Umräumen in Kunsträumen — über Kunstseminare im Lockdown
Sommersemester 2020: Eine verwaiste Hochschule. Eine Putztruppe wischt unverdrossen über Oberflächen und gegen die Vergrauung der Seminarräume an. Unter dem Putzmittelglanz werden diese Räume noch unspezifischer als sonst, sie neutralisieren sich zusehends und verweisen nur noch auf ihre potentielle Möglichkeit, es mit dem Lehrbetrieb – und mit Menschen aufzunehmen. Etwas anders die Kunstateliers: Hier sind die Oberflächen noch sprechend, zu viel wurde im Lauf ihrer Benutzung auf sie eingewirkt, als dass sie aufhören könnten von den Händen zu berichten, die an ihnen tätig waren. Arbeitsspuren, Farbspuren, Materialreste, angefangene Arbeiten. Den Kunsträumen sind Zonen und Wege einbeschrieben, die auf ständige Veränderungen verweisen. Während sich die aufgereihten Hörsäle immer mehr zu gleichförmigen abstrakten Gebilden homogenisieren, klingt aus den Kunsträumen noch immer das Echo ihrer Benutzer.
Was geschieht mit der Lehre, wenn die alltägliche Präsenz handelnder Menschen in den Räumen nicht mehr gegeben ist?
Offensichtlich lassen sich so genannte „Theorieseminare“ online vergleichsweise leicht substituieren, vielleicht gerade weil die Kommunikation in der Seminar- und Hörsaalsituation von vorne herein wenig komplex organisiert ist. Der Austausch während der Veranstaltung ist generell bipolar: Jemand spricht, die anderen hören. Im klassischen Hörsaal wird dies zur Architektur. Auf der einen Seite der/die Dozierende, auf der anderen Seite die Studierenden. Aus der Sicht des Dozierenden ein Verhältnis, das einer Videokonferenz mit seiner Kacheloptik nicht unähnlich ist. Auch hier funktionieren die Interaktionen zwischen den Studierenden und den Dozierenden in etwa gleich. Jemand spricht, die anderen hören – die Kommunikationsbedingungen in der Videokonferenz bedürfen lediglich der Fernsinne, auch dann, wenn der Bildschirm geteilt, und zusätzlich eine visuelle Ebene eingezogen wird.
In einer künstlerischen Veranstaltung ist die Situation anders, zum Dialog kommt ein dritter Akteur, das Kunstwerk. Als bildnerisches Objekt nimmt es zwangsläufig Raum ein, bietet und verlangt zugleich einen Ort und eine Position darin. Es fordert den Betrachtenden auf, einen Standpunkt einzunehmen. Die betrachtende Person kann sich bewegen und sich mit ihm ins Verhältnis setzen. Die Person kann aber auch auf das bildnerische Objekt einwirken oder in einer Performance die Grenze zwischen handelndem Subjekt und Objekt auflösen.
Rezeptives und produktives künstlerisches Handeln braucht reale Räume, auch dann, wenn der Bildschirm die adäquate Oberfläche für die Präsentation eines Kunstwerks zu bieten scheint. Auf dem Bildschirm ist das Kunstwerk kein Akteur sondern verbleibt in der Hand desjenigen, der es dokumentiert. Kein gemeinsames „Eingreifen“, oder gar Interaktion von „Hand zu Hand“ sind möglich. In Zeiten geschlossener Institutionen erscheint daher eine künstlerische Lehrveranstaltung stark eingeschränkt, zumindest, wenn sie gewohnten Mustern folgt.
In diesem Text möchte ich erste Erfahrungen mit neuen „Kunsträumen“ thematisieren. Welche Rollen können und müssen Räume in Zeiten der Vereinzelung während eines Lockdowns übernehmen? Wie lassen sich zwangsweise genutzte Privaträume redefinieren, aktivieren und transformieren? Welches Potenzial tut sich auf, wenn sich die Hochschule auf der einen Seite auf 15 Zoll komprimiert und auf der anderen Seite zu einem dezentralen komplexen Raumgefüge auffächert? Kann man aus der Vereinzelung über die digitale Kommunikation zu einer neuen, vielleicht eigenen künstlerischen Dichte in neuen Räumen finden? Das (hoch-)schuldidaktische Stichwort nach Corona heißt „Blended Learning“ (vgl. Busse 2017, Sauter 2004): Auf das künstlerische Studium gewendet bedeutet dies: Was kann man aus der Verbindung von online-Kommunikationsformen und „Handhabung“ vor Ort für die künstlerische Lehre gewinnen, wenn Handlungsräume zwar digital vernetzt sind, aber vereinzelt erlebt werden? Der radikale Lockdown im Sommersemester 2020 bleibt möglicherweise ein singuläres Ereignis. Ein Ereignis, das bisweilen besondere emotionale Betroffenheit bewirkte, bis hin zu einem Gefühl existenzieller Bedrohung. Eine Ausnahmesituation, die vielleicht auch deshalb künstlerisch zu einer anderen Qualität, möglicherweise zu einer besonderen Dichte führt.
1 Das Zimmer als Kommunikationsraum
Betrachtet man eine gewöhnliche Videokonferenz im Seminar, dann fällt in der visuellen Struktur der „Kacheloptik“ erst einmal die hierarchielose Flächigkeit der versammelten Teilnehmenden auf. Alle zugeschalteten Personen bilden einen virtuellen Raum, in den eingebetteten Rechtecken der Bildschirmausschnitte bewegen sich Köpfe, je nach Beleuchtung nur als dunkle Silhouetten. Doch bei genauerem Hinsehen eröffnet sich hinter den Figuren eine polygone Mikrostruktur. Vergleichbar mit einem Bienenstock spannen sich um jedes Individuum wabenartig Raumecken auf. Nicht selten sind es Prismen, die sich als Jugendzimmer elterlicher Dachgeschosse entdecken lassen. In diesen „Waben“ finden künstlerische Seminare statt. In den oft kleinen Zimmern wird gemalt, gezeichnet, plastiziert – und künstlerisch gedacht. Die eigenen Räume sind Behelfe, die erst einmal ihre „Handhabung“ erlernen müssen – die aber schon bald ein „neues Gesicht“ zeigen.
Im Zentrum steht hier eine künstlerische Lehrveranstaltung, in der konzeptionell künstlerisch gearbeitet wird. Das Thema heißt in diesem Semester „Antikörper“. In mehreren kurzen „Fingerübungen“ sollen die Studierenden zunächst verschiedene Aspekte untersuchen: Objekte und ihre Gegenstücke, Negativ- und Zwischenräume, soziale und materiale „Anti“-Körper etc.
Normalerweise sitzen die Studierenden im Seminarraum der Hochschule im Kreis oder kleinen Gruppen, sie sprechen über Ideen, spielen, experimentieren, assoziieren gemeinsam, zeigen sich Funde etc. Der einzige Ersatz zum direkten Austausch in der Hochschule beschränkt sich in diesem Semester auf die Studienplattform im Internet. Hier werden Bilder und Texte hochgeladen, die für alle einsehbar sind. Sie ist neben der gelegentlichen Videositzung die einzige Verbindung untereinander.
Abb. 1: Die ersten Beiträge „von Hand zu Hand“ (Thomas Heyl, Nathalie Ilg, Max Hoffmann, Madeleine Müller, Clara Walser, Katharina Pracht, Dorothee Dörffler, Liselotte Dier, Leonie Funk, Benedikta Brödlin, Nico Hensler, Daria Schleiger)
Damit die Studierenden, die sich nur teilweise kennen, miteinander direkt in Kontakt treten, soll eine Bilderkette von „Hand zu Hand“ geknüpft werden. Eine Fotografie macht den Anfang und wird an den/die Nächste(n) weitergereicht, motivisch und/oder formal aufgegriffen, transformiert und wieder weiter geschickt. So entsteht eine Art visuelle „stille Post“ (Abb.1). Gemäß dem Motto „Antikörper“ sollen jeweils gegenteilige oder reziproke Aspekt in der eigenen Bildantwort gefunden werden. Solcherart entsteht ohne ein einziges Wort ein Gemeinschaftswerk, das alle Teilnehmenden involviert und Kontakt schafft. Aus der Distanz entsteht Kommunikation nicht über Bilder sondern mitBildern. Kein Wort – stattdessen Hand: Die Hand ist hier das aktive, Werk bzw. Bild schaffende Gegenstück zum Wort und damit nicht nur Sinnesantipode zum Auge. Doch steht das „Handwerk“ nur vermeintlich im Gegensatz zum „Mundwerk“ (vgl. Janich 2015, 17). Denn beide Begriffspaare, Hand und Werkzeug bzw. Mund und Sprache charakterisieren anthropologisch den Menschen. Hand und „Wort“ sind aufeinander bezogen und nicht zuletzt auch neurologisch verbunden – „entscheidend ist … die prinzipielle Überlagerung von Zeichenpraktiken und Dinghandlungen“ (Strätling 2017, 287).
„Wie es der glückliche Zufall so will, befand sich in meinem Kühlschrank eine reife Birne. Ich denke, dass ich versucht habe aus den Gegebenheiten, welche mir in meiner eigenen Wohnung zur Verfügung stehen, das bestmöglichste Motiv und den stärksten Gegensatz zu erzeugen. Dies geschah, so denke ich, durch das genaue Wahrnehmen meiner zur Verfügung stehenden Materialien. So ähnlich bin ich auch bei den weiteren Aufgaben herangegangen und ich war schlussendlich sehr überrascht, wie kreativ man sein kann, wenn einem nicht unbedingt die Materialien zur Verfügung stehen, welche man selbst für ein Kunstwerk aussuchen würde“. (Madeleine Müller)
Das „Handwerk“ ist nicht unbedingt auf einen pragmatisch ausführenden Modus beschränkt, um einen begrifflich gefassten Gedanken, um ein Wort visualisieren zu helfen. In diesem künstlerischen Prozess ist „der Leib des Künstlers Sensorium und Apparat zugleich“ (Löhr 2011, 68). Hand als Mittlerin zwischen „Leib“ und Sprache – so auch im Beispiel dieser Bilderkette. Das Tasten, Greifen, Bearbeiten, Loslassen geht bruchlos in ein Zeigen, Präsentieren, Gestikulieren über. Gerade im Medium Fotografie lassen sich dabei die produktiven und rezeptiven Anteile erkennen. Gerade ohne begleitende verbale Unterstützung wird deutlich, dass die Handlung ebenso bruchlos in Kommunikation übergeht. Abgesehen davon, dass die Bilder nicht analog von „Hand zu Hand“ gereicht wurden, zeigt sich, dass die Hand zugleich sprachnah als Geste sowie als Motiv involviert ist. Gerade in der wortlosen Praxis kann die Hand ihre besondere Spezifik „in der Zusammenführung von Handlung und Bedeutung“ (Strätling 2017, 20) als „Zentralorgan der Kunst“ (ebda,11) geltend machen.
Die Beispiele dieser „von Hand zu Hand“-Reihe zeigt die motivische und formale Breite. Die Ideen zu einer Bildantwort im Sinne eines „Antikörpers“ werden meist ohne lange konzeptionelle Überlegungen spielerisch entwickelt und spontan und intuitiv handelnd erstellt. Die entstehende Serie zeigt aber noch etwas anderes, nämlich eine bemerkenswerte Kohärenz der Bilder untereinander. Es fällt auf, dass die entstehenden Bilder und die jeweiligen „Antworten“ weniger antithetisch angelegt sind – sie kontrastieren, aber immer auch in sichtlicher formaler Nähe zum zuvor „Gesagten“. Damit entsteht das, was man als ein gutes Gespräch bezeichnen könnte. Keine verabsolutierenden solistischen Statements, die nur ihre Einzigartigkeit herausstellen, sondern originelles Aufgreifen einer Aussage und die Belebung durch eine markante, kontrastive Idee.
Bemerkenswert, dass es dabei offenbar keine „Gesprächsregeln“ braucht, intuitiv entsteht ein Gesprächskodex. Es war ja nicht verpflichtend, ausschließlich fotografisch auf das Ausgangsbild zu antworten – oder gar im Format zu bleiben. Im ähnlichen Zugriff auf das Medium Bild zeigt sich offenbar das Bedürfnis nach einer verbindenden Bildsemantik und nach einer gleichen Syntax (vgl. Sachs-Hombach 1999 S.64), die damit zur Grundlage einer gemeinsamen Bildkommunikation werden können. Die Beiträge der Studierenden zeigen, wie sich das Bildgeschehen über bestimmte Gegensätze entwickelt, und sich dabei aber eine gemeinsame Bildsprache etabliert: In den topologischen Relationen, in Gestaltauffassungen, in der Interaktion der Farben und in motivischen Details. Die „Kategorialstruktur“ der visuellen Sprache (vgl. Dölling 1999) lässt sich übergreifend definieren, ohne die Semantik des zu Zeigenden aus dem „Blick“ zu verlieren.
Diese Gelegenheit zu einer Kommunikation mit Bildern ist durch die Situation des Lockdown begünstigt. Im „gewöhnlichen“ Seminar an der Hochschule dominiert und überformt die Verbalsprache meist die Begegnung und den Umgang mit Bildern. Wie oft werden Bilder allenfalls als Beleg des Gesagten genommen oder durch das Gesagte ihrer Eigenständigkeit enthoben?
In diesem Beispiel geht es nicht um einen anderen/neuen Kommunikationsmodus allein. Das Weitergeben von „Hand zu Hand“, der ständige Wechsel vom Bildrezipienten zum Bildproduzenten kann einen Mehrwert im Bildbewusstsein anbahnen. Bilder illustrieren dann nicht, was die Bildautorin bereits rational abgesichert hat (und in einer direkten Begegnung längst verbalisiert hat, bevor sie dazu eine Bild“sprache“ findet), sie illustrieren nicht ein weiteres Mal die empirische Welt auf eine bekannte und konventionalisierte Weise (vgl. Blell 2006 S.5). Diese Bilder haben die Chance auf eine andere – höhere? – Eigengesetzlichkeit. Das kann der Gewinn dieser dezentralisierten Situation sein, in der das handelnde Denken und nicht das sprachliche Denken im Vordergrund stehen. Ein eher seltener Moment, in dem die Äquivalenz von Bild und Sprache (vgl. Schreiber 2010) vielleicht leichter als sonst üblich einsichtig wird.
2 Das Zimmer als Motivraum
Der erzwungene Rückzug in die Wohnung als vorherrschender Handlungs- und Lebensraum wird von den Studierenden im Seminar zunächst häufig als Verlust erlebt. Die weitestgehende Reduktion auf die private „Wabe“, auf die eigenen vier Wände und manchmal auf das eigene Kinderzimmer lässt das in der folgenden Thematik ahnen. „Antikörper“ im Sinne eines Verlustes ist auch das Thema einer „Fingerübung“ im Seminar. Wie zeigt sich der Verlust an Handlungs- und Begegnungsspielräumen? Häufig ist es die Sehnsucht nach nicht erreichbaren Menschen. Ein Student macht geradezu kriminologisch in seiner Wohnung die Fingerabdrücke abwesender Menschen sichtbar, eine Studentin zeigt ein verlassenes Bett, ein eigedrücktes Kissen, oder eine andere Kommilitonin den Verlust der eigenen Kindheit, als sie, zurückgekehrt ins Elternhaus, sich dem eigenen Kinderschlitten gegenüber sieht.
Abb.2 (Dororthee Doerffler)
Eine Studentin inszeniert zu einer „Fingerübung“ ein Bild (Abb.2), das gerade aus seiner trägen Alltäglichkeit Bedeutung schöpft. Eine weibliche Rückenfigur schließt randabfallend eine den unteren Bildraum ausfüllende Sitzgruppe einer Wohnküche ab. Auf dem Tisch ein aufgeklapptes Laptop, das eine aktuelle Skypesitzung zeigt. Leibhaftig abwesende Menschen („Antikörper“, die verwaiste Sitzecke sonst beleben?) blicken in die Kamera, doch ihre Blicke erreichen nicht die Frau, die sich ihnen zuwendet. Vielmehr scheinen sie an den Betrachter gerichtet zu sein – der aber nicht reagieren kann. So steigert diese Situation das Verlustgefühl doppelt. Der Bildschirm verbreitet eine lebendige Stimmung – aber sie wird im (Bild)raum geradezu verbaut und eingekapselt. Hinterlegt von einem monochromen Kissen, umrahmt von einer getrübten und gebrochenen Farbigkeit der Wohnküche im matten Licht, steigert sich die Melancholie dieser Situation. Die schwebende Leuchte über dem Kopf der Rückenfigur kann die Szene nicht erhellen, sie geistert geradezu orientierungslos über der Weltkarte dahinter. Dieses Ensemble übersetzt die Enge und die prinzipielle Unerreichbarkeit gerade dadurch, dass es sich farbig willig in die Wohnküche einfügt und formal die Bildarchitektur bedient.
Fingerabdrücke auf gemeinsam genutzten Oberflächen, ein zerwühltes Bett, eine nicht gelingende Kommunikation – alles bildgewordene Verluste, die sich als „soziale Antikörper“ in den Zimmern der Studierenden entdecken lassen. Als Rückzugsräume und neue „Seminarräume“ werden sie zum Motiv. Sie beschränken in diesem Moment aber nicht mehr den Radius der Studierenden, sondern sie erweitern ihn. Gerade weil die gewohnte Routine des Alltags zuhause durch die Seminarsituation überlagert wird, entfalten sich die Räume durch den künstlerischen Blick. Während der gewohnte Alltag die Wahrnehmung eher zum Erliegen bringt, kann die Ausnahmesituation diese beleben. Kunst machen begrenzt sich dann möglicherweise nicht auf eine Seminarleistung, sondern entgrenzt sich auf elementare Weise:
3 Das Zimmer als „Gravitationszentrum“.
„Dieses Semester war sehr intensiv für mich … – Corona hat uns alle aus der Bahn geworfen und hat für uns alle Auswirkungen gehabt. Und auch vor allem auf die Räume, in denen wir uns bewegt haben. Wir konnten nicht mehr an die PH gehen, konnten nicht mehr in die Kunstwerkstatt gehen, um dort zu arbeiten. Und so ist mein Zimmer zu meiner Werkstatt geworden. Dort habe ich mich entfaltet. Nicht nur gedanklich, sondern auch mit allen Materialien – so dass am Ende noch kaum mehr Platz für mich selbst da war. In meinem Zimmer wurde ich sozusagen von mir selbst verdrängt. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht mehr „ich“ sein kann in meinem Zimmer wie ich es bisher war ‚– sondern dass etwas nicht Greifbares von mir in dem Zimmer war, was mir ständig im Weg gestanden ist. Und ich habe mich selbst verdrängt gefühlt. Besonders offensichtlich wurde es beim Anfang meiner „künstlerischen Konzeptionen“: Die Installation, ein Abdruck von mir selber, hing mitten in meinem Zimmer. Mehrere Tage lang. Ich habe mich durchweg – musste ich diesem Abdruck von mir aus dem Weg gehen, und konnte mich nicht mehr in meinem Zimmer bewegen, wie ich es normalerweise gewohnt war, vor allem weil ich ein sehr kleines Zimmer hab, musste ich wirklich darum herumlaufen, um die Installation nicht kaputt zu machen. … Ja, und so wurde mein Zimmer neu ausgefüllt – anders von mir ausgefüllt, eine andere Seite von mir kam zum Vorschein. Für mich hatte das etwas Geisterhaftes. Nicht „Ich“ als Person, als Körper, in nem Raum zu sein, aktiv, sondern diesem Etwas, was durch Corona ausgelöst wurde, Raum schaffen zu müssen, da ich diesen Raum nicht mehr außerhalb meines Zimmers oder meiner Wohnung hatte. Ja, und so ist meine künstlerische Konzeption entstanden, dass ich das Gefühl hatte, alles dreht sich in meinem Zimmer um mich, obwohl das nicht mehr ich selber bin. Mein Zimmer wurde zum Gravitationszentrum.“ (Stefanie Rudolf)
Die eigenen vier Wände wandeln sich unter den Bedingungen der Onlinelehre. Sie beschränken einerseits den Aktionsradius geradezu retrodynamisch, wenn das eigene WG-Zimmer aufgegeben und das einstige Jugendzimmer bei den Eltern wieder bezogen wird. Der Raum mit seinen realen Begrenzungen und mit seinen digitalen Schnittstellen wird in der erzwungenen Alltagspraxis auf der anderen Seite neu wahrnehmbar, neu vermessen und neu belebt. Gerade die „raum-zeitlich lokalisierte Interaktion“ (Tervooren et al. 2018, 8), die gemeinsame „Vorgeschichte“ zwischen Personen und Dingen in vertrauten Räumen erscheint als eine unverhoffte Quelle für die künstlerische Arbeit. Dann steht man nicht nur „in touch“ mit den Oberflächen und screens sondern ist „handfest“ herausgefordert: Platz schaffen, Umschichten, Umräumen.
Räume sind nicht nur strukturell (als „Jugendzimmer“ „Wohnzimmer“ etc.) definiert, sie entstehen und verändern sich gemäß der sozialen Praxis (Schnoor 2018, 72) – und im künstlerischen Prozess. Das WG-Zimmer kann sich zu einem künstlerischen Werk- und Aktionsraum verwandeln, ein früheres Jugendzimmer kann als liminales Gehäuse wiederbezogen, künstlerisch exploriert und „handgreiflich“ in einen neuen Schwebezustand überführt werden.
Anders als in den pädagogisch gedachten, funktionalen „Behälter-Räumen“ (Schnoor 2018, 64) einer Hochschule, in denen man sozial und strukturell habitualisiert im 90-Minuten-Rhythmus künstlerische Konzepte verbalisiert und mit künstlerischem Material hantiert, gilt es, sich in den ge“wohn“ten Umgebungen neu zu orientieren, neue Schneisen zu schlagen – auch geistig. Das bedeutet erst einmal sich mit den Dingen, die „immer schon da“ waren, neu ins Verhältnis zu setzen: Sie auf den Kopf zu stellen oder sich selbst:
Abb.3 Nina Petit
Wird das eigene Zimmer zu einer Werkstatt, gilt es findig zu werden. Klassische bildnerische Verfahren lassen sich in einer solchen Situation nicht immer „werkgerecht“ durchführen – vielleicht auch, weil man sie gar nicht kennt – oder sie gar nicht erst kennen lernen möchte.
„Ich habe, um die Tonstücke miteinander zu verbinden, Acrylfarbe, Nagellack, einen Holzspieß und Ölfarbe verwendet. Da ich ja keinen Zugriff auf »seriöse« Materialien bzw. auf jemanden, der mir zeigen kann, wie man es sonst machen würde, hatte, habe ich mich von den Materialen leiten lassen. Ich habe geschaut, was spricht mich an dem Material an, wie hätte ich es gern und wie lässt sich das ändern. Daher der Weg von Acryl zu Öl zu Nagellack. Dabei habe ich versucht, das glänzende im Kontrast zum Ton zu betonen. Und ich habe eben auch in meinem Alltag nach möglichen Materialien Ausschau gehalten“. (Stefanie Rudolf)
Abb.4 Stefanie Rudolf
Die Studentin beschreibt „wilde“ Experimente in ihrer Zimmerwerkstatt. Verbindungstechniken werden erfunden. Sie funktionieren nicht unbedingt, aber sie entwickeln unversehens eine eigene Poesie. Die Studentin liest keine Verarbeitungshinweise, sondern lässt sich von den Werkstoffen ästhetisch ansprechen (Abb.4). Sie kreist in ihrer Umgebung, ihr fallen Gegenstände und Materialien „in die Hände“, die sie abwägt, austestet. Sie findet „Problemlösungen in variablen Situationen“ (Weinert 2001, 27) indem sie, statt einem Tutorial zu folgen oder in einer Rückversicherung an den Werkstattlehrenden die „richtige“ Technik zu erfragen, improvisiert, und sich dabei auf den Ursprungsbegriff „techné“, als Mittel zum Erreichen eines individuellen Zieles besinnt. Auf dem Weg dorthin gewinnt die Studentin einen unerwarteten ästhetischen Überschuss, wenn Acrylfarbe und Nagellack beginnen, sich über ihre technische Funktion hinaus formal wirksam einzubringen. Einschränkung und Reduktion auf der einen Seite, Überschuss auf der anderen – dazwischen eine Akteurin, die nicht Denk- und Handlungsschemata reproduziert, sondern unmittelbar auf die Gegebenheiten der Situation reagiert, sie transformiert und deren Veränderung sensibel wahrnimmt und reflektiert. Damit wird nicht nur der Raum redefiniert, auch die Handlungs- und Verarbeitungsroutinen sind darin (vorrübergehend) ausgesetzt. Die begrenzten strukturellen Voraussetzungen sind zwar eingeschränkt, aber nicht hinderlich. Sie bergen kreatives Potenzial, wenn sie auf eine entsprechend disponierte Person treffen, die sich darauf angstfrei oder sogar besonders motiviert einlassen kann.
Die Bereitschaft, sich zur Kreativität zu entscheiden, reduziert sich dabei nicht auf solch klassische Problemlösungen (vgl. Brodbeck 1999, 31), sondern zeigt sich in der Wahrnehmung und Deutung unerwarteter und komplexer Situationen. Als „besonders wache und achtsame Arbeit“ (ebda. 13) beschreibt Brodbeck die Bedingung, unter der gerade im Alltag das Neue entdeckt wird. Wenn der Alltag von außen „gewaltsam“ transformiert wird, lassen sich möglicherweise leichter Handlungsroutinen ablegen, und man kann sich eher auf situative Modalitäten des Wahrnehmens, Denkens und Empfindens (vgl. ebda. 35) einlassen. Wenn das eigene Zimmer zwangsweise zum ständigen Verweil- und Handlungsort wird, und das „Alte“ und Vertraute mithin durch unerwartete Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen neu codiert wird – dann haben schlichtweg alle Dinge und Gegebenheiten das Potenzial für eine kreative Neudeutung – in situ:
Abb. 4 – 8 Tim Tobian
Ein Student (Tim Tobian) beschäftigt sich mit seinem Zimmer, in dem er ein halbes Jahr sehr viel Zeit verbracht hat. In dieser Zeit war er dort viel allein. „Ich habe … das Zimmer mit Aluminiumfolie ausgekleidet und die Körperteile von den Menschen, die in den letzten sechs Monaten in dem Zimmer waren … abgeformt.“ Die Folie legt sich einerseits als „Antikörper“ wie Mehltau auf die Oberflächen – andererseits schützt sie sie auch und bewahrt sie vor der Vergänglichkeit. Der Student assoziiert damit sowohl überzeitliche Konservierung wie den Ascheregen beim Untergang Pompejis, als auch Gefahrenabwehr durch das „schützende Aluminium“, wie er schreibt. Die Hülle versucht die Lebendigkeit der Menschen zu erfassen – und zu bewahren:
„Diese Menschen haben alle etwas in diesem Raum hinterlassen, in dem ich das letzte halbe Jahr sehr viel Zeit verbracht habe. Doch diese Eindrücke, die sie hinterlassen haben, sind mit der Zeit verschwommen, die Körperlichkeit verschwindet langsam und es bleiben nur noch Zwischenräume, alles wird gleich, und es fällt immer schwerer, Mensch und Objekt zu unterscheiden.“ (Tim Tobian)
Gerade dann, wenn ein Raum nicht pädagogisch gedacht und seine einzige Bestimmung nicht konzeptionell auf künstlerische Verfahren bezogen wird (vgl. Dirks 2018, 123), lässt er sich erst einmal unbelastet und damit neu wahrnehmen. Räume sind nicht nur das Resultat konzeptioneller/architektonischer Überlegungen, sondern entstehen erst in der sozialen, kommunikativen und künstlerischen Praxis. Umgekehrt wirken sie auf die Praxis ein. Möglicherweise hat das Virus aus dem Jahr 2020 neue Räume eröffnet – und nicht nur alte verschlossen.
Abb.9 Gina Maria Bing
Literatur
Blell, Gabriele: Seeing comes before words, and can never be quite covered by them – zum Verhältnis von (Kunst-)Bildern und Sprache. In: Drexler / Klinger (Hg.): Bilderwelten – Strategien der Visualisierung in Wissenschaft und Kunst. Trier 2006, S.3–24.
Busse, Birgitta / Bargel, Tino: Befragungen zu E-Learning an Hochschulen – Erfahrungen und Sicht der Studierenden. Hefte zur Bildungs- und Hochschulforschung. Konstanz 2017.
Brodbeck, Karl-Heinz: Entscheidung zur Kreativität – Wege aus dem Labyrinth der Gewohnheiten. Darmstadt 1999.
Dirks, Sebastian: Raum(re)produktion einer zukünftigen Bildungslandschaft. In: Tervooren/Kreiz (Hg.): Dinge und Raum in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung. Opladen, Berlin, Toronto 2018, S.119–137.
Dölling, Evelyn: Kategorialstruktur ikonischer Sprachen und Syntax der visuellen Sprache. In: Sachs-Hombach/ Rehkämper (Hg.): Bildgrammatik – Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Magdeburg 1999, S.123–134.
Janich, Peter: Handwerk und Mundwerk – über das Herstellen von Wissen. München 2015.
Löhr, Wolf-Dietrich: Von Gottes „I“ zu Giottos „O“ – Schöpferhand und Künstlerkörper zwischen Mittelalter und früher Neuzeit. In: Bilstein / Reuter (Hg.): Auge und Hand. Oberhausen 2011, S.51–76.
Sachs-Hombach, Klaus: Gibt es ein Bildalphabet? In Sachs-Hombach/Rehkämper (Hg.): Bildgrammatik – Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Magdeburg 1999, S.57–66.
Sauter, Annette/Sauter, Werner: Blended Learning. Effiziente Integration von E-Learning und Präsenztraining. Neuwied 2004.
Schnoor, Oliver: Innen und außen; still und bewegt; niedrig und hoch. Zu einer multimodalen Praxeologie räumlicher Unterscheidungen. In: Tervooren / Kreiz (Hg.): Dinge und Raum in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung. Opladen, Berlin, Toronto 2018, S.55–80.
Schreiber, Peter: Bild und Text als Informationsträger – Gemeinsamkeiten und charakteristische Unterschiede. In: Nortmann / Wagner (Hg.): In Bildern Denken? Kognitive Potenziale von Visualisierung in Kunst und Wissenschaft. München 2010.
Strätling, Susanne: Die Hand am Werk. Paderborn 2017.
Tervooren, Anja / Kreiz, Robert: Dinge und Raum in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung. Opladen, Berlin, Toronto 2018.
Weinert, F. E. (Hg.): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim und Basel 2001.
Thomas Heyl ist Professor für Kunst und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.