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HANDkontakthand — Erfahrungen und Gedanken zum pädagogischen Handwerk unter Pandemiebedingungen

Holger Erbach

[Beitrag als PDF]

Begeg­nun­gen in der Schule

Die Hand öffnet die Tür. Auf dem Weg ins Klassen­z­im­mer – wo immer er auch begin­nen mochte – war noch alles nur Kopf und Herz. Denken und Fühlen befan­den sich auf dem Weg zu Anschau­ung, Wahrnehmung und Aus­druck.

Jet­zt also öffnet die Hand die Tür. Sie grüßt durch den Raum, stre­icht im Vor­beige­hen jeman­dem den Arm. Nun bere­it­et sie vor, blät­tert, ord­net und sortiert. Ein Augen­blick der Ruhe und Besin­nung. Sie erhält eine Auf­gabe: schreibe, zeichne. Sie stellt Verbindung her, holt ein Gegenüber ins Gelände. Nun ver­sucht sie zu zeigen, zu fassen und zu hal­ten. Hie und da wägt sie ab, weist gar zurück. Sie fes­tigt den Boden für das Gespräch, den Aus­tausch.

Emsig notiert die Lehrer­hand die Gedanken der Schüler*innen, hält sie an der Tafel fest, wis­cht Teile hur­tig wieder weg, kor­rigiert. So munter und sprung­haft das Denken und Sprechen, so eilig und skizzen­haft, mehr zeich­nend als schreibend, entste­hen Notate. Dann wech­selt die Hand wieder die Ebene, ver­lässt ihr Werkzeug­da­sein und begin­nt, Aus­sagen zu deuten. Sie schlägt Brück­en zu und zwis­chen Schüler*innen, lädt ein zum Sprechen. Sie entwick­elt eine Chore­ografie. Die Hände begin­nen zu den Gedanken, zu den Sätzen zu tanzen. Dabei gebär­den sie sich ein wenig wie das Haupt des Kör­pers. Dann wiederum verbinden (zunächst stand hier „ver­linken“) sie die Beteiligten, stellen Kon­tak­te her und aktivieren die Gegenüber.

Das gemein­same Nach­denken soll ver­han­del­bar wer­den, es sollen Begriffe gefun­den wer­den. Dies erfordert, etwas zu begreifen in der Art, wie man ein Objekt in die Hand nimmt, abtastet, dreht und wen­det, um es zu erfassen. Gedanken gehen von Hand zu Hand. Manche wer­den nur flink ein­mal berührt und weit­erg­ere­icht, andere davor aus­führlich gewogen. So ertastet und ein­ge­le­sen entste­ht ein gemein­samer Wortschatz für das aktuelle Phänomen.

Die Hand ist nur als Werkzeug Dien­stleis­terin[1], darüber hin­aus aber min­destens Part­ner in der Kom­mu­nika­tion, zuweilen ihr Vor­bote, manch­mal übern­immt sie ganz, was son­st der Kopf leis­tet. Sie ver­hil­ft dem Denken und Fühlen durch ihre Gestik zu ungeah­n­ter Beweglichkeit – sub­til, fil­igran, aber auch wenn nötig heftig und roh. Durch sie kom­men wir in Berührung mit unserem Denken und Fühlen und dem der anderen. Hen­ri Focil­lon lobt sie – und ich tue es ihm gle­ich.

Seht, wie die Hände in Frei­heit leben, ohne an ihre Funk­tion zu denken, ohne sie mit einem Geheim­nis zu belas­ten – seht, wie sie ruhen mit leicht gebo­ge­nen Fin­gern, als ob sie sich irgen­deinem Traum über­ließen, oder betra­chtet sie in der ele­gan­ten Leb­haftigkeit der reinen Gebär­den, der unnöti­gen Gebär­den: dann scheint es, als ob sie absicht­s­los die Vielfalt der Möglichkeit­en in die Luft zeich­neten, und dass sie sich, mit sich selb­st spie­lend, auf irgen­deine nahe­liegende wirk­same Ver­mit­tlung vor­bere­it­eten.[2]

Die Hand macht uns zu Agieren­den und zu Emp­fan­gen­den, zu Lieben­den, Stre­ichel­nden, zu Schreiben­den, Zeigen­den – eben­so wie zu Berührten. Im Som­mer 2020 geschah dies dem Autor bei ein­er Reise durch Frankre­ich. In Saint-Savin-sur-Gartempe gab es die roman­is­chen Fresken der Abteikirche zu ent­deck­en. Dies war ganz ana­log möglich durch Bege­hen und Schauen, aber auch in dig­i­taler Ver­mit­tlung per Tablet, wodurch einem Details nahege­bracht wur­den, die das dis­tanzierte Auge kaum wahrnehmen kon­nte. Nur wenige Fin­gerk­licks, und plöt­zlich lösten sich Fig­uren aus ihrem Bild­grund und vieles wurde deut­lich erkennbar, was zuvor aus der Ferne nur ahn­bar blieb. Die Szene, in der Joseph verkauft wird, verdeut­licht die Wichtigkeit der Hand­sprache.[3] Und endlich war die fol­gende Bemerkung Focil­lons bess­er zu ver­ste­hen:

Lange Zeit kan­nte die Rechenkun­st keine andere Formel, und auf diese Weise verkauften die Ismaeliten Joseph an die Diener des Pharao, wie es die roman­is­che Freske von Saint-Savin zeigt, auf der die Bered­samkeit der Hände außeror­dentlich sprechend ist. Durch sie wurde die Sprache mod­el­liert, die zuerst vom ganzen Kör­p­er erlebt und durch Tänze gemimt wor­den war.[4]

Diese Anschaulichkeit der Hand­sprache in den Fresken machte das dig­i­tale Werkzeug erst sicht­bar. Und die Hand hielt sich daran fest beim Erkun­den der Architek­tur und deren Aus­gestal­tung. In dieser Hin­sicht war hier in der elek­tro­n­is­chen Sehhil­fe ein Kom­ple­ment zu erfahren, wenn allein durch die äußeren Dimen­sio­nen die men­schlichen Sinne an ihre Gren­zen stießen.

In den roman­is­chen und gotis­chen Kirchen, die der Autor in Frankre­ich besuchte, erschloss sich allerd­ings auch ein­mal mehr die Bedeu­tung der leib­lichen Erfahrung. Wirk­lich fasslich wird nur, was man sich mit dem ganzen Kör­p­er zugänglich machen kann und im oszil­lieren­den Prozess zwis­chen kör­per­haftem Erleb­nis und reflek­tieren­der Ver­ar­beitung begreif­bar zu machen ver­sucht. Focil­lon for­muliert:

Um die Welt zu besitzen, braucht es eine Art von tak­tilem Spürsinn. […] Den Raum misst er [der Men­sch, H. E.] nicht mit den Augen, son­dern mit sein­er Hand und seinem Schritt. [5]

Darüber hin­aus ist der Aus­tausch mit einem men­schlichen Gegenüber eine willkommene Erweiterung dieses Selb­st­ge­spräch­es. Denn dadurch, dass wir unsere Erleb­nisse und Erfahrun­gen teilen, nehmen wir uns gegen­seit­ig an die Hand und führen uns auf anderen Wegen als den eige­nen.

Was sich hier auf das ganzheitliche Raumer­leb­nis bezieht, begin­nt aber schon im Kleinen: Die Hand des Bricoleurs[6]hat gewis­ser­maßen Augen, wenn sie in der Schublade nach den passenden Schrauben tastet. Das Auge sieht wohl und kann abschätzen, ob diese passen kön­nten, die Hand aber erfasst es gle­ich. Sie wird im kör­per­lichen Fassen und geisti­gen Erfassen, das sie dadurch ermöglicht, unge­heuer vie­len Funk­tio­nen gerecht.

Dig­i­tale Werkzeuge kön­nen ähn­lich mul­ti­funk­tion­al sein. Sie erweit­ern die Sinne und erhöhen deren Reich­weite. In Saint-Savin halfen sie, Dis­tanzen zu verkürzen und Kon­traste zu ver­stärken. Grundle­gende Erfahrun­gen wollen aber auch und ger­ade mit Kopf und Hand gemacht wer­den. Was geschieht nun, wenn das Kör­per­liche, stel­lvertreten hier im Organ „Hand“, durch räum­liche Tren­nung und dig­i­tale Über­mit­tlung ins Abseits gerückt wird?

Hände – hal­tet euch fest!

Im ersten Lock­down ab März 2020 bietet der Lehrer inner­halb ein­er Woche die erste Videokon­ferenz an. Für ihn ein völ­lig neues und unge­wohntes Medi­um, das er erst erkun­den muss. Die Maus in der Recht­en steuert das Lap­top, die linke Hand hält das Handy. Im Hin und Her lässt sich die Wirkung und der Ein­druck, der auf dem Bild­schirm des Gegenübers entste­ht mag, prüfen. Es kommt zu Rück­kop­plun­gen und Inter­feren­zen auf unter­schiedlichen Ebe­nen: Die akustis­che Welle ist am lautesten, aber auch optisch und gedanklich schaukelt sich etwas auf, sodass Hände und Fin­ger dem eilig ein Ende set­zen. Die Hand fühlt sich eingeengt bei der Arbeit mit den dig­i­tal­en Über­mit­tlern. Es fehlt ihr der Spiel­raum, in dem sie sich wie gewohnt frei bewe­gen kann. Nun ist sie reduziert auf ein Kör­perteil, das tippt und klickt. Sie spürt eine Fes­sel, bei der ungewiss ist, wie lange sie angelegt bleiben wird.

Es entste­ht der Gedanke, die zeitliche Dauer der Kon­tak­tsperre auch im dig­i­tal über­mit­tel­ten Bild anschaulich wer­den zu lassen. Die Hand reibt nach­den­klich das Kinn, der Bart begin­nt augen­blick­lich zu wach­sen. Mehrmals täglich prüft die Hand den Zuwachs. Der Lehrer freut sich auf den ersten visuellen Kon­takt: Schüler*innen schmun­zeln zunächst über das verän­derte Abbild des Lehrers. Manche fra­gen ungläu­big, ob er das wirk­lich machen werde. Dazu sind alle Beteiligten irri­tiert und amüsiert von dem unge­wohn­ten For­mat der Begeg­nung. Ein Klick, und ich bin dabei; ein weit­er­er, und alle sind weg. Meine Hand bringt plöt­zlich das lebendi­ge Bild meines Lehrers in mein Zim­mer, dieser schaut dann auch wirk­lich here­in. Was will ich meine Besuch­er sehen lassen? Ich kann Bild und Ton getren­nt aktivieren und deak­tivierten. Plöt­zlich wird der einzelne Fin­ger mächtig. Allerd­ings nimmt einem die Tech­nik auch vieles aus der Hand. Der Ton: manch­mal zer­stück­elt. Das Bild friert ein, reißt ganz ab. Es wirft mich aus dem Meet­ing hin­aus.

Nach der ersten Videokon­ferenz trifft der Lehrer die Mut­ter eines Schülers zufäl­lig. Sie berichtet ihm, ihr Sohn habe sich schon sehr gefreut, seinen Lehrer ein­fach nur zu sehen, und hätte so gerne auch länger mit ihm geplaud­ert, er habe sich aber nicht getraut. Das Bild kom­pen­siert offen­sichtlich das fehlende leib­liche Gegenüber bis zu einem gewis­sen Grad. Oder ist es nur ein Sub­sti­tut?

In vie­len Klicks und Tas­tat­u­ran­schlä­gen reduziert sich der Hand­kon­takt darauf, dass er Bild- und Tonkon­takt her­stellt, selb­st aber keinen inhaltlichen Stel­len­wert hat. Gibt die Hand Büch­er, Uten­silien und Anschau­ungs­ma­te­r­i­al in die Schul­tasche, erscheint vor dem inneren Auge plas­tisch die ein oder andere Schul­si­t­u­a­tion. Klickt der Fin­ger Dateien für eine Unter­richtsse­quenz in einen Ord­ner, bleibt die vor­weg­nehmende Vorstel­lung unbe­friedi­gend flach. Gle­ich­wohl sind die Hände fleißig und brin­gen sich die neuen Abläufe willig bei, um Kon­takt zu hal­ten.

Dig­i­tal erre­icht der Lehrer etwa ein Drit­tel sein­er Schüler*innen. Bei einem weit­eren Drit­tel ist der Kon­takt spo­radisch und beste­ht vor allem über Emails. Einige Schüler*innen tauchen völ­lig ab und Verbindung ist nicht möglich. Dage­gen gibt es keine Hand­habe.

Da die Klasse in diesem Jahr die Hauptschu­la­b­schlussprü­fung abgelegt hat, endet der Lock­down früher als bei vie­len anderen. Die erste Begeg­nung in der Schule: Wieder­se­hens­freude ist unter­legt mit einem nicht wirk­lich greif­baren Gefühl der Verun­sicherung. Neugi­er und Staunen über­wiegen. Der Lehrer sehe ja ganz anders aus, das habe man in der Videokon­ferenz gar nicht so gese­hen, lacht ein Schüler. Ein beachtlich­er Bart, gle­ich­wohl legt der Lehrer am sel­ben Nach­mit­tag Hand an ihn, zunächst elek­trisch, danach mit Nass­ra­sur – ein lange her­beige­sehntes Gefühl.

Im neuen Schul­jahr 2020/21 übt der Lehrer nach der Kon­so­li­dierung der neuen Klassen­si­t­u­a­tion (fast die Hälfte der Klasse sind neue Schüler*innen) gemein­sam den Umgang mit der Tech­nik der Videokon­ferenz zunächst in der Schule. Die Sit­u­a­tion erregt augen­blick­lich Heit­erkeit, mutet auch drol­lig an, weil die Simul­tane­ität von Videochat und kör­per­lich­er Präsenz zu belustigter Irri­ta­tion führt. Gle­ichzeit­ig entste­ht eine gewisse Verun­sicherung. Wir nehmen eine Sit­u­a­tion vor­weg, die sich nie­mand her­bei­wün­scht. Während der Übun­gen hal­ten die Schüler auf­fäl­lig engen Kon­takt. Fre­undin­nen hal­ten Händ­chen, Fre­unde berühren sich, gilt doch inner­halb der Klasse momen­tan keine Abstand­sregel. Es wird anschaulich und greif­bar, dass intu­itiv voraus­geah­nt wird, was vielle­icht bald ent­behrt wer­den muss. Am Nach­mit­tag tre­f­fen wir uns dann wirk­lich online. Alle, die kön­nen, schal­ten sich von zu Hause dazu. Im Falle von Fer­nun­ter­richt sind wir nun vor­bere­it­et und die tech­nis­chen Hür­den kön­nen so min­imiert und eingeschätzt wer­den. Man kann sich so schneller auf das Eigentliche konzen­tri­eren.

Sind uns dig­i­tal die Hände gebun­den, wird unser Winken zur Begrüßung und zum Abschied umso größer. Während die Hände beflis­sen auf Tas­tatur und Maus herumk­lick­en oder aber – noch unhan­dlich­er – sich mit Wis­chen beg­nü­gen müssen, stellt sich ein mehr und mehr nagen­des Hungerge­fühl nach analo­gem Kon­takt ein. In der Videokon­ferenz selb­st schrumpft viel Kör­per­lich­es weg. Die Hände begeben sich auf Abwege, es wird im Kopf zuge­hört und zuge­se­hen, während die Hände beiläu­fig etwas sortieren oder das Brot, die Tasse greifen. Sie, die uns son­st bei der Konzen­tra­tion, beim Her­stellen von Fasslichkeit stützen, ja zu leit­en ver­mö­gen, lenken nun auf ein­mal ab. Banale Ver­rich­tun­gen wie ein Kopfkratzen sind im dig­i­tal­en Bild­kon­takt auch optisch lauter als im analo­gen Miteinan­der, spie­len sich ger­adezu in den Vorder­grund und müssen ver­drängt wer­den, damit nichts ablenkt. Beim Sprechen begin­nen wir hin und wieder zu gestikulieren. Angesichts der eige­nen Kachel auf dem Mon­i­tor sehen wir, wie verge­blich dieses Unter­fan­gen anmutet, geben die Han­dar­beit auf. Danach gibt eine Hand gewis­ser­maßen als Trost der anderen Halt. Oder bei­de ver­suchen ihr Bedürf­nis nach Aktiv­ität und Teil­habe verge­blich in Über­sprung­shand­lun­gen zu befriedi­gen: sin­n­freies Rück­en von Gegen­stän­den, Kritzeleien.

Trotz allem kann man sich auch in der dig­i­tal­en Ver­mit­tlung berühren lassen durch Mimik und Gestik, die sich in ihrer Kraft zuweilen über­raschend deut­lich ver­mit­teln, es berührt aber vor allem das Gesagte. Manch­es Mal hat man das Gefühl, dass die dig­i­tale Dis­tanz auch dem einen oder der anderen die Hem­mungen nimmt, etwas beim Namen zu nen­nen. Dies spiegelt sich in der Notwendigkeit, Gesprächspart­ner gezielt anzus­prechen, ja aufzu­rufen, damit keine Über­lagerun­gen gle­ichzeit­iger Beiträge ein gegen­seit­iges Ver­ste­hen ver­hin­dern. Der Lehrer ist erle­ichtert, wenn er die Mod­er­a­toren­rolle und das Aufrufen abgeben kann. Wie erhol­sam sind doch Zuschauen und Zuhören. Ein Rück­zugsraum entste­ht auch, wenn man den Bild­schirm teilt. Zeigt man Bilder, eine Präsen­ta­tion oder ein Video, ste­ht man nicht mehr im Focus und kann hin­ter das Gezeigte zurück­treten. Die Unzufrieden­heit mit der dig­i­tal­en Plat­tform zeigt sich im laut­en Winken bei der Ver­ab­schiedung, wir wollen mit unseren Hän­den deut­lich Zeichen geben und freuen uns über unser Gegenüber, das dieses erwidert.

All­t­ags­begeg­nung

Die Schü­lerin, vor 5 Jahren aus der Schule ent­lassen, begeg­net dem ehe­ma­li­gen Lehrer, und bietet wie gewohnt freudig ihre Hand an. Der Lehrer nimmt entschuldigend nicht an und erin­nert an die Hygien­eregeln. Bei­de spüren ein Bedauern. Die Hände suchen Alter­na­tiv­en, dem einen legt sich die Rechte auf die Herzge­gend, der anderen fal­ten sich bei­de Hände vor der Brust. Die gewohn­ten Reflexe bedür­fen der Reflex­ion, um sich die fremde Sit­u­a­tion zu verge­gen­wär­ti­gen und sich den neuen Regeln anzu­passen. Hand- und Hautkon­takt sind nun plöt­zlich belastet mit einem nicht wahrnehm­baren Infek­tion­srisiko – reine Kopf­sache. Die sachte Berührung des bek­lei­de­ten Unter­armes oder der Schul­ter lin­dert und verdeut­licht eben­so wie der Fuß-Shake den Stel­len­wert des unmit­tel­baren Kon­tak­ts. Der ver­bre­it­ete Coro­n­a­gruß verän­dert den Blick auf die Ellen­bo­genge­sellschaft.

Uns fehlt der unmit­tel­bare Kon­takt. Genau dies ermöglicht das Nach­denken über dessen Stel­len­wert, Bedeu­tung und Funk­tion. Etwas nicht in der Hand zu haben, erzeugt ein Gefühl der Macht­losigkeit. Physis­che Nähe und Präsenz ent­fal­ten die Kraft und Fülle men­schlichen Denkens, Füh­lens und Han­delns. Hand­kon­takt ist dabei nur eine der Dimen­sio­nen des kör­per­lichen päd­a­gogis­chen Inter­agierens, in ihrem her­aus­ra­gen­den Stel­len­wert bei der non­ver­balen Kom­mu­nika­tion allerd­ings eine wesentliche. Ent­fällt dieser wichtige Fak­tor, braucht es Aus­gle­ich und Ersatz, der aber langfristig nicht wirk­lich zufrieden­stellen kann. Diese Man­gel­si­t­u­a­tion muss begren­zt wer­den, ein Ende muss abse­hbar sein, son­st lei­den wir Schaden. Im gemein­samen Arbeit­en daran wird dies für alle Beteiligten greif­bar. Beim Ver­lassen des Klassen­z­im­mers nach dem Pro­belauf für die Videokon­ferenz kommt der Gedanke: Wer­den wir uns mor­gen wieder hier begeg­nen dür­fen? Die Hand schließt die Tür.

Lit­er­atur

Focil­lon, Hen­ri: Lob der Hand. Göt­tin­gen 2017

Gar­nier, Antoine: Atlas roman. 2017, https://atlas-roman.blogspot.com/2017/08/saint-savin-eglise-abbatiale-saint-savin.html (Stand: 22.11.2020)

Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt/M. 1997

 


[1] kur­sive Textstellen nach Focil­lon: Lob der Hand

[2] Focil­lon: Lob der Hand, S. 10

[3] Gar­nier: Atlas roman

[4] Focil­lon: Lob der Hand, S. 14 f.

[5] Focil­lon: Lob der Hand, S. 13 f.

[6] Begriff nach Claude Lévi-Strauss‘ Charak­ter­isierung des Bastlers in „Das wilde Denken“

 

 

Hol­ger Erbach, Jahrgang 1964, Kun­st­glaser, Studi­um des Lehramts an Grund- und Hauptschulen an der Päd­a­gogis­chen Hochschule Karl­sruhe. Seit­dem im Schul­dienst an Grund- und Werkre­alschulen. Im Jahr 2010 Pro­mo­tion zum Dr. phil. an der PH Karl­sruhe zum The­ma »Die Werk­statt als Ler­nort«. Aktuell Lehrer an der Ober­wald­schule Karl­sruhe, Lehrbeauf­tragter an der Staatlichen Akademie der Bilden­den Kün­ste Karl­sruhe und der Päd­a­gogis­chen Hochschule Hei­del­berg.

  • 24. Mai 202126. Mai 2021
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