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Spürendes In-Kontakt-Treten: taktil-kinästhetische Handfertigkeiten

Elke Mark

[Beitrag als PDF]

 

„Nur durch Erstau­nung werd ich mein­er inne.“

Franz Wer­fel, 1943

Ent­ge­gen der Betra­ch­tung von Hand­fer­tigkeit­en in ihrem konkreten Beitrag zum For­men und Her­stellen ästhetis­ch­er Gegen­stände als Ergeb­nisse kün­st­lerisch­er Lern­prozesse möchte ich den Fokus auf Prozesse intu­itiv­er tak­til-kinäs­thetis­ch­er Annäherungs­be­we­gun­gen lenken, die bere­its ein­set­zen, bevor eine direk­te Kon­tak­tauf­nahme mit dem Gegen­stand selb­st geschieht. Neben unzäh­li­gen ‚verin­ner­licht­en‘, fast unbe­merkt im ‚Hin­ter­grund‘ vol­l­zo­ge­nen Hand­be­we­gun­gen beispiel­sweise des Greifens oder Öff­nens, die wir aus­führen, um ein Hand­lungsziel zu erre­ichen, greife ich Hand­fer­tigkeit­en auf, die der konkreten Berührung der Hände bzw. der Fin­ger mit Mate­ri­alien voraus­ge­hen, um die Rel­e­vanz intu­itiv­en Tas­tens als Teil des Wahrnehmung­sprozess­es her­auszustellen.

Im Zen­trum sowohl mein­er kün­st­lerischen als auch der wis­senschaftlichen Arbeit ste­ht die Erforschung der Tastsin­nesver­mö­gens und des spüren­den Erlebens. Mit der Fokusver­schiebung auf Bere­iche vor der erken­nen­den Wahrnehmung, auf das prozes­suale präre­flex­ive und präver­bale Empfind­ungs- und Bewe­gungs­geschehen in sein­er Genese, lassen sich über die Erfas­sung vielfach unbe­merk­ter Dynamiken deren Rel­e­vanz für den Wis­senser­werb her­ausstellen. Vor dem Hin­ter­grund gegen­wär­tiger pan­demiebe­d­ingter Kon­tak­tbeschränkun­gen gewin­nt mein Forschungss­chw­er­punkt des Tak­til-Kinäs­thetis­chen und das nach­fol­gend beschriebene Mod­ell erstaunens­geleit­eter hap­tis­ch­er Forschung beson­dere Aktu­al­ität. Das Selb­st stets im Ver­bund mit Anderen und einge­bet­tet als Teil der Umge­bungswelt zu begreifen, lässt das Aus­maß der (Rück-)Wirkungen in Zeit­en der Abwe­sen­heit physis­ch­er kör­per­leib­lich­er Nähe erah­nen.

Abb. 1–2  Ausstel­lung Fun­ny Feel­ing. Hüh­n­er­haus, Ham­burg 2018. Der Essay Tak­tiles Wis­sen (Mark 2012) wurde in Form ein­er einzi­gen, fort­laufend­en Zeile auf ein etwa 60 Meter langes tex­tiles Textband gedruckt und lädt zum bewegten Lesen ent­lang der Instal­la­tion ein.

Her­aus­bil­dung ein­er tak­til-per­for­ma­tiv­en und mikro-phänom­e­nol­o­gis­chen Forschung­sprax­is

Kon­tak­tauf­nahme und voraus­ge­hende Entschei­dungs­find­ung­sprozesse sind Aus­gangspunk­te mein­er prozes­sori­en­tierten Studie zur Unter­suchung des Ein­flusses hap­tis­ch­er Impulse auf unser Empfind­ungs- und Wahrnehmungs­geschehen, deren Ver­lauf ich im Fol­gen­den skizzieren werde. Aus dieser ist eine tak­til-per­for­ma­tive und mikro-phänom­e­nol­o­gis­che Forschung­sprax­is her­vorge­gan­gen, in welch­er gespürtes, spür­bar ver­ankertes Wis­sen zur Sprache gebracht und in Wis­senser­werb­sprozesse ein­be­zo­gen wer­den kann.

Die Studie set­zt sich aus zwei Teilen zusam­men. Nach der Adap­tierung der Meth­ode in eine deutschsprachige Fas­sung find­en etwa ein­stündi­ge mikro-phänom­e­nol­o­gis­che Inter­views mit Studieren­den des Insti­tuts für Ästhetisch-Kul­turelle Bil­dung an der Europa-Uni­ver­sität Flens­burg statt, in deren Mit­telpunkt die Kon­tak­tauf­nahme mit einem zunächst nicht sicht­baren, inner­halb eines Beu­tels ver­bor­ge­nen Gegen­standes ste­ht. Zur Erschließung der Wech­sel­wirkun­gen impliziten Wis­sens in den Hin­ter­grun­debe­nen wird die Bewe­gungser­fahrung gewählt. Mit der Fokusver­schiebung auf die vorstruk­turelle Ebene der in den Hin­ter­grund getrete­nen, mit­laufend­en Bewe­gun­gen lassen sich die mul­ti­modalen Ver­flech­tun­gen in Wahrnehmungs- und Denkprozessen genauer betra­cht­en sowie Bezüge zwis­chen (Selbst-)Bewegung und Denken auf mehreren Ebe­nen erfassen und in Beziehung set­zen.

In der vorder­gründig ein­fachen Auf­gaben­stel­lung („Nehmen Sie Kon­takt auf mit dem Gegen­stand im Beu­tel. Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie möcht­en. Wenn Sie soweit sind, geben Sie mir ein Zeichen.“) wird durch die gezielte Platzierung möglich­er Wider­sprüche eine hochkom­plexe Aus­gangssi­t­u­a­tion provoziert. Nach dem Umset­zen der Auf­gabe und dem entsprechen­den Sig­nal­isieren durch ein Zeichen fol­gt der zweite Teil der Auf­gaben­stel­lung („Geben Sie so genau wie möglich wieder, was ab dem Moment, wo ich Ihnen die Auf­gabe gestellt habe bis zum Moment, wo Sie mir das Zeichen gaben, geschah.“), an den sich das aus­führliche mikro-phänom­e­nol­o­gisch struk­turi­erte Gespräch anschließt, das – im Nachvol­lzug der darüber in Gang geset­zten vielschichti­gen Prozesse – Auf­schluss über die Struk­tur beteiligter Wahrnehmungs-, Denk- und Entschei­dungs-find­ung­sprozesse gibt. Über die stets erforder­liche Wiederverge­gen­wär­ti­gung der Erfahrung find­en außer­dem Fra­gen zur Aktu­al­isierung von Gedächt­nis- und Erin­nerung­sprozessen Berück­sich­ti­gung.

Bei den Beteiligten vari­iert die Annäherung an die Auf­gaben­stel­lung und deren Umset­zung  sehr. Das Spek­trum reicht von rein tas­ten­den Unter­suchun­gen über ver­schiedene Kom­bi­na­tio­nen von Tas­ten und Sehen bis zur auss­chließlich visuellen Kon­tak­tauf­nahme mit dem Gegen­stand. Meist wird eine Kom­bi­na­tion aus Tas­ten und Sehen bevorzugt; zwei Befragte beziehen das Riechen ein. Allen gemein­sam ist der Rück­griff auf visuelle Wahrnehmung­sein­drücke, denen eine lei­t­ende Funk­tion in der Kon­tak­tauf­nahme beigemessen wird. Außer­dem wird das ‚Kon­tak­taufnehmen‘ häu­fig an das Erken­nen des Gegen­standes gekop­pelt.

Im zweit­en Teil der Studie führen die Studieren­den entsprechend der mikro-phänom­e­nol­o­gis­chen Meth­ode Selb­st­be­fra­gun­gen durch, in der jede Teil­nehmerin die mit­wahrgenomme­nen Ein­drücke in der Wiederverge­gen­wär­ti­gung ein­er Erin­nerungs-erfahrung mit einem Gegen­stand ihrer Wahl schriftlich zusam­men­fasst.

Der Ein­bezug spür­baren Erlebens in Wahrnehmung­sprozesse set­zt voraus, das gespürtes Wis­sen ver­sprach­licht wer­den kann. Um Prozesse unseres vielschichti­gen Erlebens artikulieren zu kön­nen, greife ich auf die mikro-phänom­e­nol­o­gis­chem Meth­ode zurück, die ich im Fol­gen­den vorstellen werde.[1]

Die mikro-phänom­e­nol­o­gis­che Meth­ode

Beruhend auf der Annahme der Erlebens­ganzheit (Klages 1934) und der Mit­gegeben­heit des gesamten Wahrnehmungs­feldes (Husserl 1966) eröffnet diese Gesprächs- und Selb­stre­flex­ion­stech­nik der franzö­sis­chen Philosophin Claire Petit­men­gin (2006) Zugang zu Bere­ichen der Wahrnehmung, die uns bis­lang ver­schlossen schienen.

Das mikro-phänom­e­nol­o­gis­che Gespräch ist nicht mit einem üblichen Dia­log ver­gle­ich­bar, in dem fra­gend und antwor­tend, im Aus­tausch aufeinan­der einge­gan­gen wird. Vielmehr ähnelt es einem ‚begleit­eten Selb­st­di­a­log‘ und ein­er selb­stre­flex­iv­en Anleitung zum Lauschen auf eigenes gedanklich­es und spür­bar wahrnehm­bares Geschehen.

In der Regel zunächst unbe­merk­te, im Bere­ich unter­halb unser­er Bewusst­seinss­chwelle ablaufende Erfahrungsan­teile, kön­nen in ihrem Entste­hung­sprozess präzise nachvol­lziehbar und darüber präre­flex­ive und präver­bale Ebe­nen der Wahrnehmung ein­er Ver­sprach­lichung zugänglich gemacht wer­den. Da wir uns des Fehlens dieser Erfahrung nicht bewusst sind, ist bere­its der erste Schritt, die Aufmerk­samkeit auf bis­lang unbe­merk­te Anteile der Erfahrung zu lenken, eine Her­aus­forderung.

Im Zen­trum der Tech­nik ste­ht die Evoka­tion, die Wiederverge­gen­wär­ti­gung eines ver­gan­genen Erleb­niss­es. Da Wahrnehmungen immer bere­its ver­gan­gen sind, sind stets auch Erin­nerung­sprozesse involviert. Aus der eige­nen Sicht auf das Geschehen (Erste-Per­son-Per­spek­tive) wird über die Fokussierung eines einzel­nen Erfahrungsmo­ments eine klein­schrit­tige Ent­fal­tung der innewohnen­den Dynamik und inhärenter Struk­turen möglich. Dazu wer­den nach der erneuten Evoka­tion ein­er sinnlich ver­ankerten Erfahrung die unzäh­li­gen mit­wahrgenomme­nen, jedoch in den Hin­ter­grund getrete­nen Anteile des Erlebten durch eine wieder­holende Fragestruk­tur (in wer­tungs­freien Refor­mulierun­gen des Gehörten und ergänzen­den Fra­gen) erschlossen, um in mehrfachen Wieder­hol­ungss­chleifen dem Prozess des Entste­hens gedanklich­er als auch intu­itiv­er tak­til-kinäs­thetis­ch­er Impulse auf die Spur zu kom­men. Ver­gle­ich­bar mit dem Betra­cht­en eines Auss­chnitts unser­er Wahrnehmung mit ein­er Lupe kön­nen wir diesen ver­größert anschauen, ohne dabei ein Gewahren des Gesamtkon­textes auszuk­lam­mern.

Im Vol­lzug der Annäherungs­be­we­gung wen­den wir uns diesem Auss­chnitt zu, ohne uns dabei in den zweifel­los sehr inter­es­san­ten inhaltlichen Details zu ver­lieren. Indem der Fokus auf die struk­turellen Rah­mungen und prozesshaften Vol­lzüge inner­halb des Geschehens gelenkt wird, schließen sich sowohl Annäherung als auch reflex­ives Innehal­ten nicht aus. Im Ver­weilen in der (stets erneut aktu­al­isierten) Wiederverge­gen­wär­ti­gung ein­er ver­gan­genen Erfahrung, lassen sich somit Hin­ter­grun­debe­nen der Erfahrungs­ge­nese erschließen. Vor­reflex­ive Anteile des Erlebten wer­den zugänglich und mit­teil­bar (vgl. Close Talk­ing, Schoeller 2019).

Der Ein­bezug des gespürten Hin­ter­grun­dempfind­ens zeich­net sich durch eine eigene Spez­i­fität aus, die para­dox anmu­ten­der Weise als sowohl von undeut­lich­er Vagheit als auch großer unver­wech­sel­bar­er Präzi­sion geprägt ist (vgl. Petit­men­gin 2016). Als weit­eres Charak­ter­is­tikum hebt Petit­men­gin die Trans­modal­ität her­vor, unter der sie eine spez­i­fis­che sen­sorische Modal­ität ver­ste­ht, die nicht auf ein Sin­nessys­tem beschränkt ist, son­dern trans­ver­sal in ver­schiede­nen Sin­nesver­mö­gen auftritt. Dazu zählen Inten­sität, Form und die zeiträum­liche Dimen­sion des Rhyth­mus´ (Ebd.).
Die Tech­nik kann von jedem und jed­er erlernt wer­den und bere­its nach ein­er ersten Inter­view­er­fahrung ist auch die Umset­zung in Form ein­er Selb­st­be­fra­gung möglich.

Tastempfind­en und Tastsin­neser­fahrung

Zur Erschließung der Wech­sel­wirkun­gen impliziten Wis­sens in den Hin­ter­grun­debe­nen wur­den das tak­til-kinäs­thetis­che Sin­nesver­mö­gen und die unmit­tel­bar an Bewe­gung geknüpfte Tastsin­neser­fahrung als Bezugs­größe gewählt, da erforder­liche Bewe­gun­gen und Hand­griffe zur Umset­zung der Auf­gaben­stel­lung von jed­er und jedem indi­vidu­ell aus­ge­führt wer­den. Damit ste­ht uns das eigene kör­per­leib­liche Erleben als Ref­erenz zur Erschließung von Wahrnehmungsmustern zur Ver­fü­gung und kann let­ztlich entsprechend ver­ankert wer­den.

Zurück­greifend auf Erwin Straus‘ The­o­rie der Erleben­sein­heit eines empfind­end sich-bewe­gen­den Men­schen (Straus 1935) lässt sich die Ver­woben­heit von Ein­drück­en aus Sin­nesver­mö­gen, kör­per­leib­lich­er Erfahrung und kor­re­lieren­den Bewe­gungsweisen in einem aus­d­if­feren­zierten Spek­trum von empfind­en­dem Erleben bis zu wahrnehmen­dem Erken­nen ver­an­schaulichen.[2] Als Impulse im Prozess dynamis­ch­er Ein­heit hebt Straus die Bewe­gung, präzis­er gesagt das Sich-Bewe­gen im Annäh­ern und Abstand­nehmen, im Eini­gen und Tren­nen, Fol­gen und Fliehen her­aus. Das Erleben dynamis­ch­er Ein­heit ist als fort­laufend­er Kreis­prozess zu ver­ste­hen, in welchem sich aus dem Erleben des Unvoll­ständig­seins, über den Umweg des Empfind­ens des Unfer­ti­gen und des Strebens nach Ganzheit, der Anstoß zur Verän­derung gener­iert. Damit ist dem Selb­st das Erleben von Fremd­heit inhärent und dynamis­ch­er Wan­del nicht ohne Fremd­heit möglich.

Auf der Vorstufe des wahrnehmenden Erken­nens set­zt im Primären Aus­druck­ser­fassen die Bewe­gung auf das Erken­nen hin bere­its ein, ist jedoch noch völ­lig dem, im tak­tilen Sinne ver­stande­nen, Erfassen ver­haftet. Denn auf der Ebene des Aus­druck­ser­fassens reagieren wir, „ohne daß wir wis­sen, worauf wir reagieren, ja man kön­nte bess­er sagen, ohne zu wis­sen, daß wir reagieren.“ (Straus 1935, 121) Straus betont, dass wir uns über Tastein­drücke eine sprachlose, zeichen­lose Welt erschließen, „deren tausend­fältige Nuan­cen selb­stver­ständlich sind und von jedem ver­standen wer­den, ohne daß er sie zu ler­nen brauchte“ (Ebd., 302). Die beson­dere Her­aus­forderung stelle jedoch das Zur-Sprache-Brin­gen des Getasteten und Gespürten dar.

Vom Exper­i­men­talpsy­cholo­gen David Katz wurde zu Beginn des 20. Jahrhun­derts die Bewe­gung als schöpferische mit­gestal­tende Kraft im Tastsinn iden­ti­fiziert (vgl. Katz 1925). Mit neuen aus­gek­lügel­ten Ver­such­sanord­nun­gen gelingt es Katz in seinen Stu­di­en über den Ein­bezug der aktiv­en Bewe­gungskom­po­nente in die Tas­tun­ter­suchun­gen erst­mals den Vari­a­tion­sre­ich­tum des Tastsinns – Katz spricht von Poly­mor­phie – auszud­if­feren­zieren.

Über die Bewe­gung wird das Spek­trum zudem um das Empfind­en von Rei­bungswider­stand und Elas­tiz­ität erweit­ert. Biegsamkeit und Nachgiebigkeit eines Mate­ri­als lassen sich nur dynamisch, mehrdi­men­sion­al erfassen und kön­nen nicht wie Härte, Weich­heit, Rauheit oder Glätte punk­tuell sta­tisch erspürt wer­den. Nur auf­grund voraus­ge­gan­gener gespürter tak­til-kinäs­thetis­ch­er Wahrnehmungser­fahrun­gen kön­nen wir Elas­tiz­ität optisch erfassen, sodass Katz den Ein­druck des Elastis­chen in sein­er Son­der­stel­lung als „Pri­mat des Tak­til-kinäs­thetis­chen vor dem Visuellen“ (Katz 1925, 67) her­vorhebt.

Durch seine damals bahn­brechende Ent­deck­ung des Vibra­tionsempfind­ens lassen sich Ebe­nen der tak­til-kinäs­thetis­chen Hin­ter­grund­wahrnehmung erschließen, die als solche im Wahrnehmungs­geschehen zurück­treten. Beispiel­sweise erfassen wir bere­its beim Betreten ein­er Leit­er­sprosse oder ein­er Trep­pen­stufe über mit­wahrgenommene Vibra­tio­nen deren Mate­ri­al­ität, ziehen Rückschlüsse auf Beschaf­fen­heit von Gegen­stän­den und passen uns unmit­tel­bar an Verän­derun­gen der Sit­u­a­tion an.

Schließlich weist Katz auf Tastvorstel­lun­gen hin, die ergänzend zur Tastempfind­ung als Vorstel­lungs­bild zum Ertasteten hinzutreten. Auf­grund des tak­tilen For­merken­nens erken­nen wir in sog. Gedächt­nistas­tun­gen Dinge, die wir früher getastet haben, beim erneuten Spüren wieder. Mit diesen gehen entsprechende mehr oder weniger deut­liche visuelle Tastvorstel­lungs­bilder ein­her (Ebd., 44).[3] Zudem ver­weist Katz auf einen ins­ge­samt rudi­men­tären Wortschatz zur sprach­lichen Fas­sung des Tast­geschehens, an dem sich bis heute wenig geän­dert hat.

Mit der Fokusver­lagerung auf die in den Hin­ter­grund getrete­nen, mit­laufend­en Bewe­gun­gen, von denen wir bewusst kaum mehr Notiz nehmen, kön­nen über die Evoka­tion eines sinnlich ver­ankerten sin­gulären Erfahrungsmo­ments mul­ti­modale Ver­flech­tun­gen sowie Bezüge zwis­chen (Selbst-)Bewegung und Denken mehrdi­men­sion­al erfasst und in Beziehung geset­zt wer­den. Unter Rück­griff auf Palagyis (1925) und Gehlens (1940) Konzepten virtueller Bewe­gungsphan­tasien als Grund­phänomen und Voraus­set­zung zum antizip­ieren­den Dia­log mit Gegen­stän­den, Anderen und der Umge­bung, lassen sich die dem Wahrnehmungs­geschehen inhärenten spür­baren Bewe­gungs­dy­namiken in den Vorstel­lungs­bildern aus der Eigen-Per­spek­tive zur Sprache brin­gen und deren Rela­tio­nen zu tat­säch­lich aus­ge­führten Bewe­gun­gen erfassen.

Im gegen­wär­ti­gen Feld der Tast­wahrnehmung find­en sich keine ein­heitlichen Def­i­n­i­tio­nen. Reg­istri­eren wir ohne eigenes aktives Zutun eine von ‚außen‘ ein­tr­e­f­fende Berührung oder berühren wir punk­tuell Ober­flächen ohne weit­ere Tast­be­we­gun­gen durchzuführen, wird dies in der Regel als tak­tile Wahrnehmung definiert. Der Schwellen­wert der Wahrnehmung bei tak­til­er Berührung mit den Fin­ger­spitzen liegt etwa bei einem Mil­lime­ter. Mar­tin Grun­wald, Leit­er des Leipziger Hap­tik­labors und führen­der inter­na­tionaler Experte, hebt dage­gen eine 1000-fach höhere Empfind­lichkeit des an aktive Tast­be­we­gun­gen gekop­pel­ten hap­tis­chen Sys­tems her­aus bei dem der Schwellen­wert bei lediglich einem Mikrom­e­ter beste­ht, was uns beispiel­sweise die Suche nach der Abrissstelle auf ein­er Kle­berolle erle­ichtert (vgl. Grun­wald 2012).

Grun­wald hebt ins­beson­dere die Son­der­stel­lung von Selb­st­berührun­gen her­aus. In Stu­di­en hat er fest­gestellt, dass wir tagtäglich hun­dert­fach, etwa vier­hun­dert bis achthun­dert­mal, mit den Fin­gern oder den Hän­den unbe­merkt unser Gesicht und andere Kör­perteile berühren (vgl. Grun­wald 2012, 117f). Gesichts­berührun­gen sind die häu­fig­ste, meist unbe­merk­te Form der Selb­st­berührung und dienen der Konzen­tra­tion und Aufrechter­hal­tung des Wohlbefind­ens – mit entsprechen­den Fol­gen, wenn aus aktuellem Anlass die Empfehlung lautet, diese zu ver­mei­den.

In Diskus­sio­nen zum Erhalt von Hand­fer­tigkeit­en sei ergänzend auf das fort­ge­set­zte Bemühen der nor­wegis­chen Lit­er­atur- und Medi­en­wis­senschaft­lerin Anne Man­gen um einen inter­diszi­plinären Zugang zur Erschließung der Kom­plex­ität hap­tis­ch­er Erfahrun­gen ver­wiesen, die sie ins­beson­dere unter dem Aspekt des hand­schriftlichen Schreibens sowie des Lesev­er­mö­gens unter­sucht (vgl. Man­gen 2016).

Als Ergeb­nisse ihrer Stu­di­en zu Ein­flüssen dig­i­taler Tech­nolo­gien auf das Lesen und Schreiben unter mul­ti­sen­sorischen, kör­per­be­zo­ge­nen Gesicht­spunk­ten betont sie das Poten­zial des Schreibens mit der Hand, über das fun­da­men­tale Verknüp­fun­gen in den reizver­ar­bei­t­en­den Zen­tren im Gehirn angelegt wer­den, welche durch Tip­pen auf ein­er Tas­tatur unerr­e­ich­bar bleibe (vgl. Man­gen 2008, 2016). Wird der Schrift­spracher­werb mit der Hand reduziert, wer­den aus­d­if­feren­zierte Handge­lenks- und Fin­ger­be­we­gun­gen sowie deren Koor­di­na­tion nicht mehr aus­re­ichend erlernt, auf die nach­fol­gende Prozesse im Wis­senser­werb auf­bauen. Man­gen ver­weist auf Stu­di­en von San­dra Sülzen­brück und Kol­le­gen (2011), die beto­nen, dass „lack of prac­tice with hand­writ­ing may have the long-term effect of a loss or dete­ri­o­ra­tion of oth­er fine-motor skills.“ (Man­gen 2016, 468).

Resul­tate der Zusam­me­nar­beit mit dem franzö­sis­chen Kog­ni­tion­swis­senschaftler Jean-Luc Velay heben die nach­halti­gen Auswirkun­gen des Schreibens mit der Hand auf Erin­nerung­sprozesse her­vor (Velay/Longcamp 2007). In funk­tionellen Kern­spin-Auf­nah­men wurde bestätigt, dass die sen­so­mo­torischen Reize beim hand­schriftlichen Schreiben eine Art motorisch­er Erin­nerungsspur hin­ter­lassen, wodurch die Erin­nerung an das Geschriebene zu einem späteren Zeit­punkt leichter abgerufen wer­den kann.[4]

Weit­ere Unter­suchun­gen Velays und Long­camps zeigen, dass motorische Bewe­gun­gen das Erin­nern an Buch­staben­for­men grund­sät­zlich erle­ichtern. Die Vorteile des Schreib­train­ings gel­ten für Kinder und Erwach­sene. „Wenn unsere Hand einen Stift führt, wird offen­sichtlich der entsprechende motorische Befehl in bes­timmten Teilen der Großhirn­rinde gespe­ichert. Die sen­so­mo­torischen Erin­nerun­gen unter­stützen das rein visuelle Wieder­erken­nen.” (Velay/Longcamp 2007, 16). Buch­staben kön­nen dem­nach auch umgekehrt über die „kinäs­thetis­che Bewe­gungsab­fol­gen” (Ebd.) der jew­eils beteiligten Fin­ger wieder­erkan­nt wer­den.

Übere­in­stim­mende Ergeb­nisse find­en sich auch in Stu­di­en zweier amerikanis­ch­er Wis­senschaft­lerin­nen, Karin Har­man James und Vir­ginia Berninger, die beto­nen, dass Kinder mehr und schneller von Hand schrieben und deut­lich mehr Ideen entwick­el­ten als Kinder, die das Schreiben auf der Tas­tatur erlern­ten (vgl. Bounds 2010). Die Effek­tiv­ität des Schreibens mit der Hand wird bere­its in die Ther­a­pie bei schwinden­den Gedächt­nisleis­tun­gen ins Gespräch gebracht (Ebd.).

Nach diesem Exkurs zur Hand­schrift komme ich zurück zu mein­er eige­nen Forschung zum Stel­len­wert tak­til-kinäs­thetis­ch­er Hand­fer­tigkeit­en für den Wis­senser­werb.[5] Bevor ich auss­chnit­tweise die Ergeb­nisse vorstelle, werde ich zunächst auf das Zeich­nen als Instru­ment kün­st­lerisch­er Forschung einge­hen, um ‚am eige­nen Leib‘ erfahrene und vol­l­zo­gene intu­itive Prozesse in ihrer dynamis­chen Wech­sel­wirkung bes­tim­men zu kön­nen.[6]

Abb. 3 Selb­st­be­we­gung. Zeich­nung. 2018 Elke Mark

Zeich­nen als Instru­ment kün­st­lerisch­er Forschung

Zur Unter­suchung sprach­lich­er Aus­sagen, die ein raumzeitlich­es Geschehen beschreiben, bietet sich das Zeich­ner­ische als Instru­ment zur Erfas­sung beteiligter Fak­toren an, da es vielfältige, u. a. visuelle und tak­til-kinäs­thetis­chen Zugänge vere­int und ihm trans­modale Qual­itäten innewohnen. Aus­ge­hend vom Bewe­gungsakt des Zeich­nens, in dem sich wiederum die Hand­fer­tigkeit­en des Hal­tens und Bewe­gens eines Stiftes im Hin­ter­grundgeschehen vol­lziehen, lassen sich vom ein­fachen Kritzeln bis zur präzisen Abbil­dung Span­nungsverän­derun­gen ver­fol­gen, bis sich Vari­a­tio­nen oder Alter­na­tivver­läufe sicht­bar abze­ich­nen (Abb. 3).

Aus Zeich­nun­gen zur Erfas­sung der Bewe­gungs­dy­namiken in den Hin­ter­grun­debe­nen hat sich ein zyk­loides Bewe­gungsmod­ell entwick­elt, das in etwa dem Bild ein­er in Bewe­gung ger­ate­nen Kugel entspricht (Abb. 4). Darüber hin­aus wurde das Zeich­nen zur Auswer­tung des Daten­ma­te­ri­als einge­set­zt.

Abb. 4 Zyk­loides Bewe­gungsmod­ell. Zeich­nung. 2018 Elke Mark

Auswer­tung der Studie

Zur schrit­tweisen Rekon­struk­tion der zeitlichen, diachro­nis­chen Abfolge der Ein­drücke auf Vorstel­lungs- und Hand­lungsebene wurde ein Raster entwick­elt, das erlaubt, sukzes­siv die Schich­tun­gen und Über­lagerun­gen während des Inter­viewver­laufs visuell zu erfassen. Mit ersten groß­for­mati­gen Zeich­nun­gen (etwa DIN-A0) wur­den die diachro­nis­chen Inter­viewver­läufe in Form eines Mehrebe­nen-Nota­tion­ssys­tems in eine über­sichtliche Abfolge gebracht und aufge­fächert.

In der Auswer­tung der Inter­views fiel auf, dass im fün­ften Inter­view erst­mals Beschrei­bun­gen auftreten, die sich bere­its unmit­tel­bar im Moment des Hörens der Auf­gaben­stel­lung ein­stell­ten, bevor diese über­haupt zu Ende for­muliert war und bevor die Lap­top­tasche auf den Tisch gelegt wurde (Abb. 5).

Abb. 5 Fall 5_Interview Elisa_Mehrebenendarstellung. Zeich­nung. 2018 Elke Mark

Elisa begin­nt sich bere­its beim Hören der Auf­gaben­stel­lung auf mögliche, zu erwartende Tastein­drücke einzustellen und spielt ein Raster von Gefühl­sein­drück­en durch, „dass sie sich pick­sen oder dass es glib­berig wer­den kön­nte“. Bild­haft hat sie bei ‚spitz‘ ein drei­di­men­sion­ales Vorstel­lungs­bild von zwei überkreuzt liegende dickere Holzstrick­nadeln (Stärke 4–5) vor Augen, die sich aus ein­er Ent­fer­nung von eini­gen Metern auf sie zu bewe­gen und etwa 20 bis 30 Zen­time­ter vor dem Gesicht auf Augen­höhe zum Still­stand kom­men.

Im Fall 7 wird von Fiona am Schluss des Gesprächs die audi­tive Wahrnehmung von ‚Klimper‘-Geräuschen beim Bewe­gen und Able­gen der Tasche auf dem Tisch direkt nach dem Hören der Auf­gaben­stel­lung erin­nert. Dabei hat sie kurzzeit­ig ein far­biges, drei­di­men­sion­ales Bild von drei Bauk­lötzen vor ihrem ‚inneren Auge’, wobei „der eine, der so´n biss­chen rechteck­ig ist, der ist eher so dunkel­braun, der andere ist blau, der runde, und auch ein­er im Hin­ter­grund, aber da weiß ich nicht genau, wie der aus­sah“.

Zur Visu­al­isierung tak­til-kinäs­thetis­ch­er Hand­lungsab­fol­gen und den zeit­gle­ich ablaufend­en Wahrnehmung­sein­drück­en auf der Vorstel­lungsebene ent­stand ergänzend das sub­tile Darstel­lungsmod­ell, in welchem mit­tig der real aus­ge­führte Hand­lungsstrang (‚Kor­pus‘) ergänzt um die par­al­le­len Abläufe in den Hin­ter­grun­debe­nen (‚Flügel‘) sicht­bar wird (Abb. 6).

Abb. 6 Fall 8_Interview Hannah_subtile Darstel­lung. Zeich­nung. 2018 Elke Mark

Als weit­ere tak­til-kinäs­thetis­che Ein­drücke auf der Vorstel­lungsebene lassen sich die auch bei Isabell bere­its während des Hörens der Auf­gaben­stel­lung auf­tauchen­den wech­sel­nden Vorstel­lungs­bilder eines „frei in der Luft hän­gen­den Beu­tels“ ergänzen, der sich je nach vorgestell­tem Gewicht des Inhalts vor ihrem ‚inneren Auge’ verän­dert: „Beim Gewicht von einem Liter Milch wer­den die Henkel straf­fer und der Beu­tel beult sich aus“ (Abb. 7).

 Abb. 7 Fall 9_Interview Isabell_Mehrebenendarstellung. Zeich­nung. 2018 Elke Mark

Im Fall 2 erwäh­nt Bente, während sie durch den Stoff des Beu­tels den Gegen­stand ertastet, das Auf­tauchen eines Vorstel­lungs­bilds ein­er Giraffe, dass das zuvor ver­mutete aber auf­grund der Pro­por­tio­nen ver­wor­fene fotografis­che Vorstel­lungs­bild eines ‚Schle­ichtier­ponys‘ ablöst.

„Aber dies­mal wirk­lich wie aus so ´nem Doku­men­tarfilm, so ´ne Giraffe, die in der Savanne vor ´nem Baum ste­ht. Es war jet­zt nicht irgend­wie ein Riesen­bild, wo ich das Gefühl hat­te, ich muss jet­zt den Kopf rauf und runter bewe­gen, um die ganze Giraffe sehen zu kön­nen, son­dern so ein Stück vor mir, dass ich mit einem Blick das Ganze überblick­en kon­nte“.

In dieser Beschrei­bung der Größen­re­la­tio­nen ist das Kopf-in-den-Nack­en-leg­en als implizite tak­til-kinäs­thetis­che Kom­po­nente erwäh­nenswert, die auch in anderen Inter­views beispiel­sweise in Kopf­drehun­gen zum Blick­en aus dem Fen­ster oder dem Heben der Füße, um über am Boden liegen­des Spielzeug zu steigen, wiederkehrt.

In den Selb­st­be­fra­gun­gen der Studieren­den tritt die ‚reale‘ Hand­lungsebene zurück, da die Wiederverge­gen­wär­ti­gung eines beson­deren Moments mit einem selb­st­gewählten Gegen­stand im Vorder­grund ste­ht. Auf aus­ge­führte Bewe­gungs- und Hand­lungs­fol­gen wird dort in Vorstel­lungs­bildern erin­nernd Bezug genom­men (Abb. 8).

 
Abb. 8 Fall 9_Selbstbefragung Isabell_subtile Darstel­lung. Zeich­nung. 2018 Elke Mark

Auswer­tung der Studie

Aus der Ver­schränkung von tak­til-kinäs­thetis­chen Vol­lzugsak­ten und dynamis­chen Wirkkräften, die als Haup­tkat­e­gorien der Arbeit iden­ti­fiziert wur­den, ließ sich spür­bares Erleben präzise bes­tim­men und die aus deren Zusam­men­spiel her­vorge­hen­den unauf­fäl­li­gen kleinen Gesten intu­itiv­en Tas­tens trotz ihrer Unschein­barkeit als sig­nifikant für den Ver­lauf des Wahrnehmung­sprozess­es her­ausstellen.

Tast- und tak­til-kinäs­thetis­che Bewe­gungs- und Vol­lzugsak­te            

In der Unter­suchung wur­den tak­til-kinäs­thetis­che Aspek­te als zen­trale, jedoch zunächst ‚beiläu­fige’, unbe­deu­tend erscheinende Bestandteile in das Aus­gangs­set­ting inte­gri­ert. Diese im Aufmerk­samkeit­shin­ter­grund ablaufend­en Fak­toren sind jedoch für die Umset­zung der Auf­gaben­stel­lung unent­behrlich und von vorn­here­in an den Rück­griff auf tak­til-kinäs­thetis­ches Wis­sen gekop­pelt.

Abb. 9  Ineinan­der­greifen beteiligter Ebe­nen am Beispiel tak­til-kinäs­thetis­ch­er Wahrnehmung des Beu­tels

Es lassen sich drei Phasen voneinan­der abgren­zen. Zur Vor­bere­itungs- oder Ein­stim­mungsphase zählt das weit­ge­hend unbeachtete Öff­nen des Reißver­schlusses der Tasche. Der zweit­en Phase der indi­rek­ten Erfas­sung im Greifen und Durch­tas­ten des darin befind­lichen Stoff­beu­tels fol­gt das direk­te Berühren des Gegen­standes (Abb. 9).

Von allen Studieren­den wer­den sowohl real erfahrene als auch auf der Vorstel­lungsebene sich abspie­lende tak­til-kinäs­thetis­che Ein­drücke geschildert. Exem­plar­isch sei an dieser Stelle auf Darias Selb­st­beschrei­bung ver­wiesen, in der sie die Erfahrung der Wahl des passenden Anhängers für eine Kette beschreibt, die ihre Fre­undin Bridg­it als Geschenk für sie anfer­tigt. Darin hält sie den Ablauf der Denkprozesse bis zur Entschei­dungs­find­ung fest, die sich par­al­lel zum Drehen des Steins zwis­chen den Fin­gern ein­stellen. Neben der Beto­nung des unter­stützen­den Fak­tors der Atmung stellt die die beruhi­gende Kraft des Tas­tens und des ‚In-der-Hand-Hal­tens‘ eines Gegen­stands als wesentliche Entschei­dung­shil­fe her­aus.

Erleben­squal­itäten und dynamisierende Wirkkräfte

Als zen­trale Erleben­squal­itäten und dynamisierende Wirkkräfte des Gewahrens und spüren­den Erlebens wer­den Anziehungskraft und Neugi­er, Absicht­slosigkeit und Befrem­dung ermit­telt.
Ent­lang des als Kernkat­e­gorie iden­ti­fizierten Staunens lässt sich mitver­fol­gen, wie sich der Denkprozess unter Ein­bezug von Tas­terin­nerun­gen formt, indem intu­itiv ein­set­zende, sich aus mehrdi­men­sion­alem Erleben gener­ierende tak­til-kinäs­thetis­che Bewe­gungsabläufe Dynamiken anstoßen und diese wiederum Bewe­gun­gen in Gang set­zen bis der Staunen­sprozess in aktu­al­isiertes Wis­sen überge­ht. Zugang zur Dynamik des Bogens vom Tas­ten zur Erken­nt­nis­gewin­nung – vom Greifen über das Staunen zum Begreifen – eröffnet sich, wenn aus­ge­hend vom mit­tleren Glied dieses Dreis­chritts, dem Erleben des Staunens, die rela­tionale Dynamik mehrdi­men­sion­al aufge­fächert erfass­bar wird. Dieses Zwis­chenglied ist als Voraus­set­zung für Erken­nt­nis­prozesse unent­behrlich.

Voraus­set­zung für die Erfahrung des Staunens ist das Erleben von Unstim­migkeit, abwe­ichen­der, unbekan­nter, befremdlich­er Momente, die beste­hende Gewis­sheit­en ins Wanken brin­gen. Wird unsere Aufmerk­samkeit plöt­zlich und uner­wartet von etwas Un- oder Außergewöhn­lichem gefes­selt, wird unsere Neugierde geweckt. Nur etwas Uner­wartetes kann uns über­raschen, dass sich im Spüren ein­er „Elek­trisierung der Sinne“ (Bianchi 2019, 48)  oder einem „emo­tionalen Ergrif­f­en­sein“ (Ebd.) man­i­festiert. Käte Mey­er-Drawe hält fest:

„Ergrif­f­en zu sein, meint nicht indi­vidu­elle Betrof­fen­heit, son­dern dass etwas am Selb­st-, Welt- und Fremd­ver­ständ­nis rüt­telt und dass Gewohn­heit­en des Denkens und Wahrnehmens aus den Fugen ger­at­en.“ (Mey­er-Drawe 2008,12).


Abb. 10 Detail aus der Videoaufze­ich­nung der mikro-phänom­e­nol­o­gis­chen Vorstudie Smell, 2019

Zur Verdeut­lichung soll an dieser Stelle die mikro-phänom­e­nol­o­gis­che Vorstudie ‚Smell‘ mit Inter­views zur Geruch­swahrnehmung erwäh­nt wer­den, in der die Kom­bi­na­tion von Hin­ter­grund­taster­fahrung und Dynamisierung durch Staunen aufge­grif­f­en wurde. Diese fand im Rah­men des inter­na­tionalen Aug­ment­ed Atten­tion Labs im Juni 2019 in Bratisla­va statt.[7]

Den Interviewpartner*innen wird ein etwa zwei Zen­time­ter großes ver­schlossenes Glas­fläschchen mit ein­er Duftessenz über­re­icht (Abb. 10). Dies ermöglicht, bere­its sowohl den Prozess des Ent­ge­gen­nehmens als auch des Öff­nens des Flakons, der eine wech­sel­nde Kraft­dosierung und Koor­di­na­tion bei­der Hände erfordert, in die anschließende Befra­gung einzubeziehen (Abb. 11–14).            
Abb. 11–14 Auss­chnitte aus der Audioauf­nahme von Lind­sey (links): “You offered me the jar and I picked it up with my right hand. I remem­ber feel­ing the weight of it and the tex­ture of it. I was try­ing to open it. The lid was pret­ty tight and I had to go back and apply more pres­sure. Then I brought the jar up to my nose and the first breath was a lit­tle soft­er and I was imme­di­ate­ly kind of struck.”

Da der Fokus bere­its auf das bevorste­hende Riechen aus­gerichtet ist, erfol­gen die erforder­lichen automa­tisierten Hand­be­we­gun­gen und Hand­griffe zum Öff­nen des Flakons ohne große Beach­tung. Da diese Hand­lun­gen jedoch Teil der zunächst noch unter­halb der Wahrnehmungss­chwelle ablaufend­en Wahrnehmung­sprozesse sind, wer­den im anschließen­den Gespräch zunächst diese beiläu­fi­gen, vor­bere­i­t­en­den Hand­be­we­gun­gen aufge­grif­f­en und zur Ver­wun­derung der Befragten bis ins Detail besprochen. Dieses Einge­hen auf die tak­til-kinäs­thetis­chen Kom­po­nen­ten in den Hin­ter­grun­debe­nen wird jedoch erst im Nach­hinein als Prä­pa­ra­tions- und Ein­stim­mungsphase ver­ständlich, da über das nach­spürende Beschreiben der Hand­griffe eine Ver­tiefung des Evoka­tion­szu­s­tands erre­icht wird. Die Fra­gen zur Erfahrung des Riechens kön­nen daran anschließend wesentlich präzis­er erfasst und aus­d­if­feren­ziert beschrieben wer­den.

Abb. 15–17 Auss­chnitte aus der Audioauf­nahme von Lind­sey: “I had an instant sense of colour, and I had an instant vision of what this was, of an abstract shape, tex­ture … The image … let´s see … I think when I smelled it I first imag­ined it kind of in my nos­trils, kind of fill­ing that space and then it kind of felt like it went, the image itself, kind of went straight to my, like more up here (see Fig­ure 4), like way in my head, maybe like right behind my vision. I have the feel­ing … like my eye­brow is going up and my head going back (see Fig­ure 5), almost as there was this kind of force, maybe my eyes opened wider or at least the feel­ing of that. It felt like that air that had these qual­i­ties, real­ly strong­ly like into, ya, so there was a force or like a kind of direc­tion. The green­ish small par­ti­cles as they went up here (see Fig­ure 6), they also kind of spread out, kind of expand­ed in the image … but it was mov­ing, kind of mov­ing this shape, kind of open­ing up.”

In den Videodoku­menten der mikro-phänom­e­nol­o­gis­chen Befra­gun­gen kann zudem eine dem Denken voraus­ge­hende gestis­che For­mulierung des Wahrgenomme­nen nachgewiesen wer­den, bevor diese zunächst in vagen Beschrei­bun­gen benan­nt und schließlich in ein­er stim­mi­gen Ver­sprach­lichung des Gedacht­en zum Abschluss gebracht wird (Abb. 15–20). Dieser Prozess find­et in der Tit­ulierung des daraus ent­stande­nen inter­ak­tiv­en Kunst­werks The hand thinks faster than the brain seinen Nieder­schlag, das im Anschluss an das Lab zur Eröff­nung des jährlichen Sen­so­ri­um Fes­ti­vals präsen­tiert wurde.

Abb. 18–20 Auss­chnitte aus der Audioauf­nahme von Alois: “I was a bit sur­prised how it was, how sim­ple it was. I wasn´t expect­ing how small and del­i­cate it was, just dark brown. A shape that it cre­ates in my nos­tril, it was kind of like a drop of water but like you stretch it longer, like this, and, I was even sur­prised by it: ‚Why did I visu­al­ize it?‘ I think I even give it a colour in the visu­al­iza­tion, because it was still brown, and I even cre­at­ed some kind of motion blurr, of shades, I even see a bit of lines in my nos­tril. I would add on it was a com­bi­na­tion of a visu­al­iza­tion and a tac­tile feel­ing of some …, almost like the pres­ence of an object that was in my nose. So I was pay­ing atten­tion on that instead of the smell.“

Nach diesem Ein­schub komme ich abschließend auf die Ergeb­nisse der Unter­suchung zu sprechen.

Ergeb­nisse der Studie

Neben einem Mod­ell zur Ver­schränkung von The­o­rie- und Prax­is­per­spek­tive hat sich eine für jede*n zugängliche intu­itive tak­til-per­for­ma­tive Forschung­sprax­is her­aus­ge­bildet, in welch­er aus­ge­hend vom sub­jek­tiv­en Erleben auf der Ebene konkret erfahrbar­er tak­til-kinäs­thetis­ch­er (Selb­st-) Wahrnehmung, präre­flex­ive Wahrnehmungsan­teile im Prozess der Erken­nt­nis­gewin­nung und in Entschei­dungs­find­ung­sprozessen erschlossen und ver­sprach­licht wer­den kön­nen.

Die Sinnhaftigkeit der Erweiterung der mikro-phänom­e­nol­o­gis­chen Fragetech­nik um den Ein­bezug ein­er Tastkom­po­nente kristallisierte sich im Ver­lauf der Unter­suchung als zweites Stu­di­energeb­nis her­aus, da die leicht zu überse­hen­den, unauf­fäl­li­gen kleinen Gesten des intu­itiv­en Tas­tens sich trotz ihrer Unschein­barkeit als sig­nifikant für den Ver­lauf des Wahrnehmung­sprozess­es her­aus­gestellt haben. Das „In-der-Hand-Hal­ten“ eines Gegen­stands und die Ver­ankerung tak­til-kinäs­thetis­ch­er Erfahrungsebe­nen in die mikro-phänom­e­nol­o­gis­che Gespräch­stech­nik lassen einen erweit­erten Zugriff auf das Wahrnehmungs- bzw. Erin­nerungs­geschehen zu.

Mit dem Fokus und Ein­bezug tak­til-kinäs­thetis­chen (Hintergrund-)Wissens stellt diese kun­st-basierte intu­itive Forschung­sprax­is darüber hin­aus Instru­mente zum Umgang mit uner­warteten Sit­u­a­tio­nen und Befrem­dung bere­it, die es ermöglichen, über den Ein­bezug spüren­den Erlebens Trans­for­ma­tion­sprozesse in inter­diszi­plinären Forschungs­feldern ini­ti­ieren und begleit­en zu kön­nen. Übere­in­stim­mend heben Stu­di­en­teil­nehmerin­nen her­vor, dass die während des Forschung­sprozessver­laufs gewonnenen Erfahrun­gen sowohl einen verän­derten Bezug zu sich selb­st als auch eine erweit­erte Per­spek­tive auf die Ver­mit­tlung­sprax­is anre­gen.

Zusam­men­fas­sung

Das vorgestellte Mod­ell erstaunens­geleit­eter Forschung ist aus ein­er mikro-phänom­e­nol­o­gisch durchge­führten Studie über tak­til-kinäs­thetis­che Ein­flüsse auf Denken und Wahrnehmung her­vorge­gan­gen. Neben der Entwick­lung ein­er tak­til-per­for­ma­tiv­en Forschung­sprax­is zur Erken­nt­nis­gewin­nung ist über die Erweiterung der mikro-phänom­e­nol­o­gis­chen Meth­ode um eine Tastkom­po­nente neben der The­o­rie zur tak­til-kinäs­thetis­chen Entschei­dungs­find­ung eine intu­itive tak­til-kinäs­thetis­che Prax­is zur deren Anwen­dung ent­standen. Gekop­pelt an Bewe­gung ste­ht uns im Rück­griff auf das eigene kör­per­leib­liche Erfahrungswis­sen das nötige Instru­men­tar­i­um als Bezugs­größe unmit­tel­bar zur Ver­fü­gung. Die tak­til-per­for­ma­tive Forschung­sprax­is wählt einen Zugang zum Wahrnehmungs­geschehen, in der neben dem Ken­nen­ler­nen und Anerken­nen eigen­er (verin­ner­lichter) Wis­sensstruk­turen das aktive Prüfen des Wahrgenomme­nen und das ‚stim­mige‘ Tätig­w­er­den im Vorder­grund ste­hen. Kon­fron­tiert mit der hohen Kom­plex­ität des Geschehens wer­den Instru­mente bere­it­gestellt, die, anstelle ein­er Kom­plex­ität­sre­duzierung, auf die Her­aus­forderun­gen mit aktiv­er Auseinan­der­set­zung und der Öff­nung für unbekan­ntes Wis­sen reagieren und diese im Aus­tausch und im gemein­samen Tun vorantreiben.

Darüber wird der Fokus auf Prax­en gelenkt, in welchen Wis­sensaneig­nung nicht vor­rangig über visuelle Betra­ch­tung oder diskur­sive Prak­tiken geschieht, son­dern die sich expliz­it um das Spek­trum spür­baren kör­per­leib­lichen Erfahrungswis­sens erweit­ert ver­ste­hen. Mit der Anerken­nung von Ergeb­nis­sen nicht visuell geleit­eter Forschung­sprak­tiken und der Aufw­er­tung gefühlter bzw. gespürter Erfahrung in Erken­nt­nis- und Wis­senser­werb­sprozesse eröff­nen sich weit­ere Felder zur Erschließung unseres Wahrnehmungspoten­zials.

In unsere Betra­ch­tun­gen spür­bare Wahrnehmungen einzubeziehen, schafft ein kör­per­leib­lich­es Gegengewicht zum über­wiegend (audio-)visuell aus­gerichteten Ange­bot für den Wis­senser­werb. Unter diesen verän­derten Aus­gangs­be­din­gun­gen kön­nen Hand­fer­tigkeit­en in ihrem kom­plex­en Zusam­men­spiel mit kör­per­leib­lichen Regun­gen, sinnlichen Ein­drück­en und Bewe­gun­gen in Erken­nt­nis­prozesse ein­be­zo­gen und kann aufs Neue Kon­takt aufgenom­men wer­den.

 

 

Lit­er­aturverze­ich­nis

Böhme, Hart­mut: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthro­pol­o­gis­che und his­torische Ansicht­en vor­sprach­lich­er Ais­the­sis. In: Kun­st- und Ausstel­lung­shalle der BRD GmbH (Hg.): Tas­ten. Göt­tin­gen 1996, S. 185–210.

Gehlen, Arnold: Der Men­sch. Seine Natur und seine Stel­lung in der Welt. In: Karl-Sieg­bert Rehberg (Hg.): Gesam­taus­gabe. Band 3. Frank­furt am Main 1940/1993.

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Ver­m­er­sch, Pierre: Describ­ing the Prac­tice of Intro­spec­tion. In: Claire Petit­men­gin (Hg.): Ten Years of View­ing from With­in. The Lega­cy of F. J. Varela. Exeter 2009. S. 20–57.

Inter­netquellen

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[1] Die Mikro-Phänom­e­nolo­gie ist aus der Exp­lika­tion­stech­nik des franzö­sis­chen Päd­a­gogen Pierre Ver­m­er­sch her­vorge­gan­gen, die, in den 1980er-Jahren im Schulkon­text entwick­elt, im Unter­richt den Schü­lerin­nen und Schülern zu Gute kam (vgl. Ver­m­er­sch 2009). Auf­bauend auf der Exp­lika­tion­stech­nik hat schließlich Claire Petit­men­gin Ver­m­er­schs Ansatz für den Forschungskon­text adap­tiert und zunächst in der neu­rowis­senschaftlichen Epilep­sie-Forschung frucht­bar gemacht. Sei­ther find­et die Meth­ode zur Beschrei­bung von ‚lebendi­ger Erfahrung‘ (lived expe­ri­ence) in unter­schiedlichen Anwen­dungs­feldern Beach­tung (vgl. Petit­men­gin 2007, 2009, 2018).

[2] Über Tastein­drücke von Kon­sis­ten­zen, Wider­stän­den und Tiefen nehmen wir auch damit ver­bun­dene Gefüh­le von Abwehr bis zu Gefühlen höch­ster Intim­ität wahr, sodass Hart­mut Böhme ‚nicht nur die sinnlichen Wahrnehmungen, son­dern auch alle Emo­tio­nen als Abkömm­linge des Tastsinns‘ ver­ste­ht“ (Böhme 1996, 196, zit. n. Mark 2012, 133).

[3] In seinen Über­legun­gen zur Intel­li­genz der Hand (2009) betont der Sozi­ologe Richard Sen­nett ein gle­ich­berechtigtes Zusam­men­wirken von Tastsinn und visuellem Sin­nesver­mö­gen. „Mit Konzen­tra­tion, auf Grund­lage eines ‚lebendi­gen‘ Rhyth­mus – welch­er immer wieder min­i­male, den Gedanken­fluss belebende Abwe­ichun­gen voraus­set­zt –, sich in pro­duk­tiv­er, antizip­ieren­der Weise auf kom­mende Verän­derun­gen ein­stellen zu kön­nen, ist nach Sen­nett eine ‚Kun­st‘, die sich dem Wis­sen und Ver­tiefen von Hand­fer­tigkeit­en ver­dankt und damit Voraus­set­zun­gen schafft, auf die wir im tex­tilen Gestal­ten und bild­ner­ischen For­mgeben zurück­greifen kön­nen“. (Mark 2017, 89)

[4] In der Studie wur­den zwei Grup­pen von Erwach­se­nen ver­glichen, die die Auf­gabe erhiel­ten, in ein­er unbekan­nten Schrift, beste­hend aus zwanzig Buch­staben, zu schreiben. Eine Gruppe schrieb mit der Hand, die zweite an ein­er Tas­tatur. Drei und sechs Wochen später wurde die Erin­nerung an die Buch­staben sowie die Schnel­ligkeit des Erken­nens richtiger und ver­drehter Buch­staben über­prüft. Dabei wurde fest­gestellt, dass beim Lesen von Buch­staben, die durch Hand­schrift erlernt wur­den, das motorische Sprachzen­trum in der Großhirn­rinde aktiviert wird. Dies geschieht sog­ar, wenn wir eine Per­son bei ihrem Tun beobacht­en und die Bewe­gung nicht ein­mal selb­st aus­führen. Bere­its ein ver­trautes Werkzeug zu sehen, das mit ein­er bes­timmten Tätigkeits­be­we­gung assozi­iert ist, reicht zur Aktivierung aus, voraus­ge­set­zt es wur­den bere­its entsprechende Ver­net­zun­gen erstellt. Teilnehmer*innen der Gruppe, die mit­tels Hand­schrift gel­ernt hat­te, erziel­ten bessere Ergeb­nisse. Dabei stell­ten Velay und Long­camp fest, dass beim Lesen von Buch­staben, die durch Hand­schrift erlernt wur­den, das motorische Sprachzen­trum in der Großhirn­rinde aktiviert wird. Hinge­gen wurde bei Proband*innen, die auf ein­er Tas­tatur schrieben, wenig oder gar keine Aktivierung dieses Bro­ca-Are­als verze­ich­net. (vgl. Velay/Longcamp 2007).

[5] Die Studie ste­ht in der Zen­tralen Hochschul­bib­lio­thek Flens­burg zum dig­i­tal­en Down­load zur Ver­fü­gung (https://www.zhb-flensburg.de/?id=29421).

[6]  Die fol­gen­den Zeich­nun­gen wur­den dig­i­tal ver­linkt, um sie nach Anklick­en ver­größert anse­hen zu kön­nen.

[7] Descrip­tion of the project: Draw­ing from the prac­tice of microphe­nomonolo­gy, the artists focused on sen­so­ry and sub­con­scious reac­tions to a micro moment of smelling Hexa­nal, a chem­i­cal released by plants when under stress or threat. The hand thinks faster than the brain is a mul­ti­sen­so­ry sys­tem that embraces reen­act­ment of micro-moments. Micro­ges­tures are iso­lat­ed and repeat­ed on a video screen, scent mol­e­cules are released into the air, and ver­bal descrip­tions can be both heard and read. The vis­i­tor is invit­ed to reen­act and inter­act with the work, caus­ing the ele­ments to shift for clos­er focus and atten­tion.          [https://sensorycartographies.info/2019/06/27/the-augmented-attention-lab-in-bratislava/ Stand 27.11.2020]

 

 

 

Elke Mark (Dr. phil.) forscht und lehrt als freis­chaf­fende Kün­st­lerin mit den Schw­er­punk­ten Per­for­mance Art und prozes­sualer (tex­til­er) Objek­tkun­st zu Erin­nerung, sen­sorischem Wis­sen, Denken in Bewe­gung und Dialogkonzepten. Ihrem Kun­st­studi­um in Kas­sel, Madrid, Ams­ter­dam und Köln ging eine langjährige Beruf­stätigkeit als Ergother­a­peutin voraus. Als Assozi­ierte des inter­na­tionalen PAEr­sche Per­for­mance-Art-Net­zw­erks ist sie im Beson­deren an der Weit­er­en­twick­lung des gemein­samen In Process/Open Source-For­mats inter­essiert.    www.elkemark.com | www.paersche.org

  • 24. Mai 202126. Mai 2021
Babenhauserheide, M./ Eschengerd, A. B. (Hrsg.): Ver(w)ortungen. Bildungsprozesse im Rumpelstilzchen-Literaturprojekt. Eine Festschrift für Michael Hellwig. Bielefeld: Aisthesis 2020
Künstlerisch-ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund von Distanzerfahrungen: Die Chance des Routinebruchs im Rahmen einer Theorie der Wiederholung
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