Spürendes In-Kontakt-Treten: taktil-kinästhetische Handfertigkeiten
„Nur durch Erstaunung werd ich meiner inne.“
Franz Werfel, 1943
Entgegen der Betrachtung von Handfertigkeiten in ihrem konkreten Beitrag zum Formen und Herstellen ästhetischer Gegenstände als Ergebnisse künstlerischer Lernprozesse möchte ich den Fokus auf Prozesse intuitiver taktil-kinästhetischer Annäherungsbewegungen lenken, die bereits einsetzen, bevor eine direkte Kontaktaufnahme mit dem Gegenstand selbst geschieht. Neben unzähligen ‚verinnerlichten‘, fast unbemerkt im ‚Hintergrund‘ vollzogenen Handbewegungen beispielsweise des Greifens oder Öffnens, die wir ausführen, um ein Handlungsziel zu erreichen, greife ich Handfertigkeiten auf, die der konkreten Berührung der Hände bzw. der Finger mit Materialien vorausgehen, um die Relevanz intuitiven Tastens als Teil des Wahrnehmungsprozesses herauszustellen.
Im Zentrum sowohl meiner künstlerischen als auch der wissenschaftlichen Arbeit steht die Erforschung der Tastsinnesvermögens und des spürenden Erlebens. Mit der Fokusverschiebung auf Bereiche vor der erkennenden Wahrnehmung, auf das prozessuale präreflexive und präverbale Empfindungs- und Bewegungsgeschehen in seiner Genese, lassen sich über die Erfassung vielfach unbemerkter Dynamiken deren Relevanz für den Wissenserwerb herausstellen. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger pandemiebedingter Kontaktbeschränkungen gewinnt mein Forschungsschwerpunkt des Taktil-Kinästhetischen und das nachfolgend beschriebene Modell erstaunensgeleiteter haptischer Forschung besondere Aktualität. Das Selbst stets im Verbund mit Anderen und eingebettet als Teil der Umgebungswelt zu begreifen, lässt das Ausmaß der (Rück-)Wirkungen in Zeiten der Abwesenheit physischer körperleiblicher Nähe erahnen.
Abb. 1–2 Ausstellung Funny Feeling. Hühnerhaus, Hamburg 2018. Der Essay Taktiles Wissen (Mark 2012) wurde in Form einer einzigen, fortlaufenden Zeile auf ein etwa 60 Meter langes textiles Textband gedruckt und lädt zum bewegten Lesen entlang der Installation ein.
Herausbildung einer taktil-performativen und mikro-phänomenologischen Forschungspraxis
Kontaktaufnahme und vorausgehende Entscheidungsfindungsprozesse sind Ausgangspunkte meiner prozessorientierten Studie zur Untersuchung des Einflusses haptischer Impulse auf unser Empfindungs- und Wahrnehmungsgeschehen, deren Verlauf ich im Folgenden skizzieren werde. Aus dieser ist eine taktil-performative und mikro-phänomenologische Forschungspraxis hervorgegangen, in welcher gespürtes, spürbar verankertes Wissen zur Sprache gebracht und in Wissenserwerbsprozesse einbezogen werden kann.
Die Studie setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Nach der Adaptierung der Methode in eine deutschsprachige Fassung finden etwa einstündige mikro-phänomenologische Interviews mit Studierenden des Instituts für Ästhetisch-Kulturelle Bildung an der Europa-Universität Flensburg statt, in deren Mittelpunkt die Kontaktaufnahme mit einem zunächst nicht sichtbaren, innerhalb eines Beutels verborgenen Gegenstandes steht. Zur Erschließung der Wechselwirkungen impliziten Wissens in den Hintergrundebenen wird die Bewegungserfahrung gewählt. Mit der Fokusverschiebung auf die vorstrukturelle Ebene der in den Hintergrund getretenen, mitlaufenden Bewegungen lassen sich die multimodalen Verflechtungen in Wahrnehmungs- und Denkprozessen genauer betrachten sowie Bezüge zwischen (Selbst-)Bewegung und Denken auf mehreren Ebenen erfassen und in Beziehung setzen.
In der vordergründig einfachen Aufgabenstellung („Nehmen Sie Kontakt auf mit dem Gegenstand im Beutel. Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie möchten. Wenn Sie soweit sind, geben Sie mir ein Zeichen.“) wird durch die gezielte Platzierung möglicher Widersprüche eine hochkomplexe Ausgangssituation provoziert. Nach dem Umsetzen der Aufgabe und dem entsprechenden Signalisieren durch ein Zeichen folgt der zweite Teil der Aufgabenstellung („Geben Sie so genau wie möglich wieder, was ab dem Moment, wo ich Ihnen die Aufgabe gestellt habe bis zum Moment, wo Sie mir das Zeichen gaben, geschah.“), an den sich das ausführliche mikro-phänomenologisch strukturierte Gespräch anschließt, das – im Nachvollzug der darüber in Gang gesetzten vielschichtigen Prozesse – Aufschluss über die Struktur beteiligter Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungs-findungsprozesse gibt. Über die stets erforderliche Wiedervergegenwärtigung der Erfahrung finden außerdem Fragen zur Aktualisierung von Gedächtnis- und Erinnerungsprozessen Berücksichtigung.
Bei den Beteiligten variiert die Annäherung an die Aufgabenstellung und deren Umsetzung sehr. Das Spektrum reicht von rein tastenden Untersuchungen über verschiedene Kombinationen von Tasten und Sehen bis zur ausschließlich visuellen Kontaktaufnahme mit dem Gegenstand. Meist wird eine Kombination aus Tasten und Sehen bevorzugt; zwei Befragte beziehen das Riechen ein. Allen gemeinsam ist der Rückgriff auf visuelle Wahrnehmungseindrücke, denen eine leitende Funktion in der Kontaktaufnahme beigemessen wird. Außerdem wird das ‚Kontaktaufnehmen‘ häufig an das Erkennen des Gegenstandes gekoppelt.
Im zweiten Teil der Studie führen die Studierenden entsprechend der mikro-phänomenologischen Methode Selbstbefragungen durch, in der jede Teilnehmerin die mitwahrgenommenen Eindrücke in der Wiedervergegenwärtigung einer Erinnerungs-erfahrung mit einem Gegenstand ihrer Wahl schriftlich zusammenfasst.
Der Einbezug spürbaren Erlebens in Wahrnehmungsprozesse setzt voraus, das gespürtes Wissen versprachlicht werden kann. Um Prozesse unseres vielschichtigen Erlebens artikulieren zu können, greife ich auf die mikro-phänomenologischem Methode zurück, die ich im Folgenden vorstellen werde.[1]
Die mikro-phänomenologische Methode
Beruhend auf der Annahme der Erlebensganzheit (Klages 1934) und der Mitgegebenheit des gesamten Wahrnehmungsfeldes (Husserl 1966) eröffnet diese Gesprächs- und Selbstreflexionstechnik der französischen Philosophin Claire Petitmengin (2006) Zugang zu Bereichen der Wahrnehmung, die uns bislang verschlossen schienen.
Das mikro-phänomenologische Gespräch ist nicht mit einem üblichen Dialog vergleichbar, in dem fragend und antwortend, im Austausch aufeinander eingegangen wird. Vielmehr ähnelt es einem ‚begleiteten Selbstdialog‘ und einer selbstreflexiven Anleitung zum Lauschen auf eigenes gedankliches und spürbar wahrnehmbares Geschehen.
In der Regel zunächst unbemerkte, im Bereich unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle ablaufende Erfahrungsanteile, können in ihrem Entstehungsprozess präzise nachvollziehbar und darüber präreflexive und präverbale Ebenen der Wahrnehmung einer Versprachlichung zugänglich gemacht werden. Da wir uns des Fehlens dieser Erfahrung nicht bewusst sind, ist bereits der erste Schritt, die Aufmerksamkeit auf bislang unbemerkte Anteile der Erfahrung zu lenken, eine Herausforderung.
Im Zentrum der Technik steht die Evokation, die Wiedervergegenwärtigung eines vergangenen Erlebnisses. Da Wahrnehmungen immer bereits vergangen sind, sind stets auch Erinnerungsprozesse involviert. Aus der eigenen Sicht auf das Geschehen (Erste-Person-Perspektive) wird über die Fokussierung eines einzelnen Erfahrungsmoments eine kleinschrittige Entfaltung der innewohnenden Dynamik und inhärenter Strukturen möglich. Dazu werden nach der erneuten Evokation einer sinnlich verankerten Erfahrung die unzähligen mitwahrgenommenen, jedoch in den Hintergrund getretenen Anteile des Erlebten durch eine wiederholende Fragestruktur (in wertungsfreien Reformulierungen des Gehörten und ergänzenden Fragen) erschlossen, um in mehrfachen Wiederholungsschleifen dem Prozess des Entstehens gedanklicher als auch intuitiver taktil-kinästhetischer Impulse auf die Spur zu kommen. Vergleichbar mit dem Betrachten eines Ausschnitts unserer Wahrnehmung mit einer Lupe können wir diesen vergrößert anschauen, ohne dabei ein Gewahren des Gesamtkontextes auszuklammern.
Im Vollzug der Annäherungsbewegung wenden wir uns diesem Ausschnitt zu, ohne uns dabei in den zweifellos sehr interessanten inhaltlichen Details zu verlieren. Indem der Fokus auf die strukturellen Rahmungen und prozesshaften Vollzüge innerhalb des Geschehens gelenkt wird, schließen sich sowohl Annäherung als auch reflexives Innehalten nicht aus. Im Verweilen in der (stets erneut aktualisierten) Wiedervergegenwärtigung einer vergangenen Erfahrung, lassen sich somit Hintergrundebenen der Erfahrungsgenese erschließen. Vorreflexive Anteile des Erlebten werden zugänglich und mitteilbar (vgl. Close Talking, Schoeller 2019).
Der Einbezug des gespürten Hintergrundempfindens zeichnet sich durch eine eigene Spezifität aus, die paradox anmutender Weise als sowohl von undeutlicher Vagheit als auch großer unverwechselbarer Präzision geprägt ist (vgl. Petitmengin 2016). Als weiteres Charakteristikum hebt Petitmengin die Transmodalität hervor, unter der sie eine spezifische sensorische Modalität versteht, die nicht auf ein Sinnessystem beschränkt ist, sondern transversal in verschiedenen Sinnesvermögen auftritt. Dazu zählen Intensität, Form und die zeiträumliche Dimension des Rhythmus´ (Ebd.).
Die Technik kann von jedem und jeder erlernt werden und bereits nach einer ersten Interviewerfahrung ist auch die Umsetzung in Form einer Selbstbefragung möglich.
Tastempfinden und Tastsinneserfahrung
Zur Erschließung der Wechselwirkungen impliziten Wissens in den Hintergrundebenen wurden das taktil-kinästhetische Sinnesvermögen und die unmittelbar an Bewegung geknüpfte Tastsinneserfahrung als Bezugsgröße gewählt, da erforderliche Bewegungen und Handgriffe zur Umsetzung der Aufgabenstellung von jeder und jedem individuell ausgeführt werden. Damit steht uns das eigene körperleibliche Erleben als Referenz zur Erschließung von Wahrnehmungsmustern zur Verfügung und kann letztlich entsprechend verankert werden.
Zurückgreifend auf Erwin Straus‘ Theorie der Erlebenseinheit eines empfindend sich-bewegenden Menschen (Straus 1935) lässt sich die Verwobenheit von Eindrücken aus Sinnesvermögen, körperleiblicher Erfahrung und korrelierenden Bewegungsweisen in einem ausdifferenzierten Spektrum von empfindendem Erleben bis zu wahrnehmendem Erkennen veranschaulichen.[2] Als Impulse im Prozess dynamischer Einheit hebt Straus die Bewegung, präziser gesagt das Sich-Bewegen im Annähern und Abstandnehmen, im Einigen und Trennen, Folgen und Fliehen heraus. Das Erleben dynamischer Einheit ist als fortlaufender Kreisprozess zu verstehen, in welchem sich aus dem Erleben des Unvollständigseins, über den Umweg des Empfindens des Unfertigen und des Strebens nach Ganzheit, der Anstoß zur Veränderung generiert. Damit ist dem Selbst das Erleben von Fremdheit inhärent und dynamischer Wandel nicht ohne Fremdheit möglich.
Auf der Vorstufe des wahrnehmenden Erkennens setzt im Primären Ausdruckserfassen die Bewegung auf das Erkennen hin bereits ein, ist jedoch noch völlig dem, im taktilen Sinne verstandenen, Erfassen verhaftet. Denn auf der Ebene des Ausdruckserfassens reagieren wir, „ohne daß wir wissen, worauf wir reagieren, ja man könnte besser sagen, ohne zu wissen, daß wir reagieren.“ (Straus 1935, 121) Straus betont, dass wir uns über Tasteindrücke eine sprachlose, zeichenlose Welt erschließen, „deren tausendfältige Nuancen selbstverständlich sind und von jedem verstanden werden, ohne daß er sie zu lernen brauchte“ (Ebd., 302). Die besondere Herausforderung stelle jedoch das Zur-Sprache-Bringen des Getasteten und Gespürten dar.
Vom Experimentalpsychologen David Katz wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bewegung als schöpferische mitgestaltende Kraft im Tastsinn identifiziert (vgl. Katz 1925). Mit neuen ausgeklügelten Versuchsanordnungen gelingt es Katz in seinen Studien über den Einbezug der aktiven Bewegungskomponente in die Tastuntersuchungen erstmals den Variationsreichtum des Tastsinns – Katz spricht von Polymorphie – auszudifferenzieren.
Über die Bewegung wird das Spektrum zudem um das Empfinden von Reibungswiderstand und Elastizität erweitert. Biegsamkeit und Nachgiebigkeit eines Materials lassen sich nur dynamisch, mehrdimensional erfassen und können nicht wie Härte, Weichheit, Rauheit oder Glätte punktuell statisch erspürt werden. Nur aufgrund vorausgegangener gespürter taktil-kinästhetischer Wahrnehmungserfahrungen können wir Elastizität optisch erfassen, sodass Katz den Eindruck des Elastischen in seiner Sonderstellung als „Primat des Taktil-kinästhetischen vor dem Visuellen“ (Katz 1925, 67) hervorhebt.
Durch seine damals bahnbrechende Entdeckung des Vibrationsempfindens lassen sich Ebenen der taktil-kinästhetischen Hintergrundwahrnehmung erschließen, die als solche im Wahrnehmungsgeschehen zurücktreten. Beispielsweise erfassen wir bereits beim Betreten einer Leitersprosse oder einer Treppenstufe über mitwahrgenommene Vibrationen deren Materialität, ziehen Rückschlüsse auf Beschaffenheit von Gegenständen und passen uns unmittelbar an Veränderungen der Situation an.
Schließlich weist Katz auf Tastvorstellungen hin, die ergänzend zur Tastempfindung als Vorstellungsbild zum Ertasteten hinzutreten. Aufgrund des taktilen Formerkennens erkennen wir in sog. Gedächtnistastungen Dinge, die wir früher getastet haben, beim erneuten Spüren wieder. Mit diesen gehen entsprechende mehr oder weniger deutliche visuelle Tastvorstellungsbilder einher (Ebd., 44).[3] Zudem verweist Katz auf einen insgesamt rudimentären Wortschatz zur sprachlichen Fassung des Tastgeschehens, an dem sich bis heute wenig geändert hat.
Mit der Fokusverlagerung auf die in den Hintergrund getretenen, mitlaufenden Bewegungen, von denen wir bewusst kaum mehr Notiz nehmen, können über die Evokation eines sinnlich verankerten singulären Erfahrungsmoments multimodale Verflechtungen sowie Bezüge zwischen (Selbst-)Bewegung und Denken mehrdimensional erfasst und in Beziehung gesetzt werden. Unter Rückgriff auf Palagyis (1925) und Gehlens (1940) Konzepten virtueller Bewegungsphantasien als Grundphänomen und Voraussetzung zum antizipierenden Dialog mit Gegenständen, Anderen und der Umgebung, lassen sich die dem Wahrnehmungsgeschehen inhärenten spürbaren Bewegungsdynamiken in den Vorstellungsbildern aus der Eigen-Perspektive zur Sprache bringen und deren Relationen zu tatsächlich ausgeführten Bewegungen erfassen.
Im gegenwärtigen Feld der Tastwahrnehmung finden sich keine einheitlichen Definitionen. Registrieren wir ohne eigenes aktives Zutun eine von ‚außen‘ eintreffende Berührung oder berühren wir punktuell Oberflächen ohne weitere Tastbewegungen durchzuführen, wird dies in der Regel als taktile Wahrnehmung definiert. Der Schwellenwert der Wahrnehmung bei taktiler Berührung mit den Fingerspitzen liegt etwa bei einem Millimeter. Martin Grunwald, Leiter des Leipziger Haptiklabors und führender internationaler Experte, hebt dagegen eine 1000-fach höhere Empfindlichkeit des an aktive Tastbewegungen gekoppelten haptischen Systems heraus bei dem der Schwellenwert bei lediglich einem Mikrometer besteht, was uns beispielsweise die Suche nach der Abrissstelle auf einer Kleberolle erleichtert (vgl. Grunwald 2012).
Grunwald hebt insbesondere die Sonderstellung von Selbstberührungen heraus. In Studien hat er festgestellt, dass wir tagtäglich hundertfach, etwa vierhundert bis achthundertmal, mit den Fingern oder den Händen unbemerkt unser Gesicht und andere Körperteile berühren (vgl. Grunwald 2012, 117f). Gesichtsberührungen sind die häufigste, meist unbemerkte Form der Selbstberührung und dienen der Konzentration und Aufrechterhaltung des Wohlbefindens – mit entsprechenden Folgen, wenn aus aktuellem Anlass die Empfehlung lautet, diese zu vermeiden.
In Diskussionen zum Erhalt von Handfertigkeiten sei ergänzend auf das fortgesetzte Bemühen der norwegischen Literatur- und Medienwissenschaftlerin Anne Mangen um einen interdisziplinären Zugang zur Erschließung der Komplexität haptischer Erfahrungen verwiesen, die sie insbesondere unter dem Aspekt des handschriftlichen Schreibens sowie des Lesevermögens untersucht (vgl. Mangen 2016).
Als Ergebnisse ihrer Studien zu Einflüssen digitaler Technologien auf das Lesen und Schreiben unter multisensorischen, körperbezogenen Gesichtspunkten betont sie das Potenzial des Schreibens mit der Hand, über das fundamentale Verknüpfungen in den reizverarbeitenden Zentren im Gehirn angelegt werden, welche durch Tippen auf einer Tastatur unerreichbar bleibe (vgl. Mangen 2008, 2016). Wird der Schriftspracherwerb mit der Hand reduziert, werden ausdifferenzierte Handgelenks- und Fingerbewegungen sowie deren Koordination nicht mehr ausreichend erlernt, auf die nachfolgende Prozesse im Wissenserwerb aufbauen. Mangen verweist auf Studien von Sandra Sülzenbrück und Kollegen (2011), die betonen, dass „lack of practice with handwriting may have the long-term effect of a loss or deterioration of other fine-motor skills.“ (Mangen 2016, 468).
Resultate der Zusammenarbeit mit dem französischen Kognitionswissenschaftler Jean-Luc Velay heben die nachhaltigen Auswirkungen des Schreibens mit der Hand auf Erinnerungsprozesse hervor (Velay/Longcamp 2007). In funktionellen Kernspin-Aufnahmen wurde bestätigt, dass die sensomotorischen Reize beim handschriftlichen Schreiben eine Art motorischer Erinnerungsspur hinterlassen, wodurch die Erinnerung an das Geschriebene zu einem späteren Zeitpunkt leichter abgerufen werden kann.[4]
Weitere Untersuchungen Velays und Longcamps zeigen, dass motorische Bewegungen das Erinnern an Buchstabenformen grundsätzlich erleichtern. Die Vorteile des Schreibtrainings gelten für Kinder und Erwachsene. „Wenn unsere Hand einen Stift führt, wird offensichtlich der entsprechende motorische Befehl in bestimmten Teilen der Großhirnrinde gespeichert. Die sensomotorischen Erinnerungen unterstützen das rein visuelle Wiedererkennen.” (Velay/Longcamp 2007, 16). Buchstaben können demnach auch umgekehrt über die „kinästhetische Bewegungsabfolgen” (Ebd.) der jeweils beteiligten Finger wiedererkannt werden.
Übereinstimmende Ergebnisse finden sich auch in Studien zweier amerikanischer Wissenschaftlerinnen, Karin Harman James und Virginia Berninger, die betonen, dass Kinder mehr und schneller von Hand schrieben und deutlich mehr Ideen entwickelten als Kinder, die das Schreiben auf der Tastatur erlernten (vgl. Bounds 2010). Die Effektivität des Schreibens mit der Hand wird bereits in die Therapie bei schwindenden Gedächtnisleistungen ins Gespräch gebracht (Ebd.).
Nach diesem Exkurs zur Handschrift komme ich zurück zu meiner eigenen Forschung zum Stellenwert taktil-kinästhetischer Handfertigkeiten für den Wissenserwerb.[5] Bevor ich ausschnittweise die Ergebnisse vorstelle, werde ich zunächst auf das Zeichnen als Instrument künstlerischer Forschung eingehen, um ‚am eigenen Leib‘ erfahrene und vollzogene intuitive Prozesse in ihrer dynamischen Wechselwirkung bestimmen zu können.[6]
Abb. 3 Selbstbewegung. Zeichnung. 2018 Elke Mark
Zeichnen als Instrument künstlerischer Forschung
Zur Untersuchung sprachlicher Aussagen, die ein raumzeitliches Geschehen beschreiben, bietet sich das Zeichnerische als Instrument zur Erfassung beteiligter Faktoren an, da es vielfältige, u. a. visuelle und taktil-kinästhetischen Zugänge vereint und ihm transmodale Qualitäten innewohnen. Ausgehend vom Bewegungsakt des Zeichnens, in dem sich wiederum die Handfertigkeiten des Haltens und Bewegens eines Stiftes im Hintergrundgeschehen vollziehen, lassen sich vom einfachen Kritzeln bis zur präzisen Abbildung Spannungsveränderungen verfolgen, bis sich Variationen oder Alternativverläufe sichtbar abzeichnen (Abb. 3).
Aus Zeichnungen zur Erfassung der Bewegungsdynamiken in den Hintergrundebenen hat sich ein zykloides Bewegungsmodell entwickelt, das in etwa dem Bild einer in Bewegung geratenen Kugel entspricht (Abb. 4). Darüber hinaus wurde das Zeichnen zur Auswertung des Datenmaterials eingesetzt.
Abb. 4 Zykloides Bewegungsmodell. Zeichnung. 2018 Elke Mark
Auswertung der Studie
Zur schrittweisen Rekonstruktion der zeitlichen, diachronischen Abfolge der Eindrücke auf Vorstellungs- und Handlungsebene wurde ein Raster entwickelt, das erlaubt, sukzessiv die Schichtungen und Überlagerungen während des Interviewverlaufs visuell zu erfassen. Mit ersten großformatigen Zeichnungen (etwa DIN-A0) wurden die diachronischen Interviewverläufe in Form eines Mehrebenen-Notationssystems in eine übersichtliche Abfolge gebracht und aufgefächert.
In der Auswertung der Interviews fiel auf, dass im fünften Interview erstmals Beschreibungen auftreten, die sich bereits unmittelbar im Moment des Hörens der Aufgabenstellung einstellten, bevor diese überhaupt zu Ende formuliert war und bevor die Laptoptasche auf den Tisch gelegt wurde (Abb. 5).
Abb. 5 Fall 5_Interview Elisa_Mehrebenendarstellung. Zeichnung. 2018 Elke Mark
Elisa beginnt sich bereits beim Hören der Aufgabenstellung auf mögliche, zu erwartende Tasteindrücke einzustellen und spielt ein Raster von Gefühlseindrücken durch, „dass sie sich picksen oder dass es glibberig werden könnte“. Bildhaft hat sie bei ‚spitz‘ ein dreidimensionales Vorstellungsbild von zwei überkreuzt liegende dickere Holzstricknadeln (Stärke 4–5) vor Augen, die sich aus einer Entfernung von einigen Metern auf sie zu bewegen und etwa 20 bis 30 Zentimeter vor dem Gesicht auf Augenhöhe zum Stillstand kommen.
Im Fall 7 wird von Fiona am Schluss des Gesprächs die auditive Wahrnehmung von ‚Klimper‘-Geräuschen beim Bewegen und Ablegen der Tasche auf dem Tisch direkt nach dem Hören der Aufgabenstellung erinnert. Dabei hat sie kurzzeitig ein farbiges, dreidimensionales Bild von drei Bauklötzen vor ihrem ‚inneren Auge’, wobei „der eine, der so´n bisschen rechteckig ist, der ist eher so dunkelbraun, der andere ist blau, der runde, und auch einer im Hintergrund, aber da weiß ich nicht genau, wie der aussah“.
Zur Visualisierung taktil-kinästhetischer Handlungsabfolgen und den zeitgleich ablaufenden Wahrnehmungseindrücken auf der Vorstellungsebene entstand ergänzend das subtile Darstellungsmodell, in welchem mittig der real ausgeführte Handlungsstrang (‚Korpus‘) ergänzt um die parallelen Abläufe in den Hintergrundebenen (‚Flügel‘) sichtbar wird (Abb. 6).
Abb. 6 Fall 8_Interview Hannah_subtile Darstellung. Zeichnung. 2018 Elke Mark
Als weitere taktil-kinästhetische Eindrücke auf der Vorstellungsebene lassen sich die auch bei Isabell bereits während des Hörens der Aufgabenstellung auftauchenden wechselnden Vorstellungsbilder eines „frei in der Luft hängenden Beutels“ ergänzen, der sich je nach vorgestelltem Gewicht des Inhalts vor ihrem ‚inneren Auge’ verändert: „Beim Gewicht von einem Liter Milch werden die Henkel straffer und der Beutel beult sich aus“ (Abb. 7).
Abb. 7 Fall 9_Interview Isabell_Mehrebenendarstellung. Zeichnung. 2018 Elke Mark
Im Fall 2 erwähnt Bente, während sie durch den Stoff des Beutels den Gegenstand ertastet, das Auftauchen eines Vorstellungsbilds einer Giraffe, dass das zuvor vermutete aber aufgrund der Proportionen verworfene fotografische Vorstellungsbild eines ‚Schleichtierponys‘ ablöst.
„Aber diesmal wirklich wie aus so ´nem Dokumentarfilm, so ´ne Giraffe, die in der Savanne vor ´nem Baum steht. Es war jetzt nicht irgendwie ein Riesenbild, wo ich das Gefühl hatte, ich muss jetzt den Kopf rauf und runter bewegen, um die ganze Giraffe sehen zu können, sondern so ein Stück vor mir, dass ich mit einem Blick das Ganze überblicken konnte“.
In dieser Beschreibung der Größenrelationen ist das Kopf-in-den-Nacken-legen als implizite taktil-kinästhetische Komponente erwähnenswert, die auch in anderen Interviews beispielsweise in Kopfdrehungen zum Blicken aus dem Fenster oder dem Heben der Füße, um über am Boden liegendes Spielzeug zu steigen, wiederkehrt.
In den Selbstbefragungen der Studierenden tritt die ‚reale‘ Handlungsebene zurück, da die Wiedervergegenwärtigung eines besonderen Moments mit einem selbstgewählten Gegenstand im Vordergrund steht. Auf ausgeführte Bewegungs- und Handlungsfolgen wird dort in Vorstellungsbildern erinnernd Bezug genommen (Abb. 8).
Abb. 8 Fall 9_Selbstbefragung Isabell_subtile Darstellung. Zeichnung. 2018 Elke Mark
Auswertung der Studie
Aus der Verschränkung von taktil-kinästhetischen Vollzugsakten und dynamischen Wirkkräften, die als Hauptkategorien der Arbeit identifiziert wurden, ließ sich spürbares Erleben präzise bestimmen und die aus deren Zusammenspiel hervorgehenden unauffälligen kleinen Gesten intuitiven Tastens trotz ihrer Unscheinbarkeit als signifikant für den Verlauf des Wahrnehmungsprozesses herausstellen.
Tast- und taktil-kinästhetische Bewegungs- und Vollzugsakte
In der Untersuchung wurden taktil-kinästhetische Aspekte als zentrale, jedoch zunächst ‚beiläufige’, unbedeutend erscheinende Bestandteile in das Ausgangssetting integriert. Diese im Aufmerksamkeitshintergrund ablaufenden Faktoren sind jedoch für die Umsetzung der Aufgabenstellung unentbehrlich und von vornherein an den Rückgriff auf taktil-kinästhetisches Wissen gekoppelt.
Abb. 9 Ineinandergreifen beteiligter Ebenen am Beispiel taktil-kinästhetischer Wahrnehmung des Beutels
Es lassen sich drei Phasen voneinander abgrenzen. Zur Vorbereitungs- oder Einstimmungsphase zählt das weitgehend unbeachtete Öffnen des Reißverschlusses der Tasche. Der zweiten Phase der indirekten Erfassung im Greifen und Durchtasten des darin befindlichen Stoffbeutels folgt das direkte Berühren des Gegenstandes (Abb. 9).
Von allen Studierenden werden sowohl real erfahrene als auch auf der Vorstellungsebene sich abspielende taktil-kinästhetische Eindrücke geschildert. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf Darias Selbstbeschreibung verwiesen, in der sie die Erfahrung der Wahl des passenden Anhängers für eine Kette beschreibt, die ihre Freundin Bridgit als Geschenk für sie anfertigt. Darin hält sie den Ablauf der Denkprozesse bis zur Entscheidungsfindung fest, die sich parallel zum Drehen des Steins zwischen den Fingern einstellen. Neben der Betonung des unterstützenden Faktors der Atmung stellt die die beruhigende Kraft des Tastens und des ‚In-der-Hand-Haltens‘ eines Gegenstands als wesentliche Entscheidungshilfe heraus.
Erlebensqualitäten und dynamisierende Wirkkräfte
Als zentrale Erlebensqualitäten und dynamisierende Wirkkräfte des Gewahrens und spürenden Erlebens werden Anziehungskraft und Neugier, Absichtslosigkeit und Befremdung ermittelt.
Entlang des als Kernkategorie identifizierten Staunens lässt sich mitverfolgen, wie sich der Denkprozess unter Einbezug von Tasterinnerungen formt, indem intuitiv einsetzende, sich aus mehrdimensionalem Erleben generierende taktil-kinästhetische Bewegungsabläufe Dynamiken anstoßen und diese wiederum Bewegungen in Gang setzen bis der Staunensprozess in aktualisiertes Wissen übergeht. Zugang zur Dynamik des Bogens vom Tasten zur Erkenntnisgewinnung – vom Greifen über das Staunen zum Begreifen – eröffnet sich, wenn ausgehend vom mittleren Glied dieses Dreischritts, dem Erleben des Staunens, die relationale Dynamik mehrdimensional aufgefächert erfassbar wird. Dieses Zwischenglied ist als Voraussetzung für Erkenntnisprozesse unentbehrlich.
Voraussetzung für die Erfahrung des Staunens ist das Erleben von Unstimmigkeit, abweichender, unbekannter, befremdlicher Momente, die bestehende Gewissheiten ins Wanken bringen. Wird unsere Aufmerksamkeit plötzlich und unerwartet von etwas Un- oder Außergewöhnlichem gefesselt, wird unsere Neugierde geweckt. Nur etwas Unerwartetes kann uns überraschen, dass sich im Spüren einer „Elektrisierung der Sinne“ (Bianchi 2019, 48) oder einem „emotionalen Ergriffensein“ (Ebd.) manifestiert. Käte Meyer-Drawe hält fest:
„Ergriffen zu sein, meint nicht individuelle Betroffenheit, sondern dass etwas am Selbst-, Welt- und Fremdverständnis rüttelt und dass Gewohnheiten des Denkens und Wahrnehmens aus den Fugen geraten.“ (Meyer-Drawe 2008,12).
Abb. 10 Detail aus der Videoaufzeichnung der mikro-phänomenologischen Vorstudie Smell, 2019
Zur Verdeutlichung soll an dieser Stelle die mikro-phänomenologische Vorstudie ‚Smell‘ mit Interviews zur Geruchswahrnehmung erwähnt werden, in der die Kombination von Hintergrundtasterfahrung und Dynamisierung durch Staunen aufgegriffen wurde. Diese fand im Rahmen des internationalen Augmented Attention Labs im Juni 2019 in Bratislava statt.[7]
Den Interviewpartner*innen wird ein etwa zwei Zentimeter großes verschlossenes Glasfläschchen mit einer Duftessenz überreicht (Abb. 10). Dies ermöglicht, bereits sowohl den Prozess des Entgegennehmens als auch des Öffnens des Flakons, der eine wechselnde Kraftdosierung und Koordination beider Hände erfordert, in die anschließende Befragung einzubeziehen (Abb. 11–14).
Abb. 11–14 Ausschnitte aus der Audioaufnahme von Lindsey (links): “You offered me the jar and I picked it up with my right hand. I remember feeling the weight of it and the texture of it. I was trying to open it. The lid was pretty tight and I had to go back and apply more pressure. Then I brought the jar up to my nose and the first breath was a little softer and I was immediately kind of struck.”
Da der Fokus bereits auf das bevorstehende Riechen ausgerichtet ist, erfolgen die erforderlichen automatisierten Handbewegungen und Handgriffe zum Öffnen des Flakons ohne große Beachtung. Da diese Handlungen jedoch Teil der zunächst noch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle ablaufenden Wahrnehmungsprozesse sind, werden im anschließenden Gespräch zunächst diese beiläufigen, vorbereitenden Handbewegungen aufgegriffen und zur Verwunderung der Befragten bis ins Detail besprochen. Dieses Eingehen auf die taktil-kinästhetischen Komponenten in den Hintergrundebenen wird jedoch erst im Nachhinein als Präparations- und Einstimmungsphase verständlich, da über das nachspürende Beschreiben der Handgriffe eine Vertiefung des Evokationszustands erreicht wird. Die Fragen zur Erfahrung des Riechens können daran anschließend wesentlich präziser erfasst und ausdifferenziert beschrieben werden.
Abb. 15–17 Ausschnitte aus der Audioaufnahme von Lindsey: “I had an instant sense of colour, and I had an instant vision of what this was, of an abstract shape, texture … The image … let´s see … I think when I smelled it I first imagined it kind of in my nostrils, kind of filling that space and then it kind of felt like it went, the image itself, kind of went straight to my, like more up here (see Figure 4), like way in my head, maybe like right behind my vision. I have the feeling … like my eyebrow is going up and my head going back (see Figure 5), almost as there was this kind of force, maybe my eyes opened wider or at least the feeling of that. It felt like that air that had these qualities, really strongly like into, ya, so there was a force or like a kind of direction. The greenish small particles as they went up here (see Figure 6), they also kind of spread out, kind of expanded in the image … but it was moving, kind of moving this shape, kind of opening up.”
In den Videodokumenten der mikro-phänomenologischen Befragungen kann zudem eine dem Denken vorausgehende gestische Formulierung des Wahrgenommenen nachgewiesen werden, bevor diese zunächst in vagen Beschreibungen benannt und schließlich in einer stimmigen Versprachlichung des Gedachten zum Abschluss gebracht wird (Abb. 15–20). Dieser Prozess findet in der Titulierung des daraus entstandenen interaktiven Kunstwerks The hand thinks faster than the brain seinen Niederschlag, das im Anschluss an das Lab zur Eröffnung des jährlichen Sensorium Festivals präsentiert wurde.
Abb. 18–20 Ausschnitte aus der Audioaufnahme von Alois: “I was a bit surprised how it was, how simple it was. I wasn´t expecting how small and delicate it was, just dark brown. A shape that it creates in my nostril, it was kind of like a drop of water but like you stretch it longer, like this, and, I was even surprised by it: ‚Why did I visualize it?‘ I think I even give it a colour in the visualization, because it was still brown, and I even created some kind of motion blurr, of shades, I even see a bit of lines in my nostril. I would add on it was a combination of a visualization and a tactile feeling of some …, almost like the presence of an object that was in my nose. So I was paying attention on that instead of the smell.“
Nach diesem Einschub komme ich abschließend auf die Ergebnisse der Untersuchung zu sprechen.
Ergebnisse der Studie
Neben einem Modell zur Verschränkung von Theorie- und Praxisperspektive hat sich eine für jede*n zugängliche intuitive taktil-performative Forschungspraxis herausgebildet, in welcher ausgehend vom subjektiven Erleben auf der Ebene konkret erfahrbarer taktil-kinästhetischer (Selbst-) Wahrnehmung, präreflexive Wahrnehmungsanteile im Prozess der Erkenntnisgewinnung und in Entscheidungsfindungsprozessen erschlossen und versprachlicht werden können.
Die Sinnhaftigkeit der Erweiterung der mikro-phänomenologischen Fragetechnik um den Einbezug einer Tastkomponente kristallisierte sich im Verlauf der Untersuchung als zweites Studienergebnis heraus, da die leicht zu übersehenden, unauffälligen kleinen Gesten des intuitiven Tastens sich trotz ihrer Unscheinbarkeit als signifikant für den Verlauf des Wahrnehmungsprozesses herausgestellt haben. Das „In-der-Hand-Halten“ eines Gegenstands und die Verankerung taktil-kinästhetischer Erfahrungsebenen in die mikro-phänomenologische Gesprächstechnik lassen einen erweiterten Zugriff auf das Wahrnehmungs- bzw. Erinnerungsgeschehen zu.
Mit dem Fokus und Einbezug taktil-kinästhetischen (Hintergrund-)Wissens stellt diese kunst-basierte intuitive Forschungspraxis darüber hinaus Instrumente zum Umgang mit unerwarteten Situationen und Befremdung bereit, die es ermöglichen, über den Einbezug spürenden Erlebens Transformationsprozesse in interdisziplinären Forschungsfeldern initiieren und begleiten zu können. Übereinstimmend heben Studienteilnehmerinnen hervor, dass die während des Forschungsprozessverlaufs gewonnenen Erfahrungen sowohl einen veränderten Bezug zu sich selbst als auch eine erweiterte Perspektive auf die Vermittlungspraxis anregen.
Zusammenfassung
Das vorgestellte Modell erstaunensgeleiteter Forschung ist aus einer mikro-phänomenologisch durchgeführten Studie über taktil-kinästhetische Einflüsse auf Denken und Wahrnehmung hervorgegangen. Neben der Entwicklung einer taktil-performativen Forschungspraxis zur Erkenntnisgewinnung ist über die Erweiterung der mikro-phänomenologischen Methode um eine Tastkomponente neben der Theorie zur taktil-kinästhetischen Entscheidungsfindung eine intuitive taktil-kinästhetische Praxis zur deren Anwendung entstanden. Gekoppelt an Bewegung steht uns im Rückgriff auf das eigene körperleibliche Erfahrungswissen das nötige Instrumentarium als Bezugsgröße unmittelbar zur Verfügung. Die taktil-performative Forschungspraxis wählt einen Zugang zum Wahrnehmungsgeschehen, in der neben dem Kennenlernen und Anerkennen eigener (verinnerlichter) Wissensstrukturen das aktive Prüfen des Wahrgenommenen und das ‚stimmige‘ Tätigwerden im Vordergrund stehen. Konfrontiert mit der hohen Komplexität des Geschehens werden Instrumente bereitgestellt, die, anstelle einer Komplexitätsreduzierung, auf die Herausforderungen mit aktiver Auseinandersetzung und der Öffnung für unbekanntes Wissen reagieren und diese im Austausch und im gemeinsamen Tun vorantreiben.
Darüber wird der Fokus auf Praxen gelenkt, in welchen Wissensaneignung nicht vorrangig über visuelle Betrachtung oder diskursive Praktiken geschieht, sondern die sich explizit um das Spektrum spürbaren körperleiblichen Erfahrungswissens erweitert verstehen. Mit der Anerkennung von Ergebnissen nicht visuell geleiteter Forschungspraktiken und der Aufwertung gefühlter bzw. gespürter Erfahrung in Erkenntnis- und Wissenserwerbsprozesse eröffnen sich weitere Felder zur Erschließung unseres Wahrnehmungspotenzials.
In unsere Betrachtungen spürbare Wahrnehmungen einzubeziehen, schafft ein körperleibliches Gegengewicht zum überwiegend (audio-)visuell ausgerichteten Angebot für den Wissenserwerb. Unter diesen veränderten Ausgangsbedingungen können Handfertigkeiten in ihrem komplexen Zusammenspiel mit körperleiblichen Regungen, sinnlichen Eindrücken und Bewegungen in Erkenntnisprozesse einbezogen und kann aufs Neue Kontakt aufgenommen werden.
Literaturverzeichnis
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Internetquellen
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[1] Die Mikro-Phänomenologie ist aus der Explikationstechnik des französischen Pädagogen Pierre Vermersch hervorgegangen, die, in den 1980er-Jahren im Schulkontext entwickelt, im Unterricht den Schülerinnen und Schülern zu Gute kam (vgl. Vermersch 2009). Aufbauend auf der Explikationstechnik hat schließlich Claire Petitmengin Vermerschs Ansatz für den Forschungskontext adaptiert und zunächst in der neurowissenschaftlichen Epilepsie-Forschung fruchtbar gemacht. Seither findet die Methode zur Beschreibung von ‚lebendiger Erfahrung‘ (lived experience) in unterschiedlichen Anwendungsfeldern Beachtung (vgl. Petitmengin 2007, 2009, 2018).
[2] Über Tasteindrücke von Konsistenzen, Widerständen und Tiefen nehmen wir auch damit verbundene Gefühle von Abwehr bis zu Gefühlen höchster Intimität wahr, sodass Hartmut Böhme ‚nicht nur die sinnlichen Wahrnehmungen, sondern auch alle Emotionen als Abkömmlinge des Tastsinns‘ versteht“ (Böhme 1996, 196, zit. n. Mark 2012, 133).
[3] In seinen Überlegungen zur Intelligenz der Hand (2009) betont der Soziologe Richard Sennett ein gleichberechtigtes Zusammenwirken von Tastsinn und visuellem Sinnesvermögen. „Mit Konzentration, auf Grundlage eines ‚lebendigen‘ Rhythmus – welcher immer wieder minimale, den Gedankenfluss belebende Abweichungen voraussetzt –, sich in produktiver, antizipierender Weise auf kommende Veränderungen einstellen zu können, ist nach Sennett eine ‚Kunst‘, die sich dem Wissen und Vertiefen von Handfertigkeiten verdankt und damit Voraussetzungen schafft, auf die wir im textilen Gestalten und bildnerischen Formgeben zurückgreifen können“. (Mark 2017, 89)
[4] In der Studie wurden zwei Gruppen von Erwachsenen verglichen, die die Aufgabe erhielten, in einer unbekannten Schrift, bestehend aus zwanzig Buchstaben, zu schreiben. Eine Gruppe schrieb mit der Hand, die zweite an einer Tastatur. Drei und sechs Wochen später wurde die Erinnerung an die Buchstaben sowie die Schnelligkeit des Erkennens richtiger und verdrehter Buchstaben überprüft. Dabei wurde festgestellt, dass beim Lesen von Buchstaben, die durch Handschrift erlernt wurden, das motorische Sprachzentrum in der Großhirnrinde aktiviert wird. Dies geschieht sogar, wenn wir eine Person bei ihrem Tun beobachten und die Bewegung nicht einmal selbst ausführen. Bereits ein vertrautes Werkzeug zu sehen, das mit einer bestimmten Tätigkeitsbewegung assoziiert ist, reicht zur Aktivierung aus, vorausgesetzt es wurden bereits entsprechende Vernetzungen erstellt. Teilnehmer*innen der Gruppe, die mittels Handschrift gelernt hatte, erzielten bessere Ergebnisse. Dabei stellten Velay und Longcamp fest, dass beim Lesen von Buchstaben, die durch Handschrift erlernt wurden, das motorische Sprachzentrum in der Großhirnrinde aktiviert wird. Hingegen wurde bei Proband*innen, die auf einer Tastatur schrieben, wenig oder gar keine Aktivierung dieses Broca-Areals verzeichnet. (vgl. Velay/Longcamp 2007).
[5] Die Studie steht in der Zentralen Hochschulbibliothek Flensburg zum digitalen Download zur Verfügung (https://www.zhb-flensburg.de/?id=29421).
[6] Die folgenden Zeichnungen wurden digital verlinkt, um sie nach Anklicken vergrößert ansehen zu können.
[7] Description of the project: Drawing from the practice of microphenomonology, the artists focused on sensory and subconscious reactions to a micro moment of smelling Hexanal, a chemical released by plants when under stress or threat. The hand thinks faster than the brain is a multisensory system that embraces reenactment of micro-moments. Microgestures are isolated and repeated on a video screen, scent molecules are released into the air, and verbal descriptions can be both heard and read. The visitor is invited to reenact and interact with the work, causing the elements to shift for closer focus and attention. [https://sensorycartographies.info/2019/06/27/the-augmented-attention-lab-in-bratislava/ Stand 27.11.2020]
Elke Mark (Dr. phil.) forscht und lehrt als freischaffende Künstlerin mit den Schwerpunkten Performance Art und prozessualer (textiler) Objektkunst zu Erinnerung, sensorischem Wissen, Denken in Bewegung und Dialogkonzepten. Ihrem Kunststudium in Kassel, Madrid, Amsterdam und Köln ging eine langjährige Berufstätigkeit als Ergotherapeutin voraus. Als Assoziierte des internationalen PAErsche Performance-Art-Netzwerks ist sie im Besonderen an der Weiterentwicklung des gemeinsamen In Process/Open Source-Formats interessiert. www.elkemark.com | www.paersche.org