
[10] Vgl. beispielsweise Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen.
[11] Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, S. 186.
[12] Vgl. beispielsweise Stöhr: Der „Pictorial Turn“ und die Zukunft ästhetischer Erfahrung — eine Hinführung zum Thema. In: Derselbe (Hg.): Ästhetische Erfahrung heute, S. 7–14.
[13] Dünne, Jörg und Günzel, Stephan: Vorwort. In: Dieselben (Hgg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, S. 9–15.
[14] Ebenda. Der von Dünne / Günzel herausgegebene Band versammelt einen repräsentativen Querschnitt raumtheoretischer Grundlagentexte von der Neuzeit bis zur Gegenwart, „die sich nicht nur mit der Phänomenologie des Raumes auseinandersetzen, sondern auch über mediale, soziale, politische und ästhetische Räume reflektieren“.
[15] Foucault: Andere Räume. In: Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, S. 34–46, hier: S. 37.
[16] Bachelard: Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard, S. 25.
[17] Ebenda.
[18] Haushofer: Die Wand, 2019, S. 150.
[19] Ebenda.
[20] Vgl. a. a. O., S. 222.
[21] A. a. O., S. 225.
[22] Die Zusammenhänge von Raum und Subjekt und den Begriff des erlebten (synästhetischen) Raums habe ich ausführlich in meiner Dissertation untersucht: Hachenberg: Literarische Raumsynästhesien um 1900. Methodische und theoretische Aspekte einer Aisthetik der Subjektivität.
[23] Zill: Grenze. In: Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, S. 135–146, hier: S. 135.
[24] A. a. O., S. 144.
[25] A. a. O., S. 139 (hier Philon von Alexandria).
[26] Haushofer: Die Wand, 2019, S. 14.
[27] A. a. O., S. 15.
[28] Ebenda.
[29] Ebenda.
[30] Ebenda.
[31] Ebenda.
[32] Ebenda.
[33] Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, S. 18 f.
[34] A. a. O., S. 20.
[35] A. a. O., S. 21.
[36] A. a. O., S. 24. Vgl. hierzu auch: Konersmann: Die Augen der Philosophen. Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens. In: Derselbe (Hg.): Kritik des Sehens, S. 9–47, hier: S. 9: „Die abendländische Kultur ist eine Kultur des Sehens. Der Blick durchdringt und überschaut, er forscht und prüft, er verbindet und trennt, und er ist selbst da noch gegenwärtig, wo es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt“, sowie Wessel: Die Macht der Gerüche. Eine Philosophie der Nase. In: Spektrum der Wissenschaft, https://www.spektrum.de/magazin/die-macht-der-gerueche-eine-philosophie-der-nase/820935 (Stand: 22.10.2020): Nur wenige Philosophen ließen der Sinnlichkeit ihren Raum, nach Wessel „die griechischen Materialisten, einige spätere Denker der Aufklärung sowie Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche“.
[37] Vgl. Serres: Die fünf Sinne, ebenda.
[38] Haushofer: Die Wand, 2019, S. 16.
[39] A. a. O., S. 17.
[40] A. a. O., S. 21.
[41] A. a. O., S. 29.
[42] Ebenda.
[43] Vgl. hierzu auch: Keiner ist frei von Neid. Thomas Bärnthaler und Gabriela Herpell im Interview mit Martina Gedeck und Corinna Harfouch. Süddeutsche Zeitung Magazin, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/kino-film-theater/keiner-ist-frei-von-neid-80147 (Stand: 1.11.2020).
[44] Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82), S. 16.
[45] Ebenda.
[46] A. a. O., S. 17.
[47] Vgl. zum Beispiel: Haushofer: Die Wand, 2019, S. 274.
[48] A. a. O., S. 7.
[49] Ebenda.
[50] A. a. O., S. 82.
[51] A. a. O., S. 80.
[52] A. a. O., S. 211.
[53] Ebenda.
[54] A. a. O., S. 80; vgl. auch S. 255: „Meine Hände waren bald wieder rissig und voll Pech und kleiner Holzsplitter“ und S. 198: „ Meine Hände waren wund und zerstochen und heilten nur langsam“.
[55] Ebenda.
[56] A. a. O., S. 137.
[57] Ebenda.
[58] Ebenda.
[59] Vgl. beispielsweise a. a. O., S. 235: „Die Schranken zwischen Tier und Mensch fallen sehr leicht. Wir sind von einer einzigen großen Familie, und wenn wir einsam und unglücklich sind, nehmen wir auch die Freundschaft unserer entfernten Vettern gern entgegen. (…) Im Traum bringe ich Kinder zur Welt, und es sind nicht nur Menschenkinder, es gibt unter ihnen Katzen, Hunde, Kälber, Bären und ganz fremdartige pelzige Geschöpfe (…) und es ist nichts an ihnen, was mich erschrecken oder abstoßen könnte. Es sieht nur befremdend aus, wenn ich es niederschreibe (…). Vielleicht müßte ich diese Träume mit Kieselsteinen auf grünes Moos zeichnen oder mit einem Stock in den Schnee ritzen. Aber das ist mir noch nicht möglich. Wahrscheinlich werde ich nicht lange genug leben, um so weit verwandelt zu sein.“ Bezeichnend für das Verhältnis der Protagonistin zu den Tieren ist auch die Bemerkung, dass die Tiere an ihrem Geruch, an ihrer Stimme und an gewissen Bewegungen hängen, sodass sie ihr Gesicht „ruhig ablegen (kann), es wurde nicht mehr gebraucht“ (a. a. O., S. 231).
[60] Ebenda.
[61] A. a. O., S. 213.
[62] A. a. O., S. 235.
[63] „Es wird der einzige Bericht sein, den ich schreiben werde, denn wenn er geschrieben ist, wird es im Haus kein Stückchen Papier mehr geben, auf das man schreiben könnte“. A. a. O., S. 212.
[64] A. a. O., S. 275.
[65] A. a. O., S. 273: „Er war sehr schwer. Ich wollte ihn gar nicht deutlicher sehen. Sein Gesicht war sehr häßlich. Seine Kleider, schmutzig und verkommen, waren aus teurem Stoff und von einem guten Schneider genäht. Vielleicht war er ein Jagdpächter wie Hugo oder einer jener Anwälte, Direktoren und Fabrikanten, die auch Hugo so oft eingeladen hatte. Was auch immer er gewesen sein mochte, jetzt war er nur tot.“
[66] A. a. O., S. 272.
[67] A. a. O., S. 162.
[68] A. a. O., S. 275.
[69] A. a. O., S. 275 f.
Die Wand, Film 2012, mit Martina Gedeck in der Hauptrolle
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