Skip to content
ZAeB
  • Blog
  • Aktuelle Ausgabe
  • Archiv
  • About
  • Impressum
Site Search
  • Handkontakt
    Gundel Mattenklott, Constanze Rora, Petra Kathke, Christina Griebel
  • Was wir sehen wenn wir sehen: Gedanken über Auge und Hand
    Martha Burkart
  • HANDkontakthand — Erfahrungen und Gedanken zum pädagogischen Handwerk unter Pandemiebedingungen
    Holger Erbach
  • Make your hands dirty: The magic wheel
    Christina Griebel
  • implicit touch
    Notburga Karl
  • Gedanken zu einer Ästhetik des Taktilen: Marlen Haushofers Roman Die Wand.
    Katja Hachenberg
  • Fragen an ein Wort, von einem Wort aus fragen
    Thomas Schlereth
  • Händische Responsivität im Kontext (post-)digitaler Präsenz
    Andreas Brenne und Katharina Brönnecke
  • Haptik im Geschichtsunterricht?! Umsetzung haptischer Zugriffe auf (historische) Gegenstände am Beispiel von Graffiti
    Martin Buchsteiner & Thomas Must
  • Umräumen in Kunsträumen — über Kunstseminare im Lockdown
    Thomas Heyl
  • Ästhetik als Schulfach – Vorstellung eines Unterrichtskonzepts
    Julia Jung
  • Künstlerisch-ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund von Distanzerfahrungen: Die Chance des Routinebruchs im Rahmen einer Theorie der Wiederholung
    Nadja Wolf
  • Spürendes In-Kontakt-Treten: taktil-kinästhetische Handfertigkeiten
    Elke Mark

Händische Responsivität im Kontext (post-)digitaler Präsenz

Andreas Brenne und Katharina Brönnecke

 

[Beitrag als PDF]

Händis­che Respon­siv­ität ist ein kom­plex­es Phänomen und evoziert einen trans­diszi­plinären Zugriff. Adressiert wer­den in diesem Zusam­men­hang het­ero­gene Wis­sens­bestände aus dem Kon­text von Wahrnehmungs- und Entwick­lungspsy­cholo­gie, Evo­lu­tions­bi­olo­gie aber auch Kul­tur­wis­senschaft und die Bil­dungsphiloso­phie. Dabei geht es vornehm­lich um die Bedeu­tung und Funk­tion­al­ität eines Organs, dass den zen­tralen Zugriff auf Weltzusam­men­hänge ermöglicht und die Voraus­set­zung für ein leib­lich­es Begreifen zu sein scheint. Die Hand des Men­schen zeich­net sich durch ein hohes Maß an Flex­i­bil­ität aus und ermöglicht Zugriffe auf Weltzusam­men­hänge. Sie weist eine dif­feren­zierte Anatomie auf, die man­nig­faltige Bewe­gungs­for­men her­vor­bringt. Durch sein Dau­men­ge­lenk hebt sich der „Homo Sapi­ens“ vom Pri­mat­en ab und ermöglicht die Her­stel­lung und Ver­wen­dung kom­plex­er Werkzeuge. Hinzu kommt die dynamis­che Tak­til­ität und Respon­siv­ität der Hand, so dass über Hautrezep­toren und einem aus­gek­lügel­ten Bewe­gungsap­pa­rat ein sen­sueller Zugang zur exter­nen Umwelt möglich wird. Die Hand ist somit ein weltzuge­wandtes Organ, das pro­duk­tiv und rezep­tiv zum Ein­satz kommt. Sie prägt die Wel­terzeu­gung und das Wel­ter­leben (vgl. Leroi-Gourhan 1987) und ist eine Art drittes Auge mit der Poten­tial­ität, das Erkan­nte gewahr wer­den zu lassen.

Die Hand kann die Gesichtssinne sub­sti­tu­ieren bzw. ergänzen und ist somit ein Instru­ment der Kom­mu­nika­tion, jen­seits ein­er konzeptuellen Sprach­lichkeit. Somit wird deut­lich, dass im Kon­text ästhetis­ch­er Bil­dung­sprozesse der Hand berechtigter Weise eine große Bedeu­tung zu gemessen wird. Dies gilt gle­icher­maßen für die Kun­st, basiert doch kün­st­lerische Pro­duk­tiv­ität prinzip­iell auf der tak­tilen und sen­si­blen Auseinan­der­set­zung mit Mate­r­i­al. Auf diesen Zusam­men­hang macht Horst Bre­dekamp im Kon­text der Unter­suchung prähis­torisch­er Faustkeile aufmerk­sam, die nicht allein als Pro­dukt ein­er inten­tionalen For­mge­bung einzustufen seien, son­dern als in ihrer struk­turellen Eigen­ständigkeit gle­icher­maßen den Pro­duzen­ten sen­suell infil­tri­erend (Vgl. Bre­dekamp 2019). Insofern ist die pro­duk­tive und rezep­tive Dimen­sion manueller Weltzugänge ein in sich verzah­n­ter Bere­ich, ohne den die for­mgebende Dimen­sion kün­st­lerisch­er Prozesse kaum gedacht wer­den kann.

Nichts­destotrotz stellt sich im Kon­text ein­er sukzes­siv­en und fun­da­men­tal­en Dig­i­tal­isierung von Lebenswelt und Gesellschaft die Frage nach dem Wan­del der Mate­ri­al­ität und der darauf bezo­ge­nen Hand­lungsweisen. Dieser medi­ale Wan­del basiert nicht mehr auf ein­er direk­ten leib­lichen Inter­ak­tion, son­dern auf der Mod­el­lierung von Wahrnehmungskon­stituenten, die den unmit­tel­baren Zugang sub­sti­tu­ieren bzw. simulieren. Angeschlossen ist man dabei an Sen­soren und Inter­ak­tion­s­mod­ule, die zwar eben­falls manuell aus­gerichtet sind, aber als Kör­perex­ten­sio­nen fungieren. Im Unter­schied zu Mer­leau-Pon­tys Auf­fas­sung, dass analoge Instru­mente und Tech­nolo­gien (z.B. ein Blind­en­stock, vgl. Mer­leau-Pon­ty 1966, S. 173) einen qual­i­ta­tiv­en Weltzu­gang ermöglichen, trans­ferieren dig­i­tale Appa­ra­turen die Welt in einen phan­tastisch-imag­inäre Möglichkeit­sraum, in dem tra­di­tionelle Mate­ri­al­itätsvorstel­lun­gen nicht nur über­brückt, son­dern erweit­ert wer­den. Ins­beson­dere da unmit­tel­bare Verknüp­fun­gen mit­tels „smarter“ Tech­nolo­gien den vor­mals dichotomis­chen Gegen­satz von ana­log und dig­i­tal hin­ter sich lassen. Dies gilt auch für die Hände, die in Inter­ak­tion mit den Steuerungs­geräten und Tools die dig­i­tale Machart zu tran­szendieren wis­sen (vgl. Müller 2013). Let­ztlich stellt sich hier die radikale Frage, ob die Kon­sti­tu­tion von Lebenswelt allein auf Sinnzuschrei­bun­gen basiert, die sen­suelle Impulse mit­tels der Vorstel­lungskraft seman­tisch kon­den­siert. Im Sinne Mar­tin Hei­deg­gers set­zt die Kun­st „die Wahrheit ins Werk“, d.h. dass das sen­suell Erfahrbare in eine spez­i­fis­che Kon­stel­la­tion gebracht wird, die das Sein zeitlich und sinnhaft kon­sti­tu­iert (vgl. Hei­deg­ger 1986). Dieser erweit­erte Werk­be­griff negiert nicht den Eigensinn des Mate­ri­als, son­dern über­führt ihn in einen imag­inär-utopis­chen drit­ten Raum. Das Dig­i­tale und das Analoge sind somit keine Gegen­sätze, son­dern wer­den im Kon­text ein­er wel­tentwer­fend­en Kun­st aufeinan­der bezo­gen. Diesem Zusam­men­hang soll in diesem Beitrag nachge­gan­gen wer­den, der aus ein­er hochschul­didak­tis­chen Per­spek­tive die Händigkeit im Kon­text der Dig­i­tal­isierung reflek­tiert. Im Zusam­men­hang der Coro­na-Pan­demie wurde jegliche Kom­mu­nika­tion über dig­i­tale Instru­mente real­isiert – dem kon­nte sich auch die kün­st­lerische Hochschullehre nicht entziehen. Legt man eine medi­al erweit­erte Form des Händis­chen zu Grunde, so muss auch eine Diskus­sion des Mate­ri­al­be­griffs aus ein­er (post-)digitalen Per­spek­tive erfol­gen, da die tech­nis­che Sub­sti­tu­tion und Unter­stützung manueller Zugriffe eine adäquate Rezep­tion nach sich zieht.

Mate­ri­al­ität und Kun­st­päd­a­gogik

Nicht nur im Kon­text der Kun­st, son­dern auch im kun­st­päd­a­gogis­chen Diskurs spielt die Auseinan­der­set­zung mit Mate­r­i­al eine zen­trale Rolle. Im Fokus ste­ht zumeist die rezep­tive und pro­duk­tive Auseinan­der­set­zung mit kün­st­lerischen Prozessen. Es waren vor allem Gunter Otto (vgl. Otto 1969) und Ger­hart Pfen­ning (Pfen­nig 1967), die in ein­er kun­st­di­dak­tis­chen Analyse der Mod­erne, die Bauhaus­päd­a­gogik Schw­ert­fegers und Ittens auf­greifend (vgl. Schw­erdt­feger 1953), das Mate­ri­al­ex­per­i­ment als zen­tralen Gegen­stand der Kun­stver­mit­tlung iden­ti­fizierten und Mod­elle ein­er pro­duk­tiv­en Kun­strezep­tion entwick­el­ten. Im Zen­trum dieser Aktiv­itäten stand die reflex­ive Verknüp­fung zwis­chen den „Gesichtssin­nen“ und ein­er gestal­tungs­be­zo­ge­nen Man­u­al­ität. Dabei wur­den im Unter­schied zu tra­di­tionellen For­men kun­st­päd­a­gogis­chen Denkens und Han­delns, wie etwa im Zeiche­nun­ter­richt, ana­log zur Kun­st der Mod­erne indi­rek­te und zufall­sori­en­tierte Ver­fahren the­ma­tisiert, so dass eine auf mimetis­che Abbil­dun­gen fokussierte Aus­bil­dung händis­ch­er Fer­tigkeit­en sys­tem­a­tisch unter­laufen wurde. Hin­ter­grund war auch die Diskus­sion kyber­netis­ch­er Mod­elle, welche die medi­ale Über­tra­gung spez­i­fis­ch­er Inhalte prob­lema­tisierte, so dass eine indi­vidu­elle kün­st­lerische Entwick­lung aus dem Zen­trum rück­te.

In Folge und als Kon­trast­folie formierten sich Konzepte, welche eine leib­sinnlich kon­notierte ästhetis­che Erfahrung in den kun­st­päd­a­gogis­chen Kon­text zurück­holten. In einem der­art erweit­erten Fachver­ständ­nis wurde Mate­ri­aler­fahrung zu ein­er holis­tis­chen Übung in den „Ästhetis­chen Pro­jek­ten“ Gert Sell­es (vgl. Selle 1988), wobei dieser auf die phänom­e­nol­o­gis­chen Über­legun­gen von Rudolf zur Lippe rekur­ri­erte (vgl. zur Lippe 1987) und diese kun­st­päd­a­gogisch trans­ferierte. Aktuelle Ansätze von Petra Kathke (Kathke 2017) und Oliv­er Reuter (vgl. Reuter 2007) beleucht­en das Mate­ri­al­prob­lem aus ein­er unter­richts­be­zo­ge­nen und bil­dungs­the­o­retis­chen Per­spek­tive. Des Weit­eren bee­in­flussen The­o­rien der päd­a­gogis­chen Anthro­polo­gie – ins­beson­dere im Kon­text der Päd­a­gogik der frühen Kind­heit – den Mate­riald­iskurs im Fach. Genan­nt seien hier Pestalozzis ele­men­tarprak­tis­che Übun­gen aber auch die Analy­sen von Martha Muchow (vgl. Muchow 1931), die For­men der kindlichen Rau­maneig­nung durch „Umschaf­fung“ charak­ter­isierte, wobei Bezüge zur Aneig­nungs­the­o­rie von Alex­ej A. Leon­t­jew hergestellt wur­den (vgl. Leon­t­jew 1984).

Früh­päd­a­gogis­che Konzep­tio­nen wie etwa die Junk­yard-Edu­ca­tion der israelis­chen Früh­päd­a­gogin Mal­ka Haas, beruhen auf ein­er konz­ertierten und kontin­gen­ten Mate­ri­al­begeg­nung (vgl. Haas / Gav­ish 2008). Inno­v­a­tiv und zeit­be­zo­gen sind kun­st­päd­a­gogis­che Über­legun­gen zur post­dig­i­tal­en Mate­ri­al­ität, die sich an der „Post-Inter­net-Art“ ori­en­tieren und For­men ein­er speku­la­tiv­en Poet­ik the­ma­tisieren (vgl. Arns 2014). Grundle­gend ist hier ein tran­shu­man­er Mate­ri­al­be­griff, der sich nicht in den klas­sis­chen Dichotomien wie Kör­p­er-Geist, Leib-Seele oder Empirie-The­o­rie begreifen lässt und eine trans­me­di­ale speku­la­tive Prax­is vorschlägt. Neuere Arbeit­en, ins­beson­dere von Kon­stanze Schütze (Schütze 2020) und Gesa Kreb­ber (Krebb­ber 2020), unter­suchen der­ar­tige Prax­en der Kun­stver­mit­tlung. Auch das hier vorgestellte hochschul­didak­tis­che Pro­jekt ist in diesem Zusam­men­hang ange­siedelt. Aus der Not eine Tugend machend wurde bed­ingt durch die Coro­na-Pan­demie die übliche Präsenz dig­i­tal sub­sti­tu­iert, wobei die mate­ri­al­be­zo­gene Auseinan­der­set­zung Gegen­stand ein­er „kün­st­lerischen Forschung“ wer­den sollte.

Händis­che Respon­siv­ität und Dig­i­tal­isierung

Im Kon­text ein­er forschen­den Kun­st geht es um eine sub­stantielle Auseinan­der­set­zung mit lebensweltlichen Zusam­men­hän­gen, wobei implizite Wis­sens­bestände sicht­bar gemacht wer­den bzw. sich pro­duk­tiv erweit­ern. Diese Tätigkeit bes­timmt sich als inten­tionale und respon­sive Auseinan­der­set­zung mit der Mate­ri­al­ität der Dinge, wobei Man­u­al­ität eine zen­trale Rolle spielt, sowohl mit dem Ziel ein­er unmit­tel­baren Kon­tak­tauf­nahme als auch in der Nutzung von Werkzeu­gen, die wiederum in ihrer Mate­ri­al­ität Bedeu­tung erfahren kön­nen. Im Fol­gen­den soll am Beispiel spez­i­fis­ch­er Arbeit­sergeb­nisse von Studieren­den der Frage nachge­gan­gen wer­den, inwieweit sich die händis­che Inter­ak­tion mit Mate­r­i­al als Voraus­set­zung für kün­st­lerische Erken­nt­nisse im Kon­text von Dig­i­tal­isierung­sprozessen wan­delt. Die kün­st­lerischen Forschungsar­beit­en sind inner­halb des Sem­i­nars „Kün­st­lerische Forschung — das Forschen aller!?“ im Som­merse­mes­ter 2020 an der Uni­ver­sität Osnabrück ent­standen.

Aus­ge­hend von der Idee des „Kün­st­lerischen Exper­i­ments“ (vgl. Schmück­er 2016) ist das Streben nach Erken­nt­nis durch absichtsvolles und reflex­ives Han­deln das Haupt­mo­tiv ein­er forschen­den Kun­st. Dabei kann im Sinne von Baum­gartens „Wis­senschaft von der sinnlichen Erken­nt­nis“ ein erweit­ert­er Erken­nt­nis­be­griff zu Grunde gelegt wer­den (vgl. Jens Badu­ra 2015). Es han­delt sich somit um „Forschung ander­er Art“ (Schmück­er 2016). Eine durch Kun­st fundierte Epis­te­molo­gie wird hier unab­hängig von ein­er pro­tokol­lar­isch aus­gerichteten natur­wis­senschaftlichen Forschung als gen­uin­er Wis­senszuwachs ver­standen. Dies hat dur­chaus Ein­fluss auf eine schulis­che Kun­stver­mit­tlung, die gen­uinen Erken­nt­nis­sen jen­seits ein­er ver­meintlich objek­tiv­en Fak­tiz­ität eine hohe Rel­e­vanz zuweist. In diesem Zusam­men­hang wird dem „tac­it know­ing“ und der sen­si­blen sowie händisch geprägten Auseinan­der­set­zung mit Weltkon­stituenten eine beson­dere Rolle zugemessen (vgl. Polanyi 1966). Im Fol­gen­den wer­den exem­plar­isch einzelne Arbeit­en von Studieren­den vorgestellt und dies­bezüglich befragt.

  1. Col­oraturne

In ihrem Forschung­spro­jekt „Col­oraturne“ wid­met sich die Stu­dentin Sarah Berke­meier der Frage, wie sich Musik in der Kun­st mit­tels Fotografie abbilden lässt und wie sie sicht­bar gemacht wer­den kann. Die Stu­dentin erforscht dabei die Verknüp­fung zwis­chen audi­tiv­er und visueller Wahrnehmung im Wahrnehmung­sprozess, wobei dig­i­tale und analoge Dimen­sio­nen syn­er­getisch ver­bun­den wer­den. Sie unter­sucht respon­siv Steine als qua­si leib­lich­es Gegenüber, trans­formiert ihre leib­sinnlichen Erfahrun­gen in audio­vi­suelle For­mate, um sie in die dig­i­tale Sphäre zu über­führen. Dabei gelingt es Ihr mit­tels ästhetis­ch­er Hand­lungs­di­men­sio­nen wie Sam­meln, Sortieren und Arrang­ieren, die hap­tis­chen und audi­tiv­en Qual­itäten des Forschungs­ma­te­ri­als in den dig­i­tal­en Raum zu über­set­zten, wodurch ein orts- und zeitun­ab­hängiger Diskurs ermöglicht wird. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit hap­tis­che Qual­itäten des Gegen­standes und der zugrunde liegen­den Inter­ak­tion in die dig­i­tale Sphäre über­führt wer­den kön­nen und welche Wahrnehmungsver­schiebun­gen dabei entste­hen.

Abb. 1: Litho­for­mus Kiesel­steine (Sarah Berke­meier, 2020)

In ihrer Unter­suchung prüft die Stu­dentin zunächst exper­i­mentell die Sinnlichkeit ein­fach­er Kiesel- und Klink­er­steine, indem sie zunächst hap­tis­che und optis­che Qual­itäten wie Struk­turen, Maserun­gen, Zeich­nun­gen und Risse fotografisch fes­thält. Anschließend über­prüft sie die klan­glichen Eigen­schaften der Unter­suchungs­ge­gen­stände: Sie wirft Kiesel­steine und schlägt Klink­er­steine an. Dabei fällt zum einen auf, dass bere­its Kiesel­steine for­mal-ästhetis­che Entsprechun­gen zu Notenköpfen haben, zum anderen, dass sich in den Maserun­gen und Ris­sen der Klink­er­steine Muster und Struk­turen auf­spüren lassen, welche Läufen und Sprün­gen von stimm­lichen Koloraturen entsprechen. Sarah Berke­meier stellt durch deren Vielschichtigkeit Analo­gien zu musikalis­chen Arien her, die sich wiederum in der Koloratur offen­baren.

Abb. 2: Col­oraturne (Sarah Berke­meier, 2020)

Die „Col­oraturne“ entste­ht als eine vielschichtige visuell-musikalis­che Kom­po­si­tion aus eben diesen Stein­maserun­gen und -ris­sen. Gespielt wer­den diese Arien auf einem von der Stu­dentin erfun­de­nen „Lito­pho­ni­um“, wobei es sich um ein aus Klink­ern hergestelltes Schla­gin­stru­ment han­delt. Das Lito­pho­ni­um beste­ht dabei aus acht tonal auf­steigend geord­neten Klink­er­steinen, die auf zylin­der­för­mi­gen Hohlkör­pern ste­hen. Die mit einem Schlägel auf dem Litho­pho­ni­um erzeugten Klang­bilder nen­nt die Stu­dentin Litho­phonien.

Abb. 3: Litho­pho­ni­um (Sarah Berke­meier, 2020)

Beim Sam­meln, Unter­suchen und Ord­nen plas­tis­ch­er Struk­turen ent­deckt sie spez­i­fis­che Tonab­fol­gen aus Opernar­ien von Ver­di, Rossi­ni und Massenet wieder und über­set­zt diese in Stein­col­la­gen. Die als ‚Lithol­la­gen‘ benan­nten plas­tis­chen und als Stein­re­lief sicht­baren Anord­nun­gen repräsen­tieren die in Schwingung ver­set­zten Stimm­bän­der (Lig­a­men­ta Vocalia). Lig­a­men­ta Vocalia stoßen die Gesangslin­ie aus, sodass diese in eine kün­st­lerisch-bild­hafte Darstel­lung in Form lin­ear­er Abstrak­tion über­set­zt wer­den kann. In den unter­sucht­en Klink­er­steinen zeigen sich die Lig­a­men­ta Vocalia in den tiefen Gravuren, die mit­tels der Detail­fo­tografie von der Stu­dentin einge­fan­gen wur­den.

Abb. 4: Lithol­lage (Sarah Berke­meier, 2020)

Im Rah­men dieses Pro­jek­tes ent­stand eine Rei­he audio-visueller kün­st­lerisch­er Objek­te, welche sich in man­nig­falti­gen Forschungssträn­gen zu ein­er ästhetisch-kom­plex­en Gesamtkom­po­si­tion verdichteten. Durch die gelun­gene Trans­la­tion dieser visuellen und audi­tiv­en Infor­ma­tio­nen in den dig­i­tal­en (Ausstel­lungs-) Raum schafft es die Stu­dentin, Teil­habe an diesen Erken­nt­nis­sen aus Musik und Bilden­der Kun­st zu ermöglichen, ohne dass die z.T. plas­tis­chen und somit sinnlich erfahrbaren Gegen­stände im realen Raum zugänglich sein müssen.

  1. nul­la dies sine lin­ea — Indi­vid­u­al­ität und Ent­frem­dung der Lin­ie

In ihrem Forschungsvorhaben „nul­la dies sine lin­ea — Indi­vid­u­al­ität und Ent­frem­dung der Lin­ie“ set­zt sich die Stu­dentin Vanes­sa Bross mit gesellschaftlichen Zwän­gen und Nor­men im Hin­blick auf das Indi­vidu­um auseinan­der. In einem streng exper­i­mentellen Selb­stver­such füllt sie täglich einen Papier­bo­gen mit ger­aden Lin­ien, welche sie mit Fed­er und schwarz­er Tusche aufträgt. An dreißig aufeinan­der­fol­gen­den Tagen rit­u­al­isiert sie diese Form der Zeich­nung, in der sie die per­sön­liche Hand­schrift sukzes­sive zu eli­m­inieren sucht, um ein­er ideell gedacht­en ger­aden Lin­ie gerecht zu wer­den.

Abb. 5: Nul­la dies sine lin­ea I (Vanes­sa Bross, 2020)

Das graphis­che Pro­jekt bezieht sich zunächst auf ein lateinis­che Sprich­wort, welch­es so erst­mals wörtlich im Epi­gramm von Faus­to Andreli­ni niedergeschrieben wurde (vgl. Nikitin­s­ki 1999) und ursprünglich aus der His­to­ria Nat­u­ralis von Plin­ius entstammt. Die Stu­dentin möchte darüber hin­aus mit ihrem kün­st­lerischen Forschung­spro­jekt an kün­st­lerische Tra­di­tio­nen anschließen, welche sich eben­falls auf Plin­ius beziehen, und mit diesen Werken in einen Dia­log treten: unter anderem die graphis­chen Bildzyklen Paul Klees, vor allem die Werknum­mer 365 „Süchtig“ aus dem Jahr 1938, unter welch­er er ganz expliz­it „nul­la dies sine lin­ea“ ver­merk­te. Außer­dem bezieht sie sich auf Piero Man­zoni (Lin­ea 1959 bis 1961) und das aus dem Jahr 1999 stam­mende Werk von Katha­ri­na Hins­berg mit dem gle­ich­nami­gen Titel „nul­la dies sine lin­ea.“

Abb. 6: Schwarze Tinte auf Papi­er (Vanes­sa Bross, 2020)

Wie im Werk von Man­zoni sind hier reduzierte Mate­ri­alien Aus­gangspunkt der kün­st­lerisch forschen­den und gle­ich­sam ästhetis­chen Selb­ster­fahrung. Schwarze Tusche mit Fed­er als Handze­ich­nung auf Papi­er gebracht hin­ter­lässt dabei eine unwider­ru­fliche Spur und erfordert radikale Ehrlichkeit. Sowohl die im Exper­i­ment intu­itiv aufgenommene Menge an Tinte als auch jedes Zögern oder jede Unkonzen­tri­ertheit im Moment der Bewe­gung, in der sie aus­ge­führt wird, ja sog­ar jed­er Herz­schlag wer­den hier unmit­tel­bar und unwider­ru­flich in der Lin­ien­führung sicht­bar und für den Betra­chter erfahrbar doku­men­tiert.

Abb. 7: Zwis­chen Indi­vid­u­al­ität und Norm (Vanes­sa Bross, 2020)

Diese Form des rit­uellen Entsagens indi­vidu­eller Regun­gen ist let­ztlich zum Scheit­ern verurteilt: Die Zeich­nun­gen zeigen beständig zufäl­lige und implizite For­men des Eigensinns. Tuschfleck­en und zit­ternde oder unvol­len­dete Lin­ien zeu­gen nahezu sym­bol­isch von der unhin­terge­hbaren Qual­ität des indi­vidu­ellen Aus­drucks.

Abb. 8: Tuschefleck­en und unvol­len­dete Lin­ien (Vanes­sa Bross, 2020)

Vanes­sa Bross doku­men­tiert den Prozess des Zeich­nens video­graphisch, so dass dieser in der dig­i­tal­en Sphäre erfahrbar gemacht und kom­mu­niziert wer­den kann. An Mar­tin Trön­dle und Julia Warmer (2011) anknüpfend zeigen ihre For­men exem­plar­isch, wie in der Verknüp­fung doku­men­tarisch­er, sozio-ana­lytis­ch­er und kün­st­lerisch­er Forschungsin­stru­mente indi­vidu­elle Erfahrun­gen epis­temisch rel­e­vant wer­den kön­nen und dem Betra­chter eine entschei­dende Rolle zugeschrieben wird. Dieter Mer­sch kennze­ich­net zwei For­men ästhetis­ch­er Forschung, die er als per­for­ma­tiv und werko­ri­en­tiert voneinan­der abset­zt (Mer­sch 2015). Dass Werk als Nuk­leus des ästhetisch-nor­ma­tiv­en Diskurs­es wurde bere­its im frühen 20. Jahrhun­dert durch die kün­st­lerische Avant­garde der Mod­erne in Frage gestellt. In der fokussierten Rezep­tion­säs­thetik im Sinne Mar­cel Duchamps ist es der Betra­chter, der das Werk prozes­su­al kon­sti­tu­iert „C’est le regardeur qui fait l’œuvre“.

In der kün­st­lerischen Arbeit „Men­schliche Überbleib­sel – Staub und Folie“ von Maya Ina Nitschke waren ein mit Folie zum Malate­lier umfunk­tion­iertes Zim­mer sowie der als lästig, störend und unhy­gien­isch emp­fun­dene Hausstaub Aus­gangspunkt der kün­st­lerischen Auseinan­der­set­zung mit den materiellen Qual­itäten dieser bei­den Phänomene.

Abb. 9: Col­lage aus Staub (Maya Ina Nitschke, 2020)

Jen­seits ein­er Pro­duk­tion­säs­thetik nach Mer­sch (2015) entwick­elt sie durch exper­i­mentell illu­sion­is­tis­che Ver­fahren aus Staubflusen wolke­nar­tige Gebilde, deren luzider Wellen­gang kos­mol­o­gis­che Zusam­men­hänge offen­bart. Im Sinne ein­er Ästhetik des Ereigniss­es entste­ht durch absicht­slos­es Vorge­hen eine Sen­si­bil­ität für die Logik des Unvorherse­hbaren, wodurch sub­lime Struk­turen offen­bar wer­den.

Abb. 10: Staub­folien­wolke (Maya Ina Nitschke, 2020)

Kul­turell etablierte Hygien­er­ituale des alltäglichen Lebens, welche das men­schliche Streben nach Sauberkeit und Ord­nung aufzeigen, ignori­eren die Ästhetik des Unschö­nen und Mar­ginalen, welche dem Staub nor­maler­weise zugewiesen wird. Ziel des Forschung­spro­jek­ts war es daher, sich diesem men­schlichen Überbleib­sel auf kün­st­lerisch-ästhetis­che Weise anzunehmen, um seine ver­bor­ge­nen Struk­turen zu offen­baren. Die Stu­dentin unter­suchte im Zuge ihrer Forschungsar­beit die ästhetis­chen Struk­turen von Maler­folie und der ihr imma­nen­ten Eigen­schaften, im Sinne des Ver­hül­lens und Ent­ber­gens, im Kon­text ihrer nahezu schw­erelosen Mate­ri­al­ität – ein Pen­dant zur amor­phen aber gle­ich­falls wolki­gen Beschaf­fen­heit des Staubs.

Abb. 11: Farbin­ver­sion — Staub und Folie (Maya Ina Nitschke, 2020)

Konkret, wie auch metapho­risch, kon­nte Maya Ina Nitschke inner­halb der Forschungsphase die ver­bor­gene Ästhetik bei­der Werk­stoffe offen­baren. In diesem Zusam­men­hang spielt auch der Begriff des Sozial­raums (vgl. Löw 2005) sowie der des Dis­place­ments (vgl. Brohl 2019) eine wichtige Rolle. So stellte sich hier auch die Frage, ob nicht ein Kunst­werk erst durch einen mitgedacht­en (sozialen) Raum seine Poten­tial­ität ent­fal­ten kann. Die kün­st­lerische Erforschung von alltäglichen und lebensweltlichen Orten ste­ht somit im Inter­esse ein­er (außer-) schulis­chen kul­turellen Bil­dungsar­beit.

Abb. 12: Magis­che Verbindun­gen (Maya Ina Nitschke, 2020)

Die durch die jew­eilige Kul­tur gefärbten sub­jek­tiv­en ästhetis­chen Erfahrun­gen mit Staub und Folie wer­den durch die neue Kon­tex­tu­al­isierung im Rah­men von kün­st­lerisch­er Forschung umcodiert. Sie erweit­ern somit die bere­its gemacht­en Erfahrun­gen um neue Erken­nt­nisse, ganz im Sinne des Dis­place­ments. Eine solche Umcodierung gelingt hier auch nicht zulet­zt durch die Trans­la­tion der beforscht­en Phänomene: durch Detailauf­nah­men, Col­lagieren und Retusche über­set­zt sie die Mate­ri­al­ität von Staub und Folie zunächst ins dig­i­tale Medi­um und läd sie dadurch mit ästhetisch-reizvoller Bedeu­tung auf, sodass sie einen neuen Impuls zu kul­tur­spez­i­fis­chen Phänome­nen und somit auch zu Kul­tureller Bil­dung ermöglichen und diese les­bar machen.

Kün­st­lerisch Forschen

In den hier exem­plar­isch disku­tierten Arbeit­en zeigt sich der Prozess kün­st­lerisch­er Forschung in sein­er prozes­sualen Form, die sich auch auf Möglichkeit­en der Rezep­tiv­ität auswirkt. Die lustvolle und mate­ri­alzen­tri­erte Auseinan­der­set­zung mit den Phänome­nen mün­det in Erken­nt­n­is­for­men, die sowohl moti­va­tionale als auch imag­inäre Erken­nt­nisse bein­hal­ten. Ganz im Sinne von Anke Haar­mann (2011) ste­ht hier der „Prozess der Genese ein­er kün­st­lerischen Arbeit“ im Zen­trum der Aufmerk­samkeit. Die so ent­stande­nen kün­st­lerischen Objek­te sind erken­nt­nis­tra­gende Man­i­fes­ta­tio­nen ein­er dicht­en Auseinan­der­set­zung mit ein­er als sinnhaft erlebten Mate­ri­al­ität. „Ihre Kun­st liegt nicht im Werk als einem hergestell­ten Objekt, son­dern in der han­del­nden Geste der Set­zung, die Pro­voka­tion und Reflek­tion im per­for­ma­tiv­en Akt zugle­ich ist“ (ebd., S. 5). Dabei spie­len die konzeptuelle Man­u­al­ität in der Pro­duk­tion und Rezep­tion der Prozesse eine essen­tielle Rolle. Die Berührung und die Respon­siv­ität des Mate­ri­als erzeu­gen eine Kon­tak­t­zone, die nicht nur sen­suelle Eigen­schaften erfahrbar macht, son­dern einen drit­ten Raum der wech­sel­seit­i­gen Kon­tak­tauf­nahme evoziert (vgl. Kathke 2014). Ohne den Abstand zwis­chen zwei Entitäten kann es keine Inter­ak­tion geben, die die daraus abgeleit­eten Wis­sens­for­men sicht­bar machen kann. Sel­biges gilt für die Rezep­tion ästhetis­ch­er Objek­te, ein qua­si dicht­es Sym­bol­han­deln, das einen wirkungsmächti­gen Dia­log mit der Lebenswelt evoziert. Dabei spielt Dig­i­tal­ität insofern eine Rolle, als dass durch sie Gegen­stände von Zeit und Raum enthoben wer­den, so dass sich im Kon­text sozialer Net­zw­erke eine über­greifende und kul­tur­tran­szendierende Kom­mu­nika­tion entwick­eln kann.

Kün­st­lerische Forschung ist ein noch wach­sendes Feld, das nach und nach die kün­st­lerische und kun­st­päd­a­gogis­che Lehre viel­er Uni­ver­sitäten bes­timmt. Zum einen als die Kun­st erweit­ernde Prax­is, zum anderen als eine Form der ent­gren­zten Wis­senschaft (vgl. Bip­pus 2015). Die Forschung­spro­jek­te der Studieren­den zeigen, dass die Diskus­sion um das Ver­ständ­nis und die Def­i­n­i­tion von kün­st­lerisch­er Forschung bewusst offenge­hal­ten wer­den sollte, um so dem Moment des Ent­deck­ens, dem des „Etwas-Aus­pro­bierens“ einen Raum geben zu kön­nen. Es entste­hen Möglichkeit­sräume, die auf das schulis­che Feld ausstrahlen. Im Kun­stun­ter­richt kann explo­ri­eren­des prozesshaftes Arbeit­en auf etwas Unbekan­ntes hin noch immer als mutig beze­ich­net wer­den, scheint doch im Kon­text ein­er kom­pe­ten­zori­en­tierten Leis­tungs­be­w­er­tung ein pro­duk­to­ri­en­tiertes Vorge­hen zunächst alter­na­tiv­los zu sein. Dabei kann eine durch kün­st­lerische Forschung induzierte Forschung sowohl im realen als auch im dig­i­tal­en Raum Schulen, außer­schulis­che Bil­dung­sein­rich­tun­gen und Uni­ver­sitäten sub­stanziell anre­ich­ern und kün­st­lerische Prozesse in eine erweit­erte Forschung – dem Forschen aller – ein­speisen.

Umgangs­for­men

Kün­st­lerisches Forschen basiert im Unter­schied zu ein­er qua­si anti­sep­tis­chen Analyse oper­a­tional­isier­bar­er Sachver­halte in den MINT-Fäch­ern auf ein­er leib­sinnlichen  Bezug­nahme. Dabei spielt die Hand und die damit ver­bun­dene  Respon­siv­ität eine zen­trale Rolle – sie ist qua­si ein erken­nt­nis­s­tif­ten­des Sen­so­ri­um, das auf ein­er sub­stantiellen Annäherung beruht. Die visuelle Betra­ch­tung allein gibt zwar Hin­weise und ermöglicht die Her­aus­bil­dung von Präferen­zen – allein ohne eine inten­sive tak­tile Bezug­nahme bleibt der Kern der Phänomene unent­deckt. Die Hand ist ein Instru­ment, das durch seine spez­i­fis­che Mor­pholo­gie man­nig­faltige Zugänge zu den Phänome­nen her­vor­bringt und im Kon­text der­ar­tiger Prax­en eine forschende Attitüde evoziert. Die Etablierung ein­er vielfälti­gen „Hand­habung“ benötigt nicht nur Erfahrungs­felder und eine zugemessene Zeitspanne, son­dern auch ein respon­sives Milieu, also Gegen­stände, die in ihrer Wider­ständigkeit die Erweiterung von Hand­lungsspiel­räu­men bieten. Die prinzip­ielle Dig­i­tal­ität der Phänomene in ein­er post­dig­i­tal­en Gesellschaft verän­dert zwar die tra­di­tionelle Kon­stel­la­tion zwis­chen Hand, Objekt und ein­er darauf bezo­ge­nen respon­siv­en Reflex­iv­ität durch eine weit­ere medi­ale Ebene, den­noch kann man von Erweiterung der Epis­teme sprechen. Basiert doch die Find­igkeit des leib­sinnlichen Spek­trums auf ein­er Verknüp­fung sen­sueller Instru­mente des Kör­pers mit der durch Sinns­tiftung ver­wobe­nen ästhetis­chen Erfahrungs­geschichte. Diese „ästhetis­che Reflex­iv­ität“ (vgl. Drews 2018) verdichtet die Wahrnehmung mit kollek­tiv­en Prax­en der Zuschrei­bun­gen und medi­alen Repräsen­ta­tio­nen. Als „dritte Hand“ (vgl. Har­man 2012) poten­ziert sie die Erken­nt­n­is­for­men ein­er forschen­den Kun­st und unter­läuft die Dichotomie von dig­i­tal und ana­log. Die oft­mals anvisierte Präsen­z­er­fahrung in ästhetisch-kün­st­lerischen Bil­dung­sprozessen ist keine Frage der Medi­al­ität, son­dern ein­er qual­i­ta­tiv­en Inten­sität.


Infobox

„Kün­st­lerische Forschung — das Forschen aller!?“ im Som­merse­mes­ter 2020 an der Uni­ver­sität Osnabrück. Dozentin: Katha­ri­na Brön­necke, M. Ed., wis­senschaftliche Mitar­bei­t­erin der Kunst/Kunstpädagogik — Pro­fes­sur: Prof. Dr. Andreas Brenne.

Gegen­stand des Sem­i­nars „Kün­st­lerische Forschung — das Forschen aller!?“ war zum einen die dezi­dierte Auseinan­der­set­zung mit dem Begriff der Kün­st­lerischen Forschung im Hin­blick auf kün­st­lerisches Han­delns, Exper­i­men­tieren und Erken­nt­nis­gewinn; zum anderen das Konzip­ieren eines eige­nen kün­st­lerischen Forschung­spro­jek­ts nach per­sön­lichem Inter­essenss­chw­er­punkt. Durch die Sach­lage des Lock-Downs der Coro­na-Pan­demie im Früh­jahr 2020 mussten hier die erforder­lichen Ein­schränkun­gen und Bedin­gun­gen mitgedacht wer­den: eine Recherche, welche im realen Raum, dem Home-Office und sein­er unmit­tel­baren Umge­bung seinen Aus­gangspunkt find­et und welche als fer­tiges Forschung­spro­jekt inner­halb des Sem­i­nars im dig­i­tal­en Raum präsen­tiert und ver­mit­telt wer­den kann. Konkret bedeutete dies eine Reduk­tion gewohn­ter tech­nis­ch­er Möglichkeit­en und Mate­ri­alen sowie gle­ichzeit­ig eine exper­i­mentelle Offen­heit gegenüber let­zteren. Die Mate­ri­al­ität und deren (ästhetis­che) Umdeu­tung im Kon­text alltäglich­er Dinge des Natur- und Sozial­raums rück­ten in den Fokus kün­st­lerischen Forschens, „Not“ sollte hier erfind­erisch machen.


 

Lit­er­aturverze­ich­nis

Alex­en­berg, Mel: The Future of Art in a Post­dig­i­tal Age: From Hel­lenis­tic to Hebra­ic Con­scious­ness. Bristol/Chicago 2011

Arns, Inke: Post-Inter­net Art: Norm­core in Zeit­en des Hyper­kap­i­tal­is­mus 2014

Bad­er, Nad­ja: Zeich­nen — Reden — Zeigen. Wech­sel­wirkun­gen zwis­chen Lehr-lern-Dialo­gen und Gestal­tung­sprozessen im Kun­stun­ter­richt. München: kopaed 2019

Badu­ra, Jens: Erken­nt­nis (sinnliche). S.43–48. In: Badu­ra, Jens/ Dubach, Selma/ Haar­mann, Anke/ Mer­sch, Dieter/ Rey, Anton/ Schenker, Christoph/ Toro Pérez, Ger­mán (Hrsg.): Kün­st­lerische Forschung. Ein Hand­buch. Zürich-Berlin: Diaphanes 2015

Baier, Andrea / Hans­ing, Tom / Müller, Christa / Wern­er, Katrin (Hrsg.): Die Welt repari­eren. Open Source und Sel­ber­ma­chen als postkap­i­tal­is­tis­che Prax­is. Biele­feld 2016

Bip­pus, Elke: Kün­st­lerisches Forschen. S. 65–68. In: Badu­ra, Jens/ Dubach, Selma/ Haar­mann, Anke/ Mer­sch, Dieter/ Rey, Anton/ Schenker, Christoph/ Toro Pérez, Ger­mán (Hrsg.): Kün­st­lerische Forschung. Ein Hand­buch. Zürich-Berlin: Diaphanes 2015

Bre­dekamp, Horst: Denk­ende Hände — Über­legun­gen zur Bild­kun­st der Natur­wis­senschaft. S.109–132. In: Lessl, M./ Mit­tel­straß, J. (Hrsg.): Von der Wahrnehmung zur Erken­nt­nis – From Per­cep­tion to Under­stand­ing. Berlin, Hei­del­berg: Springer-Ver­lag 2005

Bre­dekamp, Horst: Art His­to­ry and Pre­his­toric Art. Rethink­ing their Rela­tion­ship in the Light of New Obser­va­tions (Übers. Mitch Cohen). Gronin­gen: The Ger­son Lec­tures Foun­da­tion 2019

Brenne, Andreas: „Kün­st­lerisch-Ästhetis­che Forschung“ Kun­st­päd­a­gogik im Kon­text der frühen und mit­tleren Kind­heit. Köln: Kun­st­päd­a­gogis­che Posi­tio­nen, Uni­ver­sität Köln. Her­aus­ge­ber: Andrea Sabisch, Torsten Mey­er, Hein­rich Lüber, Eva Sturm ; Uni­ver­sität zu Köln 2019

Brohl, Chris­tine: Kün­st­lerische Forschung und Kul­turelle Bil­dung. Gedanken zur Entwick­lung von kun­st­päd­a­gogis­ch­er Pro­fes­sion­al­ität in Schule und Hochschule. BDK-Mit­teilun­gen 1 2019

Drews, Jonathan: Ästhetis­che Ratio­nal­ität als kun­st­päd­a­gogis­ches Par­a­dig­ma bei Gunter Otto. München 2018

Haar­mann, Anke: Kün­st­lerische Prax­is als method­is­che Forschung? In: Band 2: Exper­i­mentelle Ästhetik, VIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik 2011, Her­aus­gegeben von Ludger Schwarte http://www.dgae.de/wp-content/uploads/2011/09/Haarmann.pdf [abgerufen am 28. Novem­ber 2020].

Har­man, Gra­ham: Der dritte Tisch. In: Chris­tov-Bakargiev, Car­olyn (Hrsg.): Das Buch der Büch­er. Ost­fildern 2012, S. 540–542.

Haas, Mal­ka / Gav­ish, Tzil­la: Touch­ing Real­i­ty: On the Co-con­struc­tion of Knowl­edge and Iden­ti­ty in the Junk­yard Play­grounds of Israel. Wash­ing­ton DC. 2008

Hei­deg­ger, Mar­tin: Der Ursprung des Kunst­werkes. Ditzin­gen 1986

Kathke, Petra: Mate­ri­al­ität insze­nieren — Ein Desider­at im Hand­lungs­feld kün­st­lerisch­er Lehre. In: Autsch, Sabine / Hornäk, Sara (Hrsg.): Mate­r­i­al und kün­st­lerisches Han­deln. Posi­tio­nen und Per­spek­tiv­en in der Gegen­wart­skun­st. Biele­feld 2017, S. 23–51.

Kathke, Petra: Mit den Augen den Hän­den fol­gen, die dem Ver­stand vorau­seilen … – Hap­tisch-visuelle Erfahrun­gen und raum­be­zo­genes Gestal­ten. In: Kun­st + Unter­richt 2014(381/382): 88–92.

Klein, Kristin: Kun­st und Medi­en­bil­dung in der dig­i­tal ver­net­zten Welt. Forschungsper­spek­tiv­en im Anschluss an den Begriff der Post­dig­i­tal­ität. S.16–25. In: Klein, Kristin / Noll, Willy (Hrsg.): Post­dig­i­tal Land­scapes. Köln: zkmb Zeitschrift Kun­st Medi­en Bil­dung. Andreas Brenne / Chris­tine Heil / Torsten Mey­er / Ans­gar Schnurr (Herausgeber*innen im Auf­trag der Wis­senschaftlichen Sozi­etät Kun­st Medi­en Bil­dung e.V.) 2019

Kreb­ber, Gesa: Kol­lab­o­ra­tion in der Kun­st­päd­a­gogik — Stu­di­en zu neuen For­men gemein­schaftlich­er Prak­tiken unter den Bedin­gun­gen dig­i­taler Medi­enkul­turen. Schriften­rei­he Kun­st Medi­en Bil­dung. Band 4, München 2020

Leon­t­jew, Alex­ei Niko­la­je­w­itsch: Der all­ge­meine Tätigkeits­be­griff. In: Leon­t­jew, Alex­ej A. et al. (Hrsg.): Grund­fra­gen ein­er The­o­rie der sprach­lichen Tätigkeit. Stuttgart 1984, S. 13–30.

Löw, Mar­ti­na, & Sturm, Gabriele: Raum­sozi­olo­gie. In: F. Kessl, C. Reut­linger, S. Mau­r­er, & O. Frey (Hrsg.), Hand­buch Sozial­raum (1. Auflage) (S. 31–48). Wies­baden: VS Ver­lag für Sozial­wis­senschaften 2005, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar [aufgerufen am 27. Novem­ber 2020].

Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort — Die Evo­lu­tion von Tech­nik, Sprache und Kun­st. Frank­furt a.M. 1987

Mer­leau-Pon­ty, Mau­rice: Phänom­e­nolo­gie der Wahrnehmung. Berlin 1966

Mer­sch, Dieter: Rezeptionsästhetik/ Produktionsästhetik/ Ereignisäs­thetik. S. 49–64. In: Badu­ra, Jens/ Dubach, Selma/ Haar­mann, Anke/ Mer­sch, Dieter/ Rey, Anton/ Schenker, Christoph/ Toro Pérez, Ger­mán (Hrsg.): Kün­st­lerische Forschung. Ein Hand­buch. Zürich-Berlin: Diaphanes 2015

Miller, Daniel (Hrsg.): Mate­ri­al­i­ty. Durham NC 2005

Muchow, Martha: Zur Frage ein­er Leben­sraum- und epochal­ty­pol­o­gis­chen Entwick­lungspsy­cholo­gie des Kindes und Jugendlichen. Ham­burg 1931

Müller, Oliv­er: Selb­st, Welt und Tech­nik. Berlin 2013

Nikitin­s­ki, Oleg: Zum Ursprung des Spruch­es nul­la dies sine lin­ea. S. 430–431. In: Rheinis­ches Muse­um für Philolo­gie 142 1999, http://www.rhm.uni-koeln.de/142/M-Nikitinski.pdf [aufgerufen am 04. Dezem­ber 2020].

Otto, Gunter: Kun­st als Prozeß im Unter­richt. Braun­schweig, 1969

Pfen­nig, Rein­hard: Gegen­wart der bilden­den Kun­st. Erziehung zum bild­ner­ischen Denken. Old­en­burg 1967

Polanyi, Michael: The Tac­it Dimen­sion. New York 1966

Reuter, Oliv­er M.: Exper­i­men­tieren. München 2007

Rübel, Diet­mar: Begriff der Plas­tiz­ität: Kun­st­geschichte des 20. JH

Schmück­er, Reinald: Kün­st­lerisch forschen. S.123–144. In: Sig­mund, Judith: Wie verän­dert sich Kun­st, wenn man sie als Forschung ver­ste­ht? Biele­feld: tran­script Ver­lag 2016

Schütze, Kon­stanze: Bildlichkeit nach dem Inter­net — Aktu­al­isierun­gen für eine Kun­stver­mit­tlung am Bild. Schriften­rei­he Kun­st Medi­en Bil­dung. Band 3, München 2020

Schw­erdt­feger, Kurt: Bildende Kun­st und Schule. Han­nover 1953

Selle, Gert: Gebrauch der Sinne. Eine kun­st­päd­a­gogis­che Prax­is. Rein­bek bei Ham­burg 1988

Trön­dle, Martin/Warmers, Julia (Hrsg.): Kun­st­forschung als ästhetis­che Wis­senschaft: Beiträge zur trans­diszi­plinären Hybri­disierung von Wis­senschaft und Kun­st. Biele­feld: tran­script 2011

Wag­n­er, Moni­ka: Lexikon der Kün­stler­ma­te­ri­alien, Quel­len­samm­lung Mate­ri­aläs­thetik

zur Lippe, Rudolf: Sin­nen­be­wußt­sein: Grundle­gung ein­er anthro­pol­o­gis­chen Ästhetik. Rein­bek bei Ham­burg 1987     <http://irights-media.de/webbooks/jahresrueckblick1415/chapter/post-internet-art-normcore-in-zeiten-des-hyperkapitalismus/>.

 

 

Katha­ri­na Brön­necke, M.Ed., Jg. 1985, arbeit­et als wis­senschaftliche Mitar­bei­t­erin an der Uni­ver­sität Osnabrück am Insti­tut für Kunst/ Kun­st­päd­a­gogik. Sie ist Mit­glied der Arbeits­gruppe Trans­la­tio­nen von Migra­tion an der Uni­ver­sität Osnabrück sowie der AG Kün­st­lerische Forschung an der Uni­ver­sität Bre­men. Ihre Dis­ser­ta­tion befasst sich mit der Entste­hung kün­st­lerisch­er Nar­ra­tive durch die Trans­la­tion tra­di­tioneller Zeichen und kün­st­lerisch­er Motive inner­halb tran­skul­tureller Kom­mu­nika­tion­sprozesse. Zuvor studierte sie Kun­st und Ger­man­is­tik an der Uni­ver­sität Osnabrück und war als Mode- und Pro­duk­t­de­signer­in tätig.

 

Andreas Brenne (* 1966) ist Pro­fes­sor für Kunstdidaktik/Kunstpädagogik an der Uni­ver­sität Osnabrück. Er studierte Lehramt Pri­marstufe (Kun­st, Math­e­matik, Deutsch und Sachunter­richt) an der West­fälis­che-Wil­helms-Uni­ver­sität Mün­ster, sowie Freie Kun­st an der Kun­stakademie Mün­ster. Von 2000 ­–2007 war er Lehrer an den Grund­schulen in NRW. Von 2007­–2012 war er Pro­fes­sor für „Ästhetis­che Bil­dung und Bewe­gungserziehung“ an der Uni­ver­sität Kas­sel. Er fungiert als Vor­standsmit­glied der Wis­senschaftlichen Sozi­etät Kun­st Medi­en Bil­dung. Seine Arbeitss­chw­er­punk­te sind Kun­st­päd­a­gogik, Kün­st­lerisch-ästhetis­che Forschung, Grund­schulpäd­a­gogik, Qual­i­ta­tiv-empirische Unter­richts­forschung und Kul­turelle Bil­dung.

  • 24. Mai 202126. Mai 2021
Haptik im Geschichtsunterricht?! Umsetzung haptischer Zugriffe auf (historische) Gegenstände am Beispiel von Graffiti
Fragen an ein Wort, von einem Wort aus fragen
© ZAeB
Theme by Colorlib Powered by WordPress