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Gedanken zu einer Ästhetik des Taktilen: Marlen Haushofers Roman Die Wand.

Katja Hachenberg

Essay

[Beitrag als PDF]

Ein­lei­t­ende Bemerkun­gen

Jede Zeit hat ihre The­men und Her­aus­forderun­gen, ihre Deu­tungsver­suche und Deu­tungssys­teme. Jede Zeit hat ihre Lit­er­atur und ihren spez­i­fis­chen (ana­lytis­chen) Blick auf die Lit­er­atur — vom Hier und Jet­zt bed­ingte Ansätze der Rezep­tion und des Ver­ste­hens.

Marlen Haushofers im Jahr 1963 erschienen­er Roman Die Wand erfuhr im Lauf der Jahre und Jahrzehnte die unter­schiedlich­sten Inter­pre­ta­tio­nen: Er wurde biografisch gele­sen als eine Meta­pher auf „das unleb­bare Leben“ der Autorin, als Sci­ence-Fic­tion-Roman, als Auf­forderung zu neuem Denken, als ein exem­plar­isches Beispiel spez­i­fisch weib­lichen Schreibens, als „mod­erne Robin­son­ade“, „Zivil­i­sa­tion­skri­tik“ und erzäh­lerische Darstel­lung der möglichen Fol­gen ein­er nuk­learen Katas­tro­phe.[1] Der Roman ermöglicht all diese Annäherun­gen nicht nur, er fordert sie — in sein­er Kom­plex­ität und Vielschichtigkeit, Offen­heit und zeitüber­dauern­den Klas­siz­ität — sog­ar her­aus.

Der vor­liegende Beitrag disku­tiert Haushofers Text vor dem Hin­ter­grund des Jahres 2020, der Coro­na-Pan­demie, ihren Imp­lika­tio­nen und Auswirkun­gen. Es scheint beina­he so, als sei dem Roman ein utopis­ches, in die Zukun­ft weisendes und diese gle­ich­sam prophetisch her­auf­beschwören­des Gepräge eingeschrieben. In ein­er Zeit, in der wir alle wie hin­ter Wän­den leben, ein­er vom anderen getren­nt, unter dem Gebot, Abstand zu hal­ten, dazu aufge­fordert, Fre­unde, Bekan­nte, ja, sog­ar die Ange­höri­gen der eige­nen Fam­i­lie nicht in die Arme zu schließen, erfahren wir schmerzhaft, was es bedeutet, an die Stelle eines Nahsinns die Fernsinne treten zu lassen Berührung gegen Sehen (auf Dis­tanz) und Hören einzu­tauschen.

Eine unsicht­bare, glasklare Wand tren­nt eines Mor­gens die namen­lose Pro­tag­o­nistin, vierzigjährige Mut­ter zweier Töchter und Witwe, von der übri­gen Welt ab: „Die Wand ste­ht am Anfang der Geschichte wie bei Kaf­ka die Tat­sache, daß ein­er als Riese­nungeziefer aufwacht; ein inner­er Vor­gang wird nach außen pro­jiziert“, schreibt Clara Menck in ein­er frühen Rezen­sion des Romans.[2] Die gläserne Wand erfülle „anscheinend einen Angst­traum: allein als let­zter Men­sch übrigzubleiben, jen­seits der Wand alles Leben ver­stein­ert zu sehen“.[3]

Die Pan­demie sowie die Maß­nah­men zu ihrer Eindäm­mung beschnei­den um der Sicher­heit des Einzel­nen willen weite Teile des öffentlichen und pri­vat­en Lebens und wirken direkt auf das Selb­st­bild des Men­schen als eines sozialen, auf ein Gegenüber angewiese­nen Wesens. Welche Kon­se­quen­zen diese Ein­schränkun­gen des sozialen Aus­tauschs für die Entwick­lung des einzel­nen wie der Gesellschaft haben, ist noch über­haupt gar nicht abzuschätzen. Eines aber führen sie promi­nent vor Augen: Der Men­sch bedarf um sein­er selb­st willen notwendig des Aus­tauschs mit anderen; hierzu gehört auf basale Weise der Tastsinn, die Berührung. Während die Nahsinne Tas­ten, Riechen und Schmeck­en vom ersten Leben­stag an eine zen­trale Rolle spie­len und schon bei der Geburt weit entwick­elt sind, gilt dies für den Fernsinn des Sehens nicht.[4]

Ästhetik des Tak­tilen als Ais­thetik des Tak­tilen

Ästhetik in einem begrif­flich weit gefassten Sinn — als ais­the­sis oder Ais­thetik — hat es mit sinnlich­er Wahrnehmung und Erken­nt­nis zu tun und hier ins­beson­dere mit den ‚anderen’ For­men der sinnlichen Wahrnehmung, die im Laufe der Philoso­phiegeschichte abgew­ertet und in ein­er Hier­ar­chie der Sinne hin­tangestellt wur­den: Tas­ten, Riechen und Schmeck­en. Erst spät kam es in der Geschichte des Denkens zu ein­er Aufw­er­tung der unteren Sinne, der Nah-Sinne — ein Fak­tum, das zweifel­sohne in einem Zusam­men­hang zu sehen ist mit der bis in die Antike und das Mit­te­lal­ter zurück­re­ichen­den ideengeschichtlichen Abw­er­tung des Kör­pers und der Hochschätzung des Geisti­gen sowie dem früh­neuzeitlichen Dual­is­mus von Geist (res cog­i­tans) und Kör­p­er (res exten­sa), wie er sich uns im Werk eines René Descartes darstellt.

Erst mit Alexan­der Got­tlieb Baum­garten erfol­gte die Begrün­dung der Ästhetik als ein­er philosophis­chen Diszi­plin und, damit verknüpft, die Aufw­er­tung der Sen­si­tiv­ität respek­tive Sinnlichkeit als Erken­nt­nisver­mö­gen wie auch als eines Gegen­stands der philosophis­chen Betra­ch­tung. In den Pro­le­gom­e­na zu sein­er Aes­thet­i­ca wird im Para­grafen 1 der Gegen­stands­bere­ich wie fol­gt definiert: „AESTHETICA (theo­ria lib­er­al­i­um artium, gnose­olo­gia infe­ri­or, ars pul­cre cog­i­tan­di, ars analo­gi ratio­nis,) est sci­en­tia cog­ni­tio­n­is sen­si­ti­vae“.[5] Die Ästhetik ist hier also zugle­ich Kun­st („ars“) als auch eine Wis­senschaft („sci­en­tia“) beziehungsweise ein die Kun­st reflek­tieren­des gedanklich­es Sys­tem — eine The­o­rie der „Freien Kun­st“ („lib­er­al­i­um artium“). Als entschei­dend in Baum­gartens Def­i­n­i­tion des Gegen­stands­bere­ichs der philosophis­chen Ästhetik sind die Begriffe gnose­olo­gia infe­ri­or und sci­en­tia cog­ni­tio­n­is sen­si­ti­vae anzuse­hen, denn damit bildet das untere Erken­nt­nisver­mö­gen das Fun­da­ment der philosophis­chen Diszi­plin ‚Ästhetik’. Ästhetik in diesem Sinne befasst sich als Wis­senschaft, also in diskur­siv-begrif­flich­er Weise, mit dem, was über das rein Ratio­nale hin­aus­ge­ht, mit sinnlichen Wahrnehmungen und Empfind­un­gen, mit Fan­tasie und Ein­bil­dungskraft, Begehren und Erin­nerung, dem ‚Anderen’ der Ver­nun­ft. Während den Sin­nesqual­itäten bei Descartes lediglich eine biol­o­gis­che Bedeu­tung ohne objek­tiv­en Erken­nt­niswert zukam, wur­den sie bei Baum­garten erhe­blich aufgew­ertet: Baum­garten sprach ihnen gar einen der Ratio analo­gen erken­nt­nis­rel­e­van­ten Charak­ter zu und damit eine zen­trale Rolle im Prozess der Erken­nt­nis.

Ästhetik als Ais­thetik hat einen bre­it angelegten Gegen­stands­bere­ich: Sie ist Wis­senschaft wie Kun­st, ver­fährt imag­i­na­tiv wie logisch-ratio­nal, beruht auf Begrif­f­en eben­so wie auf Empfind­un­gen. Ihr ist solcher­art, je nach Betra­ch­tungswinkel, eine Spal­tung oder aber eine Dopplung eingeschrieben: die von Begrif­flichkeit und dem, was sich nicht begrif­flich sub­sum­ieren lässt, die von Gedanke und Emo­tion, von geistigem und kör­per­lichem Leben. Ästhetik in einem weit gefassten Sinn lässt sich somit keines­falls beschränken auf jene gedanklich eng geführte Kun­stlehre des Schö­nen, als die sie durch die Jahrhun­derte hin­durch gedacht wurde. Sie ist eine Form des nicht allein begrif­flichen Erken­nens, son­dern eines analo­gen und assozia­tiv­en Denkens.[6] Ästhetik hat es nach Baum­garten auch mit der Erken­nt­nis von Wahrheit zu tun, wobei die Sinne zum Medi­um des Erken­nens wer­den. Gle­ich dem Ver­stand sind sie zu gnose­ol­o­gisch rel­e­van­ten, durch eine eigen­ständi­ge Qual­ität aus­geze­ich­neten Urteilen befähigt. Ihr sprach­lich­es Äquiv­a­lent, ihre lit­er­arische Aus­drucks­form sind nicht abstrak­te meta­ph­ysis­che Bewe­is­führun­gen, son­dern „unmit­tel­bare konkrete Bilder und Tropen“.[7]

Für den vor­liegen­den Beitrag nun bildet das dargelegte begrif­flich weit gefasste Ver­ständ­nis der Ästhetik die Grund­lage. Dies ist notwendig für die Hin­wen­dung zum Phänomen des Nahsinns Tas­ten in sein­er Bedeu­tung als Medi­um der (Selbst-)Erkenntnis, wie er uns in Haushofers Text begeg­net, und für die Diskus­sion des Romans als eines lit­er­arischen Entwurfs ein­er Ais­thetik des Tak­tilen.

Mit der Öff­nung des Gegen­stands­bere­ichs der Ästhetik geri­et nicht allein ein Phänomen wie das Hässliche ins Visi­er des philosophis­chen Denkens,[8] son­dern eben­so all jene Phänomene und Kon­struk­te, die sich dem Begriff ein­er Ästhetik des Per­for­ma­tiv­en zuord­nen lassen, wie beispiel­sweise Berührung,[9] Atmo­sphäre, Präsenz, Live­ness.[10]Der Begriff des Per­for­ma­tiv­en macht den Kör­p­er in sein­er Mate­ri­al­ität zum Gegen­stand der philosophisch-kün­st­lerischen Reflex­ion. Über die Hin­wen­dung zum Kör­p­er im Hier und Jet­zt seines raumzeitlichen Erscheinens wer­den Sinne wie das Hören, Riechen und Tas­ten zum Sujet der philosophisch-kul­tur­wis­senschaftlichen Auseinan­der­set­zung. Des Weit­eren gerät Räum­lichkeit als per­for­ma­tive und insze­nierte in den Blick.

Wolf­gang Welsch beleuchtet in Gren­zgänge der Ästhetik (neue) Szenar­ien des Ästhetis­chen, unter­sucht Phänomene der Gegen­wart­skun­st wie Kon­stel­la­tio­nen der Wahrnehmung. Hier­bei kon­turi­ert er eine Geschichte der Wahrnehmung im Abend­land, die sich durch zunehmende Sub­jek­tivierung gekennze­ich­net sieht: „Die spez­i­fisch mod­erne Geschichte der Wahrnehmung will ich nun unter dem Stich­wort ‚Sub­jek­tiv­ität‘ ver­fol­gen“.[11] Ästhetis­che Erfahrung heuteanerken­nt die sinnliche Präsenz als Grund­ver­fas­sung der (bilden­den) Kün­ste.[12]

Fik­tionaler Raum als Schutz und Gefäng­nis

Damit ein­her geht ein spez­i­fisch mod­el­liertes Ver­ständ­nis des Raum-Begriffs, was sich als eben­so bedeut­sam für Marlen Haushofers Roman erweist, der ja die Raum­metaphorik bere­its im Titel trägt. Spätestens seit den 1980er Jahren avancierte der Raum zu einem Schlüs­selthe­ma der Geistes- und Kul­tur­wis­senschaften (spa­tial / topo­graph­i­cal turn),[13] im jün­geren wie jüng­sten inter­diszi­plinären Denken spielt er eine her­aus­ra­gende Rolle. Ins­beson­dere die Geo­gra­phie, die Sozi­olo­gie und die Ästhetik läuteten eine Wende im Raum­denken ein.[14] Raum als erlebter Raum ist eng an ein wahrnehmendes Sub­jekt gebun­den und ein mul­ti­sen­suell-synäs­thetis­ches Phänomen. Wie Michel Fou­cault in seinem rich­tungsweisenden Text Andere Räume bemerk­te, leben wir als Sub­jek­te nicht „in einem homo­ge­nen und leeren Raum, son­dern in einem Raum, der mit Qual­itäten aufge­laden ist, der vielle­icht auch von Phan­tas­men bevölk­ert ist“.[15] Bei Gas­ton Bachelard heißt es, zum ursprünglichen Schutzw­ert der Räume kämen noch imag­inierte Werte hinzu, und diese Werte seien bald „die dominieren­den Werte“: Der von der Ein­bil­dungskraft erfasste Raum könne nicht „der indif­fer­ente Raum bleiben, der den Mes­sun­gen und Über­legun­gen des Geome­ters unter­wor­fen ist“.[16] Der imag­inäre Raum „wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, son­dern mit allen Parteinah­men der Ein­bil­dungskraft. […] Er konzen­tri­ert das Sein im Innern der Gren­zen, die es beschützen“.[17]

Schutz und Gefäng­nis für die Pro­tag­o­nistin: So zeigt sich uns der fik­tive Raum in Haushofers Roman. Die Wandsper­rt die Frau ein und beschützt sie zugle­ich. Durch die Wand bildet sich ein über­schaubares Ter­rain mit einem spez­i­fis­chen Kli­mat aus, das der namen­losen Haupt­fig­ur zum Leben­sraum wird, in dem sie sich ein­richtet und dem sie zugle­ich nicht entkom­men kann. Die Wand gren­zt ein Stück Natur ein, das die Frau kul­tiviert. Nach und nach wird sie zu einem Teil des Lebens der Frau — so sehr, dass diese oft wochen­lang nicht an sie denkt.[18] Sie ist „ein Ding, das wed­er tot noch lebendig ist“.[19] Mehr und mehr wird das Dasein hin­ter der Wand zum ihr angemesse­nen Platz,[20] und der Impuls, sich selb­st und die Tiere am Leben zu erhal­ten, bes­timmt das Dasein der Frau.[21]

Was für ein Phänomen ist diese Wand? Jahrzehnte inter­pre­ta­torisch­er Bemühun­gen kreis­ten um diese Frage. Wir haben es mit einem Pro­dukt der lit­er­arischen Ein­bil­dungskraft zu tun, mit einem fik­tiv­en Raum, geschaf­fen von der Imag­i­na­tion ein­er Autorin, von ihr „einge­bildet“, eben: „imag­iniert“. So ist ihm ein bild­haftes (image / Imag­i­na­tion / Ein-Bil­dung) Moment eingeschrieben. Wir haben es mit einem poet­is­chen Raum zu tun, der in der Offen­heit sein­er Bezüge und Assozi­a­tio­nen let­ztlich unbes­timmt bleibt. Es ist ein figür­lich struk­turi­ert­er Raum, für den die Ver­wis­chung der Gren­zen von Wahrnehmung und Vorstel­lung, Erken­nt­nis­sub­jekt und Erken­nt­nisob­jekt, kon­sti­tu­tiv ist.[22]

Die Wand ist unsicht­bar und teilt den Leben­sraum der Pro­tag­o­nistin in ein Innen und Außen, ein Hier und Dort. Sie ist nicht allein ein räum­lich­es Phänomen, ihr ist eben­so sehr ein zeitlich­es Moment eingeschrieben: Sie teilt das Leben der Frau in ein Jet­zt und Damals, in Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit.

Gren­ze gehört zu den zen­tralen Meta­phern der Philoso­phie[23]; der Begriff ist eng mit dem Erkennen(können) verknüpft: Die Gren­zen des Erken­nens und die Gren­zen der Sprache sehen sich ver­schwis­tert.[24]Philoso­phiegeschichtlich stellt der Men­sch sich uns als ein Wesen der Grenze(n) dar.[25]

In der Meta­pher Wand sehen sich in Marlen Haushofers Roman die genan­nten Zusam­men­hänge verknüpft: Das Phänomen der Grenzziehung (impliz­it eines Ein­schluss-Auss­chluss-Gepräges), die Infragestel­lung der eige­nen Zeitlichkeit, die Erfahrung des Lebens als eines deut­lich in Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit geschiede­nen, die Kon­fronta­tion mit Sterblichkeit (der eige­nen wie der der anderen), die Erfahrung ein­er Spal­tung im Ich, das, mit der Wand, sog­ar den eige­nen Namen ver­liert. Die Wand ist für die Pro­tag­o­nistin als Gren­ze gle­ich­sam ein kör­per­haftes Wesen, dessen Erscheinen von Anbe­ginn an mit dem Erleb­nis von Schmerz und Ver­let­zung ver­bun­den ist:

„Als ich endlich den Aus­gang der Schlucht erre­ichte, hörte ich Luchs schmer­zlich und erschrock­en jaulen. Ich bog um einen Scheit­er­stoß, der mir die Aus­sicht ver­stellt hat­te, und da saß Luchs und heulte. Aus seinem Maul tropfte rot­er Spe­ichel. Ich beugte mich über ihn und stre­ichelte ihn. Zit­ternd und win­sel­nd drängte er sich an mich. Er mußte sich in die Zunge gebis­sen oder einen Zahn angeschla­gen haben. Als ich ihn ermunterte, mit mir weit­erzuge­hen, klemmte er den Schwanz ein, stellte sich vor mich und drängte mich mit seinem Kör­p­er zurück. Ich kon­nte nicht sehen, was ihn so ängstigte. […] Unwillig schob ich den Hund zur Seite und ging allein weit­er. Zum Glück war ich, durch ihn behin­dert, langsamer gewor­den, denn nach weni­gen Schrit­ten stieß ich mit der Stirn heftig an und taumelte zurück.“[26]

Um zu begreifen, was sich ihr da unsicht­bar in den Weg stellt, streckt die Pro­tag­o­nistin die Hand aus und berührt „etwas Glattes und Küh­les: einen glat­ten, kühlen Wider­stand an ein­er Stelle, an der doch gar nichts sein kon­nte als Luft“.[27] Zögernd ver­sucht sie es ein weit­eres Mal, wieder ruht ihre Hand „wie auf der Scheibe eines Fen­sters“.[28]Dann hört sie ein lautes Pochen und sieht um sich, nur um zu begreifen, dass es ihr eigen­er Herz­schlag ist, den sie hört: „Mein Herz hat­te sich schon gefürchtet, ehe ich es wußte“.[29] Nach­dem sie sich eine Weile auf einen Baum­stamm am Straßen­rand geset­zt und zu über­legen ver­sucht hat, in welch­er Sit­u­a­tion sie sich befind­et, ste­ht sie auf und überzeugt sich noch mehrere Male davon, dass „hier, drei Meter vor mir, wirk­lich etwas Unsicht­bares, Glattes, Küh­les“ ist, das sie am Weit­erge­hen hin­dert.[30] Sie denkt an eine Sinnestäuschung, aber begreift zugle­ich, dass es „nichts Der­ar­tiges“ ist: „Ich hätte mich leichter mit ein­er kleinen Ver­rück­theit abge­fun­den als mit dem schreck­lichen unsicht­baren Ding. Aber da war Luchs mit seinem blu­ten­den Maul, und da war die Beule auf mein­er Stirn, die anf­ing zu schmerzen“.[31]

Im Nach­hinein, beim Schreiben ihres Berichts, weiß die Frau nicht, wie lange sie noch auf dem Baum­stamm saß, doch sie erin­nert sich daran, dass ihre Gedanken „immer­fort um ganz neben­säch­liche Dinge kreis­ten, als woll­ten sie sich um keinen Preis mit der unfaßbaren Erfahrung abgeben“.[32]

Wo entschei­det sich das Sub­jekt?

Mit der Hand berührt die Frau die Wand — um sich zu überzeu­gen, um zu ‚begreifen’. Wohl auch, um sich ihrer Exis­tenz, ihres Da-Seins, zu ver­sich­ern.

„Wo entschei­det sich das Sub­jekt?“, fragt Michel Ser­res in sein­er Philoso­phie der Gemenge und Gemis­che, einem Buch, das sich mit den fünf Sin­nen befasst, mit der Frage nach dem Ver­hält­nis zwis­chen dem denk­enden, erken­nen­den, sprechen­den Sub­jekt und dem, was ihm durch seine Sinne unmit­tel­bar gegeben ist:

„In der Berührung mit sich selb­st erlangt die Haut Bewußt­sein. Ohne […] die Berührung mit sich selb­st, gäbe es keinen inneren Sinn, keinen wirk­lichen Kör­p­er, weniger Kör­perge­fühl und kein eigentlich­es Kör­per­schema; wir wür­den ohne Bewußt­sein leben, glatt und stets in Gefahr, uns zu ver­lieren.“[33]

Ser­res beschreibt die Haut als „Karte unser­er Iden­tität“, als „carte d’identité“, wie ein „Per­son­alausweis“: „Jed­er trägt seine eigene bei sich, unver­wech­sel­bar wie der Fin­ger­ab­druck oder das Gebiss“ (und wie die Stimme), „keine dieser Hautkarten gle­icht der anderen; jede verän­dert sich mit der Zeit“.[34] Die Haut mit ihren „ein­tä­towierten Geschicht­en trägt und zeigt die eigene Geschichte“:

„Entwed­er sicht­bar: Abnutzung, die Nar­ben alter Wun­den, von der Arbeit ver­härtete Stellen, die Run­zeln und Furchen ver­gan­gener Hoff­nun­gen, Fleck­en, Male, Ekzeme, Schup­pen­flecht­en, Begier­den. Hier hat das Gedächt­nis sich einge­graben; warum sollte man es ander­swo suchen. Oder unsicht­bar: die flüchti­gen Spuren von Liebko­sun­gen, Erin­nerun­gen an Sei­de, Wolle, Samt, Pelze, Steine, Baum­rinde, rauhe Ober­flächen, Eiskristalle, Flam­men, die Zaghaftigkeit feinsin­ni­gen Tak­ts und die Kühn­heit gewagter Berührun­gen.“[35]

Ser­res bemerkt, dass die meis­ten Philosophen sich auf den Gesichtssinn beziehen, nur wenige auf das Gehör, und noch weniger ihr Ver­trauen auf den Tast- oder Geruchssinn set­zen.[36] Die Abstrak­tion zer­schnei­de den empfind­en­den Kör­p­er.[37]

Die Pro­tag­o­nistin in Haushofers Roman kann in der Begeg­nung mit der Wand auf nichts als auf ihre Hände ver­trauen: Immer wieder nähert sie sich vor­sichtig mit aus­gestreck­ten Hän­den dem unsicht­baren Hin­der­nis und tastet sich an ihm ent­lang.[38] Im Ver­such, sie zu begreifen, schlägt die Frau auch mit der Faust gegen die Wand: „Es schmerzte ein wenig, aber nichts geschah. Und plöt­zlich hat­te ich nicht mehr das Ver­lan­gen, die Wand zu zer­schla­gen, die mich von dem Unbe­grei­flichen tren­nte“.[39] Die Wand ist nicht zu sehen, nicht zu riechen, nicht zu hören, nicht zu schmeck­en — die Begeg­nung mit ihr reduziert sich auf den Tastsinn.

Die erste Berührung ste­ht am Beginn ein­er Entwick­lung, die sich im weit­eren Hand­lungsver­lauf fort­set­zt: Die Forcierung des Tas­tens, die Entwick­lung der Frau hin zu einem händis­chen, tak­tilen, Wesen. Die Pro­tag­o­nistin ver­sichert sich in den fol­gen­den Tagen immer wieder der Exis­tenz der unsicht­baren Gren­ze. Bei­de Hand­flächen an die Wand gepresst, star­rt sie durch diese hin­durch auf das Dahin­ter­liegende: einen alten (ver­stein­erten) Mann, mehr Ding als Men­sch, auf einen Brun­nen­rand gestützt, die gehöhlte Hand zum Gesicht erhoben; ein kleines Stück Tal, erfüllt von Son­nen­licht: „Wenn der Mann am Brun­nen tot war, und daran kon­nte ich nicht mehr zweifeln, mußten alle Men­schen im Tal tot sein, und nicht nur die Men­schen, alles was lebend gewe­sen war. Nur das Gras auf den Wiesen lebte, das Gras und die Bäume“.[40]

Die Frau beschließt, den Gren­zver­lauf der Wand mit Zweigen abzusteck­en, Sicht­barkeit ver­heißt Sicher­heit. Es ist eine müh­same Beschäf­ti­gung, aber sie ist wie besessen von der Vorstel­lung, diese Arbeit erledi­gen zu müssen: „Sie beruhigte mich und brachte einen Hauch von Ord­nung in die große, schreck­liche Unord­nung, die über mich hereinge­brochen war“.[41] „Etwas wie die Wand durfte es ein­fach nicht geben“, sin­niert die Pro­tag­o­nistin. „Daß ich sie mit grü­nen Hölz­ern absteck­te, war der erste Ver­such, sie, da sie nun ein­mal da war, auf einen angemesse­nen Platz zu ver­weisen.“[42]

Sorge-um-sich und Selb­sterken­nt­nis

In der Fol­gezeit richtet sie sich ein in dem durch die Wand von dem Rest der Welt abge­tren­nten Bere­ich — mit dem Jagdhund Luchs, ein­er zuge­laufe­nen Katze, ein­er zuge­laufe­nen Kuh, die ein Stierkalb zur Welt bringt. Die Frau muss alles neu erler­nen: Heu wen­den, Bohnen anbauen, Kartof­feln aus­graben, die Kuh melken, das Stierkalb aus dem Leib der Mut­ter her­ausziehen, die ganze monot­o­ne Müh­sal eines Über­lebens als Acker­bauerin inmit­ten der Natur. Sie lernt, für sich selb­st zu sor­gen und begreift mit der Zeit, dass ihr ver­gan­ge­nes Leben ihr fremd gewor­den ist, sie die Gesellschaft der Men­schen nicht mehr braucht und nicht mehr will.[43] An die Stelle der Men­schen sind die Tiere und die Natur getreten.

Michel Fou­cault beschreibt in sein­er Vor­lesung Hermeneu­tik des Sub­jek­ts die his­torischen wie the­o­retis­chen Voraus­set­zun­gen des wirkungsmächti­gen Konzepts der Sorge um sich. Fou­caults ela­bori­ert­er Entwurf ein­er Ästhetik der Exis­tenz ist geknüpft an eine The­o­rie des Sub­jek­ts, die die Arten und Weisen beleuchtet, wie wir uns als Sub­jek­te zu uns selb­st ver­hal­ten. Die Hermeneu­tik des Sub­jek­ts stellt eine konkrete Analyse des Selb­st-Ver­hält­niss­es dar. Mit dem Begriff der Sorge um sich selb­st ver­sucht Fou­cault, „den äußerst kom­plex­en, vielschichti­gen […] Begriff der epimeleia heautou zu über­set­zen, der sich in der gesamten griechis­chen Kul­tur sehr lang gehal­ten hat“.[44] Die Latein­er über­set­zten ihn mit cura sui. Die Sorge um sich selb­st nun bedeutet ein Sich-um-sich-Küm­mern, ein Sich-um-sich-Sor­gen, ein Sich-selb­st-Aufmerk­samkeit-Zuwen­den.[45] Dem Begriff der epimeleia heautou, führt Fou­cault weit­er aus, sei, im Gegen­satz zum bekan­nten Orakel­spruch „gnothi seau­ton“ („Erkenne dich selb­st!“),[46] im griechis­chen Denken nie ein beson­der­er Sta­tus eingeräumt wor­den. Alles in der Geschichte des abendländis­chen Denkens deute darauf hin, dass dieses „Erkenne dich selb­st“ die Formel sei, in der die Frage nach den Beziehun­gen von Sub­jekt und Wahrheit grün­det.

Marlen Haushofers Roman ist als lit­er­arisch­er Entwurf der bei­den genan­nten Weisen des Selb­st­bezugs zu lesen: Die Sorge um sich selb­st spielt im Roman eine eben­so zen­trale Rolle wie die The­matik der Selb­sterken­nt­nis, bei­de Konzepte sind eng miteinan­der verknüpft. Das Moment des Tak­tilen, die Hände, sind es, die im Text die Sorge um sich selb­st und die (intellek­tuelle) Selb­sterken­nt­nis verbinden. Mit ihren Hän­den düngt, sät, sägt, ern­tet, mäht und näht die Frau.[47] Mit ihren Hän­den schreibt sie ihren Bericht, in dem sie sich auf ihre spär­lichen Noti­zen im Kalen­der und ihre Erin­nerung bezieht: „Heute, am fün­ften Novem­ber, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau auf­schreiben, wie es mir möglich ist.“[48] Die Pro­tag­o­nistin schreibt nicht aus Freude am Schreiben: Es „hat sich eben so für mich ergeben, daß ich schreiben muß, wenn ich nicht den Ver­stand ver­lieren will. Es ist ja kein­er da, der für mich denken und sor­gen kön­nte. Ich bin ganz allein.“ [49]

Hände als Werkzeug und reflex­ives Medi­um

Die „händis­che“ (tak­tile) Exis­tenz der Pro­tag­o­nistin beste­ht im Gebrauch der Hände als Werkzeuge — ihre Hände, „immer mit Blasen und Schwie­len bedeckt“, sind zu den „wichtig­sten Werkzeu­gen“[50] der Frau gewor­den — wie auch als eines reflex­iv­en Medi­ums im Prozess des Schreibens, der Nieder­schrift ihres Berichts eben mit Hand und Stift. Die Hände kon­servieren die Geschichte ihres Ichs, bilden Horn­haut aus, von der schw­eren kör­per­lichen Arbeit ver­härtete Stellen; ihre Hände wer­den für die Frau zum Medi­um der Selb­stver­ständi­gung und Selb­stvergewis­serung, des Über­lebens wie auch der Bezug­nahme auf die Welt mit ihren Objek­ten und die Natur. Ihre Ringe hat sie längst abgelegt, denn wer „würde schon seine Werkzeuge mit gold­e­nen Rin­gen schmück­en. Es schien mir absurd und lächer­lich, daß ich es früher getan hat­te“.[51] In ihren Hän­den fühlt sie immer wieder das warme Herz der geschosse­nen Rehe erkalten.[52] Ihre Hände, die das schwere Arbeit­en wie das Töten von Wild erler­nen (müssen) wie die Für­sorge, das Hegen der Pflanzen und das Pfle­gen der Tiere, ver­ler­nen ganz, „mit […] kleinen Din­gen umzuge­hen“.[53]

Haushofers Text set­zt die Hände mit dem Ich gle­ich, so beispiel­sweise, als die Frau lernt, das Brennholz für den Win­ter zu sägen:

„Ich legte die Scheit­er auf einen Säge­bock aus der Garage und fand sogle­ich, daß ich mit der Säge sehr schlecht fer­tig wurde. Immer wieder blieb sie im Holz steck­en, und ich mußte mich pla­gen, um sie wieder her­auszubekom­men. Am drit­ten Tag begriff ich endlich, das heißt, meine Hände, Arme und Schul­tern begrif­f­en, und plöt­zlich war es, als hätte ich mein Leben lang nur Holz gesägt. Ich arbeit­ete langsam, aber stetig weit­er. Meine Hände waren bald voll Blasen, die schließlich auf­sprangen und näßten.“[54]   

Das Begreifen beste­ht hier in einem konkreten Begreifen mit Kör­p­er und Hän­den. Mit dem verän­derten Blick auf ihre Hände verän­dert sich auch der Blick der Frau auf die Frau, die sie ein­mal war (und die ihr nicht sehr sym­pa­thisch erscheinen will), wie auf die Frau, die sie jet­zt ist und die ruhig vergessen könne, daß sie eine Frau sei: „Manch­mal war ich ein Kind, das Erd­beeren suchte, dann wieder ein junger Mann, der Holz zer­sägte, oder, wenn ich […] auf der Bank saß […], ein sehr altes, geschlecht­slos­es Wesen“.[55]

Im Laufe des Berichts gelangt die Frau zu der Erken­nt­nis, dass sie erst im Alter von vierzig Jahren darauf gekom­men ist, Hände zu besitzen.[56] Immer wieder sieht sie sich vor Arbeit­en gestellt, mit denen sie nicht fer­tig wird: „Man darf nicht zuviel von mir ver­lan­gen. Der größte Erfolg wäre es wohl, wenn ich die Tür zu Bel­las neuem Stall richtig ein­set­zen kön­nte. Zim­mer­mannsar­beit fällt mir immer noch beson­ders schw­er“.[57] Dafür zeigt sie sich in der Land­wirtschaft und in der Tierpflege geschickt: „Alles, was mit Pflanzen und Tieren zu tun hat, hat mir schon von jeher ein­geleuchtet.“[58] An zahlre­ichen Stellen ihres Berichts reflek­tiert sie über das Men­sch-Tier-Ver­hält­nis[59]: „Manch­mal bildete ich mir ein, daß Luchs, wären ihm plöt­zlich Hände gewach­sen, bald auch zu denken und zu reden ange­fan­gen hätte“.[60] Die Hände wer­den an das men­schliche Denk-, Erken­nt­nis- und Sprachver­mö­gen angekop­pelt und ste­hen ein für die Indi­vid­u­al­ität des Men­schen. Zugle­ich sind das Spüren und die Kog­ni­tion zwei unter­schiedliche Arten und Weisen, mit denen das Sub­jekt Wahrheit über sich selb­st erlan­gen kann: „Ich spüre nicht mehr, wie schön es war, ich weiß es nur noch. Das ist ein schreck­lich­er Unter­schied. […] Meine Sinne erin­nern sich schlechter als mein Hirn.“[61]

Das Schreiben ihres Berichts wird für die Frau, da es keine anderen Gespräche (ausgenom­men mit ihren Tieren) mehr gibt, ein end­los­es Selb­st­ge­spräch. Das Nieder­schreiben „in Men­schen­schrift und Men­schen­worten“[62]ver­mit­telt ihr ein Gefühl von Sicher­heit ver­gle­ich­bar dem Absteck­en der Wand mit Zweigen.[63] Das Auf­schreiben des Erlebten ist für die Pro­tag­o­nistin „ein let­zter Ver­such“: „Ich kon­nte doch nicht den ganzen Win­ter am Tisch sitzen mit dieser einen Frage im Kopf, die mir kein Men­sch, über­haupt nie­mand auf der Welt, beant­worten kann“[64] — die Frage, warum der fremde Mann, der am Ende des Textes auf­taucht und über den wir nur wenig erfahren[65], ihren Hund Luchs und den kleinen Sti­er auf eine so grausame Art getötet hat. In Notwehr erschießt sie den frem­den Mann, während sie mitanse­hen muss, wie das von ihm geführte Beil auf­blitzt und dumpf auf Luchs’ Schädel auf­schlägt.[66]

Im Laufe der hin­ter der Wand ver­bracht­en Monate ist die Frau zu einem wehrhaften Ich gewor­den, „miß­trauisch […] wie meine Katze. Mein Gewehr hängt immer geladen an der Wand, und ich gehe keinen Schritt weg, ohne mein schar­fes Knickmess­er“.[67]

Die Pro­tag­o­nistin been­det die Nieder­schrift ihres Berichts am fün­fundzwanzig­sten Feb­ru­ar mit dem Gefühl, „ganz ruhig“ zu sein und „ein kleines Stück weit­er“ zu sehen: „Ich sehe, daß dies noch nicht das Ende ist. Alles geht weit­er. […] etwas Neues kommt her­an, und ich kann mich ihm nicht entziehen“.[68] Sobald das Wet­ter wärmer wird, will sie daran gehen, die Kam­mer in der Jagdhütte zu Bel­las neuem Stall umzubauen, „und es wird mir auch gelin­gen. Ich weiß noch nicht wie, aber es wird mir bes­timmt noch ein­fall­en. Ich werde Bel­la und dem neuen Kalb ganz nahe sein und werde sie Tag und Nacht bewachen“.[69]

Wo entschei­det sich das Sub­jekt? Mit der Pro­tag­o­nistin sind wir am Punkt dieser Entschei­dung angekom­men: Es ist jene dif­fuse Stelle oder Naht, wo zwei Hände sich tas­tend auf eine unsicht­bare Wand leg­en, das Sehen in seine Gren­zen ver­wiesen, und der Tastsinn an seinen Anfang gestellt wird — in der Berührung von Damals und Heute, Raum und Zeit, im Gemenge von fik­tivem und realem Moment, in der atmenden Haut eines Textes.

 

 

Lit­er­aturverze­ich­nis

Bachelard, Gas­ton: Poet­ik des Raumes. Aus dem Franzö­sis­chen von Kurt Leon­hard. Frank­furt a. M. 1994

Dünne, Jörg und Günzel, Stephan: Vor­wort. In: Diesel­ben (Hg.): Raumthe­o­rie. Grund­la­gen­texte aus Philoso­phie und Kul­tur­wis­senschaften. Frank­furt a. M. 2006, S. 9–15.

Fis­ch­er-Lichte, Eri­ka: Ästhetik des Per­for­ma­tiv­en. Frank­furt a. M. 2004 (10. Auflage)

Fou­cault, Michel: Andere Räume. In: Karl­heinz Bar­ck (Hg.): Ais­the­sis. Wahrnehmung heute oder Per­spek­tiv­en ein­er anderen Ästhetik. Leipzig 1998 (6. Auflage), S. 34–46.

Fou­cault, Michel: Hermeneu­tik des Sub­jek­ts. Vor­lesung am Col­lège de France (1981/82). Aus dem Franzö­sis­chen von Ulrike Bokel­mann. Frank­furt a. M. 2004

Hachen­berg, Kat­ja: Lit­er­arische Raum­synäs­the­sien um 1900. Method­is­che und the­o­retis­che Aspek­te ein­er Ais­thetik der Sub­jek­tiv­ität. Biele­feld 2005

Haushofer, Marlen: Die Wand. Roman. Mit einem Nach­wort von Klaus Antes. Berlin 2019 (25. Auflage)

Kein­er ist frei von Neid. Thomas Bärn­thaler und Gabriela Her­pell im Inter­view mit Mar­ti­na Gedeck und Corin­na Har­fouch. Süd­deutsche Zeitung Mag­a­zin, Heft 51 / 2013 vom 20. Dezem­ber 2013, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/kino-film-theater/keiner-ist-frei-von-neid-80147 (Stand: 1.11.2020).

Kon­ers­mann, Ralf: Die Augen der Philosophen. Zur his­torischen Seman­tik und Kri­tik des Sehens. In: Der­selbe (Hg.): Kri­tik des Sehens. Leipzig 1999 (2. Auflage), S. 9–47.

Menck, Clara: Hin­ter der Glaswand. In: Haushofer, Marlen: Die Wand. Mit Mate­ri­alien. Aus­gewählt und ein­geleit­et von Gisela Ull­rich. Stuttgart 2006, S. 259–262.

Pauen, Sabi­na: Wahrnehmung. In: Vom Baby zum Kleinkind. Hei­del­berg 2011, S. 96–117, https://doi.org/10.1007/978–3-8274–2780-9_4 (Stand: 5.11.2020).

Schnei­der, Nor­bert: Geschichte der Ästhetik von der Aufk­lärung bis zur Post­mod­erne. Eine par­a­dig­ma­tis­che Ein­führung. Mit 8 Abbil­dun­gen. Stuttgart 1996

Ser­res, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philoso­phie der Gemenge und Gemis­che. Über­set­zt von Michael Bischoff. Frank­furt a. M. 1998

Stöhr, Jür­gen: Der „Pic­to­r­i­al Turn“ und die Zukun­ft ästhetis­ch­er Erfahrung — eine Hin­führung zum The­ma. In: Der­selbe (Hg.): Ästhetis­che Erfahrung heute. Köln 1996, S. 7–14.

VALIE EXPORT. Frag­mente ein­er Berührung. 31.10.–31.12.2020. Staatliche Kun­sthalle Baden-Baden, https://kunsthalle-baden-baden.de/program/valie-export/ (Stand: 5.11.2020)

Welsch, Wolf­gang: Gren­zgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996

Wes­sel, Gün­ther: Die Macht der Gerüche. Eine Philoso­phie der Nase. In: Spek­trum der Wis­senschaft 6 / 1993, https://www.spektrum.de/magazin/die-macht-der-gerueche-eine-philosophie-der-nase/820935 (Stand 22.10.2020).

Zill, Jür­gen: Gren­ze. In: Ralf Kon­ers­mann (Hg.): Wörter­buch der philosophis­chen Meta­phern. Darm­stadt 2007, S. 135–146

 

 


[1] Vgl. hierzu: Haushofer: Die Wand, 2006, S. 227 ff. (Mate­ri­alien)

[2] Menck: Hin­ter der Glaswand. In: Haushofer: Die Wand, 2006, S. 259–262, hier: S. 259.

[3] Eben­da.

[4] Pauen: Wahrnehmung. In: Vom Baby zum Kleinkind, S. 96–117, https://doi.org/10.1007/978–3-8274–2780-9_4 (Stand: 5.11.2020).

[5] Hier zitiert nach: Schnei­der: Geschichte der Ästhetik von der Aufk­lärung bis zur Post­mod­erne. Eine par­a­dig­ma­tis­che Ein­führung, S. 23.

[6] Nor­bert Schnei­der bemerkt hierzu: „Der Begriff des ‚anal­o­gon ratio­nis‘ stammt von Leib­niz, der ihn auf das sein­er Mei­n­ung nach rein triebar­tige und assozia­tiv-begriff­s­lose Denken der Tiere bezog“. Eben­da.

[7] A. a. O., S. 24.

[8] Für Karl Rosenkranz gehört das Hässliche unz­ertrennlich zum Schö­nen und der Begriff des Hässlichen als eines „Neg­a­tivschö­nen“ macht einen Teil der Ästhetik aus; vgl. Schnei­der, a. a. O., S. 97.

[9] Aktuell ist das Phänomen „Berührung“ The­ma der Ausstel­lung VALIE EXPORT. Frag­mente ein­er Berührung. 31.10.–31.12.2020 der Staatlichen Kun­sthalle Baden-Baden. Im Fokus der Ausstel­lung ste­hen Instal­la­tio­nen und Werk­grup­pen, die laut Begleit­text ein beson­deres Moment in dem Œuvre der Kün­st­lerin her­vorheben: die Berührung. Berührung sei hier nicht nur im klas­sis­chen Sinne kör­per­lich zu ver­ste­hen, son­dern bein­halte auch eine medi­en­re­flex­ive Ebene. In diesem Sinne fungiere sie als Fest­stel­lung der Gren­ze oder auch des Über­gangs zwis­chen den Real­itäten: zwis­chen Bild und Raum, Materie und Leere, Kör­p­er und Umwelt. Ger­ade in Zeit­en der Kon­takt- und Berührungssperre bed­ingt durch die Covid-19-Pan­demie bekomme das Ausstel­lungs­the­ma eine beson­dere Rel­e­vanz, https://kunsthalle-baden-baden.de/program/valie-export/ (Stand: 5.11.2020).

[10] Vgl. beispiel­sweise Fis­ch­er-Lichte: Ästhetik des Per­for­ma­tiv­en.

[11] Welsch: Gren­zgänge der Ästhetik, S. 186.

[12] Vgl. beispiel­sweise Stöhr: Der „Pic­to­r­i­al Turn“ und die Zukun­ft ästhetis­ch­er Erfahrung — eine Hin­führung zum The­ma. In: Der­selbe (Hg.): Ästhetis­che Erfahrung heute, S. 7–14.

[13] Dünne, Jörg und Günzel, Stephan: Vor­wort. In: Diesel­ben (Hgg.): Raumthe­o­rie. Grund­la­gen­texte aus Philoso­phie und Kul­tur­wis­senschaften, S. 9–15.

[14] Eben­da. Der von Dünne / Günzel her­aus­gegebene Band ver­sam­melt einen repräsen­ta­tiv­en Quer­schnitt raumthe­o­retis­ch­er Grund­la­gen­texte von der Neuzeit bis zur Gegen­wart, „die sich nicht nur mit der Phänom­e­nolo­gie des Raumes auseinan­der­set­zen, son­dern auch über medi­ale, soziale, poli­tis­che und ästhetis­che Räume reflek­tieren“.

[15] Fou­cault: Andere Räume. In: Bar­ck (Hg.): Ais­the­sis. Wahrnehmung heute oder Per­spek­tiv­en ein­er anderen Ästhetik, S. 34–46, hier: S. 37.

[16] Bachelard: Poet­ik des Raumes. Aus dem Franzö­sis­chen von Kurt Leon­hard, S. 25.

[17] Eben­da.

[18] Haushofer: Die Wand, 2019, S. 150.

[19] Eben­da.

[20] Vgl. a. a. O., S. 222.

[21] A. a. O., S. 225.

[22] Die Zusam­men­hänge von Raum und Sub­jekt und den Begriff des erlebten (synäs­thetis­chen) Raums habe ich aus­führlich in mein­er Dis­ser­ta­tion unter­sucht: Hachen­berg: Lit­er­arische Raum­synäs­the­sien um 1900. Method­is­che und the­o­retis­che Aspek­te ein­er Ais­thetik der Sub­jek­tiv­ität.

[23] Zill: Gren­ze. In: Kon­ers­mann (Hg.): Wörter­buch der philosophis­chen Meta­phern, S. 135–146, hier: S. 135.

[24] A. a. O., S. 144.

[25] A. a. O., S. 139 (hier Philon von Alexan­dria).

[26] Haushofer: Die Wand, 2019, S. 14.

[27] A. a. O., S. 15.

[28] Eben­da.

[29] Eben­da.

[30] Eben­da.

[31] Eben­da.

[32] Eben­da.

[33] Ser­res: Die fünf Sinne. Eine Philoso­phie der Gemenge und Gemis­che, S. 18 f.

[34] A. a. O., S. 20.

[35] A. a. O., S. 21.

[36] A. a. O., S. 24. Vgl. hierzu auch: Kon­ers­mann: Die Augen der Philosophen. Zur his­torischen Seman­tik und Kri­tik des Sehens. In: Der­selbe (Hg.): Kri­tik des Sehens, S. 9–47, hier: S. 9: „Die abendländis­che Kul­tur ist eine Kul­tur des Sehens. Der Blick durch­dringt und über­schaut, er forscht und prüft, er verbindet und tren­nt, und er ist selb­st da noch gegen­wär­tig, wo es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt“, sowie Wes­sel: Die Macht der Gerüche. Eine Philoso­phie der Nase. In: Spek­trum der Wis­senschaft, https://www.spektrum.de/magazin/die-macht-der-gerueche-eine-philosophie-der-nase/820935 (Stand: 22.10.2020): Nur wenige Philosophen ließen der Sinnlichkeit ihren Raum, nach Wes­sel „die griechis­chen Mate­ri­al­is­ten, einige spätere Denker der Aufk­lärung sowie Lud­wig Feuer­bach und Friedrich Niet­zsche“.

[37] Vgl. Ser­res: Die fünf Sinne, eben­da.

[38] Haushofer: Die Wand, 2019, S. 16.

[39] A. a. O., S. 17.

[40] A. a. O., S. 21.

[41] A. a. O., S. 29.

[42] Eben­da.

[43] Vgl. hierzu auch: Kein­er ist frei von Neid. Thomas Bärn­thaler und Gabriela Her­pell im Inter­view mit Mar­ti­na Gedeck und Corin­na Har­fouch. Süd­deutsche Zeitung Mag­a­zin, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/kino-film-theater/keiner-ist-frei-von-neid-80147 (Stand: 1.11.2020).

[44] Fou­cault: Hermeneu­tik des Sub­jek­ts. Vor­lesung am Col­lège de France (1981/82), S. 16.

[45] Eben­da.

[46] A. a. O., S. 17.

[47] Vgl. zum Beispiel: Haushofer: Die Wand, 2019, S. 274.

[48] A. a. O., S. 7.

[49] Eben­da.

[50] A. a. O., S. 82.

[51] A. a. O., S. 80.

[52] A. a. O., S. 211.

[53] Eben­da.

[54] A. a. O., S. 80; vgl. auch S. 255: „Meine Hände waren bald wieder ris­sig und voll Pech und klein­er Holzs­plit­ter“ und S. 198: „ Meine Hände waren wund und zer­stochen und heil­ten nur langsam“.

[55] Eben­da.

[56] A. a. O., S. 137.

[57] Eben­da.

[58] Eben­da.

[59] Vgl. beispiel­sweise a. a. O., S. 235: „Die Schranken zwis­chen Tier und Men­sch fall­en sehr leicht. Wir sind von ein­er einzi­gen großen Fam­i­lie, und wenn wir ein­sam und unglück­lich sind, nehmen wir auch die Fre­und­schaft unser­er ent­fer­n­ten Vet­tern gern ent­ge­gen. (…) Im Traum bringe ich Kinder zur Welt, und es sind nicht nur Men­schenkinder, es gibt unter ihnen Katzen, Hunde, Käl­ber, Bären und ganz frem­dar­tige pelzige Geschöpfe (…) und es ist nichts an ihnen, was mich erschreck­en oder abstoßen kön­nte. Es sieht nur befrem­dend aus, wenn ich es nieder­schreibe (…). Vielle­icht müßte ich diese Träume mit Kiesel­steinen auf grünes Moos zeich­nen oder mit einem Stock in den Schnee ritzen. Aber das ist mir noch nicht möglich. Wahrschein­lich werde ich nicht lange genug leben, um so weit ver­wan­delt zu sein.“ Beze­ich­nend für das Ver­hält­nis der Pro­tag­o­nistin zu den Tieren ist auch die Bemerkung, dass die Tiere an ihrem Geruch, an ihrer Stimme und an gewis­sen Bewe­gun­gen hän­gen, sodass sie ihr Gesicht „ruhig able­gen (kann), es wurde nicht mehr gebraucht“ (a. a. O., S. 231).

[60] Eben­da.

[61] A. a. O., S. 213.

[62] A. a. O., S. 235.

[63] „Es wird der einzige Bericht sein, den ich schreiben werde, denn wenn er geschrieben ist, wird es im Haus kein Stückchen Papi­er mehr geben, auf das man schreiben kön­nte“. A. a. O., S. 212.

[64] A. a. O., S. 275.

[65] A. a. O., S. 273: „Er war sehr schw­er. Ich wollte ihn gar nicht deut­lich­er sehen. Sein Gesicht war sehr häßlich. Seine Klei­der, schmutzig und verkom­men, waren aus teurem Stoff und von einem guten Schnei­der genäht. Vielle­icht war er ein Jagdpächter wie Hugo oder ein­er jen­er Anwälte, Direk­toren und Fab­rikan­ten, die auch Hugo so oft ein­ge­laden hat­te. Was auch immer er gewe­sen sein mochte, jet­zt war er nur tot.“

[66] A. a. O., S. 272.

[67] A. a. O., S. 162.

[68] A. a. O., S. 275.

[69] A. a. O., S. 275 f.

 

Die Wand, Film 2012, mit Mar­ti­na Gedeck in der Haup­trol­le

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  • 24. Mai 202126. Mai 2021
Fragen an ein Wort, von einem Wort aus fragen
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