Wenn Grundschüler_innen die Musik Geschichten schreiben lassen – Aufmerksamkeitsbildung im Musikunterricht für das Musikhören
Ist es an der Zeit, wieder aufmerksam auf den Begriff Aufmerksamkeit zu werden?
„Kann ich hiermit Musik machen?“ Mit dieser Frage beginne ich eine Musikstunde in einer ersten Klasse und halte dabei eine kleine Stimmgabel in der Hand. Die Schüler_innen sitzen im Kreis, und während ich langsam von Kind zu Kind gehe, haften immer mehr Blicke an diesem kleinen merkwürdigen silbernen Ding. Nach und nach eröffnet sich ein Raum der Stille, in dem eine weitere Frage ihren Platz hat: „Wer möchte einmal lauschen, ob es wirklich klingen kann?“ Die Arme schnellen nach oben. Ich schlage die Stimmgabel an und halte sie an das Ohr eines ersten Kindes, auf das nun die Blicke der anderen gespannt gerichtet sind. Als würde es ein Geheimnis hüten wollen, antwortet dieses Kind ohne Worte, mit einem unmittelbaren strahlenden Lächeln. Inzwischen haben alle Erstklässler im Raum den Arm gehoben. Gab es wirklich einen Ton? Kaum zu glauben, denn trotz größter Bemühungen, aufmerksam hinzuhören, hat nur dieses eine Kind mit seinem stummen Nicken beteuert: „Ja, es klingt wirklich!“ Ich verspreche, den Kreis entlang nun die Stimmgabel an jedes neugierige, zugewandte Ohr zu halten. Das Lächeln geht von Kind zu Kind. Manche nicken sich dabei zu. Immer schwerer fällt es den Schüler_innen, die noch nicht an der Reihe sind, die Spannung des Wartens und Er-wartens auszuhalten. Es wird bewegter und bleibt doch überraschend still.
Dass sich 2015 ein Autor_innen-Team zu einem Workshop allein zum Thema Aufmerksamkeit zusammenfindet und die Ergebnisse ihrer vorwiegend pädagogischen Betrachtungen in einem Band aus verschiedenen Perspektiven (Geschichte, Theorie und Empirie) diskutiert, zeigt, dass der Begriff längst in den Diskurs über Lehren und Lernen zurückgekehrt ist. Aus gesellschaftskritischen Analysen geht hervor: Aufmerksamkeit ist längst zur eigentlichen Währung der modernen Mediengesellschaft geworden. Ein kostbares Gut, um das sich fast alles zu drehen scheint. Dabei sind die Inhalte immer mehr in den Hintergrund geraten, so sagt es u. a. Jochen Kade.[1] Aufmerksamkeit ist selbstreferenziell geworden; der Aufmerksamkeitsbegriff hat sich im Hinblick auf Gebrauch und Bedeutung verändert. Um nicht der Fülle schneller Eindrücke ausgeliefert zu sein, entwickeln unsere Heranwachsenden Strategien der Selektion oder brauchen bisweilen Unterstützung, um sich zu orientieren. Wie können wir ihnen dabei helfen, bei der Vielzahl an simultanen Eindrücken selbst zu entscheiden, aufmerksam für etwas Bestimmtes zu sein und zu bleiben?
Der Pädagoge Malte Brinkmann ist der Überzeugung, dass Aufmerksamkeit, die wir seit Hegel als Anfang von Bildung begreifen, ein Können ist, das geübt werden kann.[2] Hat der Musikunterricht hier nicht einen neuen Auftrag bekommen?
In Verbindung mit einem Nachdenken über Prozesse der Aufmerksamkeitsbildung möchte dieser Beitrag das Musikhören im Grundschulmusikunterricht in den Blick nehmen.[3] Dabei soll der aktive Aspekt des Aufmerksamwerdens den passiven nicht übertönen, liegt es doch in der Spezifik der musikalischen Wahrnehmung, dass auch immer etwas mit uns geschieht, wenn wir aufmerksam werden. Der Anfang des Lernens wird, mit Meyer-Drawe gesagt, mit uns gemacht.[4] Dies geschieht insbesondere beim Hören von Musik.
Mit dem Musikhören ist das Phänomen der Aufmerksamkeit in vielerlei Hinsicht besonders eng verbunden. „Künste sind immer auch Aufmerksamkeitskünste“, so Waldenfels.[5] Im Vergleich zur sichtbaren bildenden Kunst, können (hörend) Musik-Wahrnehmende aber weniger selbstbestimmt entscheiden, ob sie aufmerken wollen. Musik kann Hörende zum aufmerkenden Wahrnehmen herausfordern, bevor sie dies selbst tun.
Der Musikunterricht der Grundschule ist ein Ort, an dem Voraussetzungen für aufmerksames Musikhören geschaffen resp. erhalten und ausgebaut werden können. Die unterschiedlichen individuellen Vorerfahrungen der Lernenden und der Grad der Komplexität der Musik gehören zu den vielen Faktoren, die sich auf die Qualität des Musikhörens auswirken.
Musik ist in der Lebenswelt der Kinder allgegenwärtig. Der Zugriff zu jeglicher Musik ist mühelos. An fast allen Orten kann Klingendes mit wenigen Klicks angewählt werden. Doch wie frei sind die jungen Hörenden tatsächlich in der Auswahl der Inhalte, für die sie sich entscheiden?
Auf der Suche nach Möglichkeiten, Kinder darin zu unterstützen, selbstbestimmt zu hören, und im Zuhören aufmerksam zu bleiben, habe ich im Rahmen einer Unterrichtseinheit in der ersten Klassenstufe eine Vorgehensweise entwickelt, die ich in diesem Beitrag darstellen und mit Bezug auf den pädagogisch-phänomenologischen Aufmerksamkeitsbegriff diskutieren möchte. Mit meiner Untersuchung gehe ich vor allem folgenden Fragen nach:
Wie kommt es zur Bildung von Aufmerksamkeit für das Hören von Musik im Musikunterricht? Wie lässt sich die Aufmerksamkeit der Schüler_innen im Prozess der Auseinandersetzung mit einem Musikwerk so halten, dass sich ihre musikalischen Wahrnehmungen immer weiter vertiefen und intensivieren?
Wie können die Schüler_innen dazu angeregt werden, ihre eigenen Wahrnehmungen zu reflektieren und sprachlich zu kommunizieren?
Die Unterrichtseinheit wurde an der Grundschule einer Stadtteilschule durchgeführt. Ein großer Anteil der Schüler_innen der Klassen lernt Deutsch als Zweitsprache. Außerdem handelt es sich um inklusive Klassen, in denen auch Schüler_innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung beschult werden. Aufgrund der sozialen Situation der Elternhäuser wird ein Großteil der Schüler_innen außerhalb des Schulalltags nicht musikalisch gefördert.
Einblicke in Situationen des gemeinsamen Musikhörens im Rahmen einer Unterrichtseinheit der ersten Klasse
„Bitte mach die Musik nicht aus, ich muss unbedingt wissen, wie es weitergeht!“, ruft eine Erstklässlerin und springt von ihrem Stuhl auf. Zuvor sind sich alle einig: Gerade hat sich der Schneehase vor dem Luchs in Sicherheit gebracht. Oder kommt er ihm doch auf leisen Sohlen hinterher? Während der erste Satz von Tschaikowskis 1. Sinfonie (auch bekannt als „Winterträume“) durch den Musikraum tönt, hält es die Kinder im Sitzkreis kaum auf ihren Plätzen. Manche meinen zu hören, wie sich der Schneehase im Gebüsch versteckt und den Luchs auslacht, der ihn vergebens sucht. Andere zeigen Hasen- oder Luchsohren, um daraufhin zuweisen, wer ihrer Meinung nach bei der Verfolgungsjagd die Nase vorne hat. Die Schüler_innen haben nur eine Hand voll Informationen über das Leben von Schneehase und Luchs bekommen, um ihre eigene Geschichte auszugestalten. Sie wissen, der Luchs hat gute Ohren und ist ein geschickter Jäger und Einzelgänger, warum der Schneehase ein weißes Fell hat und dass er mit seiner Familie in den Bergen wohnt, wo er sich Höhlen baut. Und sie wissen, dass Luchse ihre natürlichen Feinde sind. Alles andere erzählt ihnen die Musik – schon mit dem spannungsvollen leisen Streichereinsatz, meinen sie mit Sicherheit behaupten zu können, wie viele Schneehasen wo leben, wann der Luchs ihnen über den Weg läuft und in ihr heiteres und ruhiges Leben spannungsgeladene Episoden einziehen lässt. Indem die Schüler_innen sich über ihre Höreindrücke und Ideen zum weiteren Verlauf der Geschichte untereinander austauschen, werden ihre musikbezogenen Wahrnehmungen immer schärfer und konkreter. „Wann genau, woran hörst du das?“, sind Fragen, die hierbei gestellt werden. Nach einem ersten Kennenlernen des gesamten ersten Satzes wird die Musik im Klassenverband immer genauer „unter die Lupe genommen“. Dabei wird sie zugunsten einer präzisen Verständigung in einzelne musikalische Episoden unterteilt, hin und wieder angehalten und kurzzeitig unterbrochen. Mitunter werden auch längere Abschnitte wiederholt, um die gefundenen Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der Geschichte zusammenzufassen und abzusichern. Der gesamte Prozess bis zum Beenden der Geschichte durch die Kinder, erstreckt sich über ca. fünf Unterrichtsstunden, aufgrund der Einstündigkeit des Faches verteilt auf fünf Wochen. Darin enthalten sind ebenso Phasen, in denen die Schüler_innen erst ihren ganz eigenen individuellen Klangdeutungen nachgehen können. Hierbei wird das Hören beispielsweise durch das Malen mit weißem Buntstift auf dunkelblauem Papier begleitet. Auf diese Weise werden die Kinder angeregt, zuerst eigene Erwartungen an den Fortgang der Musik zu entwickeln, die – ob schließlich erfüllt, irritiert oder verändert – immer weiter Gesprächsanlässe im Unterricht bieten. Abschließend wird die fertige Geschichte in zehn Szenenbildern festgehalten, die in den Folgestunden beim Musikhören betrachtet werden.[6] Während die Kinder erneut den ganzen Sinfoniesatz hören, sortieren sie ihre Bilder, bringen sie in die verhandelte Reihenfolge oder blättern an der Medientafel zur entsprechenden Stelle in der Musik weiter.[7]
Das gesamte Vorgehen wird parallel dazu mit einer weiteren ersten Klasse durchgeführt, so dass die Unterrichtseinheit schließlich damit beendet werden kann, dass beide Parallelklassen zur Musik die jeweils andere Schneehasen- und Luchsgeschichte kennenlernen. Wie vielfältig die Möglichkeiten von musikbezogenen Deutungen sind, haben die Schüler_innen hierbei erfahren. Erwartungsgemäß bevorzugen die Klassen ihre jeweils eigene Geschichte, auch wenn sie die Geschichten der anderen Klasse in Bezug auf die Musik auch als stimmig empfinden und mit Interesse verfolgen.[8]
Wie lässt sich Aufmerksamkeitsbildung in der Praxis des Musikhörens anregen?
Im Rahmen des schulischen Unterrichts erscheint uns Aufmerksamkeit als Phänomen in verschiedenen Zusammenhängen – das „Aufmerksamsein“ haben wir als Ziel unseres pädagogischen Handelns im Blick, das „Aufmerksamwerden“ als Weg dahin. In Bezug auf das „Aufmerksammachen“ eruieren wir Möglichkeiten unseres Handelns, erleben und versuchen vorauszusehen, wie Dinge oder Phänomene auf Lernende wirken.[9] Aber auch die Art und Weise der Lehrenden, aufmerksam zu sein, spielt im pädagogischen Geschehen eine Rolle. Kinder beobachten, worauf Lehrende achten, lassen sich durch ihr Aufmerksamsein anstecken oder fordern Aufmerksamkeit ein.
Aufmerksamwerden und –sein sind dabei nicht nur willentlich bewusste kognitive Akte, sie enthalten immer auch passive Aspekte und sind Prozesse, „die sich konkret im Ausdruck des Leibes […] auffinden lassen“.[10] Sie „oszillieren zwischen Selbstführung und Fremdführung.“[11]
Mit der Unterteilung in drei Phasen des Aufmerksamwerdens – dem Auffallen, Aufmerken und Bemerken – zeigt Brinkmann auf, dass mit einer Zunahme der Intensität von Wahrnehmung unterschiedliche Qualitäten von Aufmerksamkeitserfahrungen verbunden sind.[12] Indem er den Prozess des Aufmerksamwerdens in den Blick nimmt, tritt die Erfahrung der Lernenden und weniger das Ergebnis oder eine konkrete Kompetenz in den Vordergrund.[13] Da ich die Untergliederung des Prozesses des Aufmerksamwerdens im Hinblick auf das Musikhören für interessant halte, möchte ich sie im Folgenden zunächst mit Bezug auf Waldenfels und Brinkmann erläutern und dann auf den beobachteten hörenden Umgang der Kinder mit dem ersten Satz der Sinfonie Tschaikowskys übertragen (kursiv).
Das Auffallen beschreibt Brinkmann als zunächst ungerichteten, unthematischen Akt, „in dem etwas wahrgenommen wird, was vorher nicht gesehen, gerochen, geschmeckt, gefühlt oder gedacht wurde.“[14] Hier geschieht eine generelle Öffnung für das Ereignishafte, es lässt sich auch von pathischer Wahrnehmung sprechen.
Das Einsetzen der Musik sowie das Angebot von Informationen in Form von Wortbegriffen, geknüpft an die allgemeine Aufgabenstellung, zur Musik eine Geschichte zu erfinden, haben Aufforderungscharakter. Es kommt zur Bildung erster vager Vorstellungen von narrativen Zusammenhängen.
Das Aufmerken gleicht in der Verschränkung von Eigenem und Fremdem einer beginnenden Doppelbewegung, die zunehmend auf etwas gerichtet und fokussiert ist. Sie führt nicht nur zum Ich hin, sondern auch von ihm weg.[15]
Die Unvollständigkeit der Szenen lässt eine Spannung entstehen. Wie geht es weiter? Das bewirkt, dass die Kinder zielstrebiger hören und dabei aktiv nach Anhaltspunkten zur weiteren Rahmensetzung der Geschichte suchen.
Im Bemerken ist das Ich in der Wahrnehmung noch stärker auf etwas gerichtet, fokussiert bis polarisiert. Es findet eine „Reliefbildung“[16], in Form einer Konzentration auf ein Thema oder Themenfeld statt. Damit kann sich eine „Umorganisation des Erfahrungsfeldes“ vollziehen.[17] In der Wahrnehmung der Kinder findet eine Reliefbildung statt. Sie greifen musikalische Merkmale und Formelemente in Verknüpfung mit ausgewählten Wortbegriffen heraus, da sie diese als zur Geschichte passend empfinden. Die Bewegungen ihrer Wahrnehmungen nehmen an Intentionalität zu; die Bewusstwerdung wahrgenommener Sinnzusammenhänge und Formen geht mit einer sprachlichen Konturierung einher.
Insgesamt lässt sich das Aufmerksamwerden und –sein mit Brinkmann auch als „Praxis des Selbst“[18] bezeichnen, da es ohne eine primäre aktive Beteiligung der wahrnehmenden Person, die von etwas affiziert wird, nicht denkbar ist.
„Um Aufmerken und Bemerken auf eine gewisse Dauer zu stellen, d.h. um Aufmerksamwerden in Aufmerksamsein zu überführen, bedarf es eines Könnens. Das Aufmerksamsein-Können ist daher zunächst als eine Praxis des Selbst zu beschreiben.“[19]
Dieses Können setze eine Haltung voraus, die durch Üben erworben werden kann, so Brinkmann.[20]
Judit Bartel macht im Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsbildung auf die zentrale Rolle des Zeigens aufmerksam.
„Wenn jemand uns etwas zeigt, so werden wir dadurch veranlasst, unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Phänomen in unserer Umwelt zu richten. Indem wir auf etwas aufmerksam gemacht werden, nehmen wir es häufig überhaupt erst wahr. Wenn der Zeigende uns zum Gezeigten noch eine Geschichte erzählt, kann diese uns als Hinweis (,clue’) dienen, worauf es sich besonders zu achten lohnt.“
Sie spricht von der „Initiierung einer selbständigen Entdeckung beim Lernenden“ durch Akte des Zeigens.[21]
In der beschriebenen Unterrichtssequenz sind verschiedene Gesten des Zeigens wirksam. Die Kinder zeigen mit konkreten sichtbaren Bewegungen, was sie hörend in der Musik bemerken. Auch ihre verbalen Beschreibungen zeigen rückblickend und vorausschauend, was sie entdeckt haben und was sie zu entdecken erwarten. Letztlich zeigt die Musik selbst, was in ihr geschieht und wie die musikbezogene Geschichte verläuft — so wird es von der Lehrkraft für die Schüler_innen angekündigt und inszeniert.
Lässt sich die Bewegung der Aufmerksamkeit durch den Wechsel von Blickrichtungen erhalten?
Dass wir im Prozess der Aufmerksamkeit Zeitlichkeit erfahren, wird besonders deutlich im Begriff der Erwartung. Unsere Erwartungen, das Warten auf ein vermutlich eintretendes Ereignis, unsere Ahnungen und Vor-Urteile sind Ausdruck empfundener Zeitlichkeit. Im Bilden von Erwartungen zeigt sich die Aktivierung des Selbst, das Wenden hin zur Verlaufsrichtung des Prozesses, in dem sich Aufmerksamkeit bildet. Das Besondere im Aufmerken ist, so beschreibt es Bernhard Waldenfels, dass wir in unserem zeitlichen Empfinden überrascht beziehungsweise irritiert werden, da uns etwas begegnet, das unsere Aufmerksamkeit lenkt, bevor wir es bemerken. „Was auf uns zukommt, findet sich, bevor es gesucht wird“.[22]
„Für das, was in der Erfahrung vorfällt, besagt dies, daß alles, was uns widerfährt, gemessen an den Erwartungen, die wir hegen, stets zu früh kommt, so wie jede Antwort, die wir geben, zu spät kommt.“[23]
Aus Waldenfels’ Beschreibung lässt sich ableiten, dass der Prozess der Aufmerksamkeitsbildung stets aktive und passive Momente enthält. Es bedarf einer gewissen Aktivierung und intentionalen Ausrichtung, einer einsetzenden Suchbewegung hin zu den Phänomenen sowie in uns eine Empfänglichkeit für das Finden von Antworten, mit denen wir nicht gerechnet haben. Wir haben lediglich damit gerechnet, dass wir eine Antwort erhalten. Wie die musikbezogene Geschichte genau weiter verläuft, bleibt bis zuletzt überraschend, auch wenn die gebildeten Erwartungen der Hörenden immer konkreter werden. Indem sich die Kinder hörend der Musik zuwenden, entscheiden sie sich, auf etwas zu warten und dafür Zeit passieren zu lassen. Dieses Warten hat dabei aktive Züge. Die Schüler_innen sind an einem Prozess beteiligt, der schöpferisch ist, da das, was eintritt, diese Aktivität voraussetzt. Diese Aktivität macht sich in einer Spannung bemerkbar, die entsteht, zunimmt und gehalten wird. Sie entspringt nicht nur aus der beschriebenen Suchbewegung heraus. Auch Momente des Findens und Antwortens können Erwartungen hervorrufen, die wiederum neue Spannungen entstehen lassen. Waldenfels prägt hierfür das Bild des Spannungsbogens, das den intentionalen Charakter der Aufmerksamkeitsbildung zum Ausdruck bringt: „(…) [D]ie Aufmerksamkeit hat ihren Ort in dem Spannungsbogen, der von dem, was uns widerfährt und anspricht, hinüberführt zu dem, was wir zur Antwort geben.“[24]
Je konkreter die Erwartungen der Kinder an die Weiterentwicklung der Geschichte entlang der Musik werden, umso gespannter wird die Atmosphäre des aufmerksamen Hörens im Unterricht. Ganz deutlich zeigt sich beispielsweise das Gespanntsein einer Schülerin, die in dem Moment, in dem ich mich der Musikanlage nähere und sie vermutet, dass ich die Musik gleich unterbrechen werde, aufspringt und ausruft: „Mach die Musik nicht aus, ich muss unbedingt wissen, wie es weitergeht!“
Erwartungen beruhen auf Erfahrungen. Worauf beziehen sich aber die Erfahrungen der Kinder, wenn sie weder erfahrene Sinfonie-Hörer_innen sind noch bisher in Kontakt mit einem Schneehasen oder Luchs kamen? Handelt es sich auch um musikalische Erfahrungen, die die Hörenden erst im Rahmen der Unterrichtseinheit sammeln und die zu immer neuen Erwartungen an die Musik führen?
Susanne K. Langer geht davon aus, dass eine bereits erlebte Szene in uns einen „Erinnerungsniederschlag“ zurücklässt. Dieser diene uns in einer später erlebten ähnlichen Szene als Maßstab. Damit dies geschieht, müssen beide Szenen eine Ähnlichkeit in etwas aufweisen.[25] So betrachtet können auch von der Musik und der Geschichte um Schneehase und Luchs losgelöste Erfahrungen aus bereits erlebten Szenen im Leben der Kinder sein, die sie auf etwas in der Musik aufmerken lassen und mit ihren Erwartungen an den Fortgang der Musik als Geschichte (noch) ohne Worte verbinden. Die Kinder kennen Abläufe des Sich-Jagens, des Gewinnens und Verlierens, haben die Wucht der Stärke gegenüber eines Schwächeren erlebt, fühlen, was Schutz und Geborgenheit ist und übertragen es auf die Musik, in dem sie sich einen Hasenbau, in dem anheimelnd die Kerze leuchtet „zurechthören“ oder fühlen, was Zusammenhalt durch Freundschaft und Familie bedeutet. Auch haben sie die Erfahrung des Träumens gemacht und können die ihnen darin widerfahrenen Erlebnisse reflektieren. Mit Meyer-Drawe ließe sich vermuten, dass die Kinder beim Hören der Musik und im Erfinden der Geschichte auf Phänomene aufmerksam werden, die sie schon immer erlebt und lebend verstanden, sich aber bisher noch nicht oder selten bewusst gemacht haben.[26]
Maurice Merleau-Ponty gebraucht für den Moment des Aufmerksamwerdens auch den Begriff der Ahnung. Demnach werden wir dann aufmerksam, wenn wir eine Ahnung von etwas haben, aus der heraus wir gewisse Erwartungen generieren, die jedoch noch so unspezifisch und vage sind, dass sie uns zum Akt der (intentional gerichteten) Wahrnehmung bewegen. So müssten es also gerade die vagen und unvollständigen Vorstellungen sein, die das aufmerksame Musikhören unterstützen und die Kinder ein Vorgefühl entwickeln lassen.
In Bezug auf die Frage, wie Aufmerksamkeitsbewegungen im Rahmen des Musikhörens gehalten werden können, möchte ich nun den Aspekt des Richtungswechsels ins Spiel bringen.
Meine Beobachtungen lassen mich vermuten, dass die Bewegung der Aufmerksamkeit nicht nur in eine Richtung erfolgt, sondern dass gerade Richtungswechsel dazu beitragen, dass Aufmerksamkeit gehalten beziehungsweise immer weiter angestoßen wird. Ein Richtungswechsel kommt dadurch zustande, dass der Wahrnehmungsprozess in wechselndem Maße mal stärker durch die Musik (das zunächst Fremde), mal mehr durch das wahrnehmende Kind selbst, das sich auf zunächst Vertrautes bezieht, beeinflusst wird. Was zunächst, mit Bezug auf Brinkmann (s.o.) vorrangig eine Bewegung vom Selbst hin zur Sache ist, wird zunehmend ein Aufmerken auf das, was die Sache zu bieten hat, bis hin zum Anbahnen von Ästhetischer Aufmerksamkeit als Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung, der Bewegung der Re-flexion, also einem Zurückschauen.[27] Während das Erwarten und Ahnen vom Ich hin zur Sache und vom Jetzt in die Zukunft weisen, kann in Momenten des Nachdenkens, des Re-flektierens und schließlich im bewussten Bilden von sprachlichen Zusammenhängen in Anlehnung an musikalische Wahrnehmungen ein Anhalten oder Rückblicken erlebt werden. Im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Musikstück geben die in einem Moment des kurzen Verweilens oder Zurückblickens gefundenen Vorstellungsbilder Anlass, um erneut in die Bewegung des Voraushörens zu gelangen.
Birgit Engel, die sich mit dem Bilden von Ästhetischer Aufmerksamkeit im kunstpädagogischen Kontext befasst, betrachtet den Prozess der Aufmerksamkeitsbildung ebenso als Bewegung mit gegensätzlichen Richtungsimpulsen. Um Ästhetische Aufmerksamkeit anzuregen, arbeitet sie mit Erinnerungsbild und Vorstellungsbild. Das Erinnerungsbild bietet die Möglichkeit des Rückblickens und der Reflexion.
„Im Rahmen eines Innehaltens werden im Erinnerungsbild Spurbildungen vergangener Ereignisse aufgegriffen und die dabei spürbaren Momente können nochmals (neu) in der geistigen Imagination vergegenwärtigt und dabei (nach)erlebt werden.“[28]
Ein Vorstellungsbild weist hingegen in die Zukunft, generiert Erwartungen, die die Bewegung der Aufmerksamkeit hervorrufen, Lern- und Erfahrungsprozessen den Boden bereiten.[29] In der stetigen Intensivierung und Vertiefung der musikbezogenen Wahrnehmungen der Kinder lässt sich mit Engel sagen, hat sich ein „Aufmerksamkeitsraum“ als „Wahrnehmungsraum“ geöffnet.[30]
Der beschriebene Richtungswechsel im Wahrnehmungsprozess ließe sich mit Blick auf den Umgang mit Musik auch als Wechsel von Fragen und Antworten betrachten. Im Zusammenhang mit dem aufmerksamen Musikhören sind Fragen an die Musik nicht voraussetzungslos. Es bedarf stets auch einer Antwort des Selbst, die eine Auseinandersetzung aus eigener Kraft mit der Sache (hier der Musik) hervorruft. Erst durch das Entstehen eigener Erwartungen wird Aufmerksamkeit gebildet in Form der Frage: trifft meine Erwartung ein oder ergibt sich eine Diskrepanz?[31]
Bernhard Waldenfels hat bereits auf die entscheidende Rolle des Antwortens beim Hören von Musik hingewiesen. Er spricht vom „antwortenden Hinhören“[32] und betont damit, dass aufmerksames Hören von Musik nicht nur Fragen, sondern genauso Antworten, ein Geschehen zwischen „Widerfahrnis und „willentlicher Antwort“[33] bedeutet. Die Wahrnehmung von Musik hat in Waldenfels’ Theorie des antwortenden Hörens den Charakter eines schöpferisch-aktiven Tuns und ist nicht gleichzusetzen mit einem bloßen Wiedererkennen von bereits erwarteten Sinnbildern:
„Wir antworten nicht auf das, was wir hören, sondern wir antworten, indem wir etwas hören.“[34]
Die Schüler_innen, die entlang des Sinfoniesatzes von Tschaikowsky eine Geschichte entwickeln, sind in Bezug auf das Hören der Musik, im Finden wortsprachlicher Sinnzusammenhänge sowie in der sinnstiftenden Verknüpfung beider Medien schöpferisch aktiv. Woran zeigt sich hier nun, dass sie Aufmerksamkeit bilden und halten?
Anzeichen von Aufmerksamkeiten in der beschriebenen Unterrichtssequenz
In Anlehnung an die Analyse Dinkelakers möchte ich im Folgenden Blicke, Gesichtsausdruck, Körperhaltungen und Körperbewegungen sowie sprachliche Äußerungen der Schüler_innen zusammentragen und sie mit dem Aufmerksamwerden oder –sein beim Hören von Musik in Verbindung bringen.[35] Dabei sind es insbesondere die Wechsel beziehungsweise Richtungsänderungen der beobachteten Haltungen oder Bewegungen bei den Kindern, die mich haben aufmerksam werden lassen. Die Blicke[36] der Kinder habe ich während des Erklingens der Musik sowohl als still und eher in sich gekehrt, als auch als bewegt wahrgenommen. Letztere – Blicke, die nach den Blicken der anderen Mithörenden suchen – deuten wohlmöglich auf ein entstehendes Mitteilungsbedürfnis. Wo einige über lange Strecken nahezu stehenbleiben, gehen andere Blicke mit Einsetzen der Musik sofort in den Raum oder zu den anderen. Aber auch während der Musik, vermutlich ausgelöst durch einzelne Klangereignisse oder die auffordernden Blicke der anderen, ändert sich die Blickrichtung von nach-innen- zu nach-außen-gerichtet (oder umgekehrt).
In engem Zusammenhang mit dem Blick lassen sich an den beim Musikhören sichtbaren Gesichtsausdrücken der Kinder die Qualitäten der Anteilnahme der Kinder erahnen. So sind es unter anderem Bewegungen des Mundes in Verbindung mit dem Blick (z.B. lächeln), die vermuten lassen, welche Gefühle oder Empfindungen durch die Musik hervorgerufen und teilweise unmittelbar kommuniziert werden.
Die unterschiedlichen Körperhaltungen der Kinder haben mich veranlasst, Rückschlüsse auf die von ihnen empfundenen Spannungen zu ziehen. Teilweise erweckt es den Anschein, als würden sich Spannungsentwicklungen innerhalb der Musik direkt auf die Körper der Kinder übertragen. Ein anderes Mal scheinen ihre Haltungen vermutlich eher Ausdruck der Wirkung, die die Musik in diesem Moment auf sie hat, zu sein. Eventuell kann sich auch die Bewegung des Denkens an sich, die geistige Anspannung beim Mitvollzug der Musik, in den Körpern der Kinder widerspiegeln. Ohne die einzelnen Körperhaltungen im Hinblick auf die Qualität der mit ihnen verbundenen musikalischen Wahrnehmungen deuten zu wollen (und zu können), möchte ich folgende Beobachtung zusammenfassend schildern: Während einige Kinder ruhig und unbewegt auf ihrem Platz sitzen und dabei eine nahezu unterspannte Körperhaltung aufweisen, sind andere eher aufgerichtet und geben ihrer Anspannung durch sichtbare körperliche Bewegungen Raum. Auch hier sind wieder Wechsel während des Musikhörens der beiden beschriebenen Zustände in beide Richtungen zu beobachten, oft synchron zu einer Zu- oder Abnahme von Spannung in der Musik.
Hinter spontanen sprachlichen Äußerungen beim Hören der Musik vermute ich eine bereits einsetzende Bewusstwerdung der eigenen Wahrnehmung, demnach ein Zurückwenden im Aufmerksamkeitsprozess. Im Laufe der Unterrichtssequenz werden die Schüler_innen daran gewöhnt, dass sprachliche Äußerungen in Form von Zwischen-Zusammenfassungen des Erlebten ihren Platz in den kurzen Unterbrechungen der Musik haben. Da diese im weiteren Hören jedoch auch das Denken in Sprache aktivieren, werden sie von den Kindern immer häufiger auch während des Musikhörens eingebracht, teilweise verbunden mit einer wiederum an körperlichen Bewegungen sichtbaren Dringlichkeit, die das Kind aus Überzeugung für den eigenen sprachlich fixierten Gedanken empfindet. Dies hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass es den Kindern ein Anliegen ist, zeitnah, also in möglichst großer Nähe zum gemeinten musikalischen Wahrnehmungsereignis, ihre Entdeckungen sprachlich kundzutun.
Als eine Besonderheit der pädagogischen Rahmung zeigt sich hier nicht zuletzt auch die Einbettung der Aufmerksamkeitsbewegungen der einzelnen Hörenden in ein kollektives Geschehen. In der räumlich-sozialen Situation des Sitzkreises beeinflussen sich die Prozesse des Aufmerksamwerdens der Schüler_innen zusätzlich gegenseitig. Auch hieraus entsteht eine Dynamik, die sich für das Aufrechterhalten der Bewegung der Aufmerksamkeit als förderlich erweist. Nebenbei erwähnt, üben sich die Schüler_innen hier auch in wichtigen gesellschaftlich-sozialen Prozessen. Denn mit Dinkelacker gesagt: „Das wechselseitige Achten auf die jeweiligen Aufmerksamkeitsanzeichen der anderen ist die notwendige Voraussetzung und das stetige Begleitphänomen jeden sozialen Geschehens.“[37]
Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Die Kinder zeigen sich aktiviert, veränderbar in ihrer Art auf Musik Bezug zu nehmen. Sie antworten kontinuierlich auf das musikalische Geschehen. Außerdem erlebe ich eine Zunahme dieser Aktivierung, sichtbar an verschiedenen Kategorien der Anzeichen. Wobei die beschriebene hervorgebrachte Dringlichkeit ihrer musikbezogenen Äußerungen ebenso dafür spricht, dass sie sich selbst als in das Geschehen involviert erleben, es sie berührt und affiziert. In den Wahrnehmungsprozess vom Auffallen über das Aufmerken zum Bemerken scheinen sie immer schneller einzusteigen und sich die Prozesswege – zeitlich betrachtet – immer mehr zu verkürzen.
Offen bleibt an dieser Stelle zu fragen, ob sich auch Unaufmerksamkeit zeigt, beziehungsweise, ob sie genauso augenscheinlich wird. Auch ob sich jede/r im gemeinsamen Aushandlungsprozess der Geschichte immer gehört fühlt, ließe sich natürlich kritisch hinterfragen.[38]
Zum Verhältnis von Sprache und Aufmerksamkeitsbildung in der Praxis des Musikhörens
Waldenfels weist darauf hin, dass Prozesse der Aufmerksamkeit der Vagheit und Unbestimmtheit bedürfen. In Bezug auf den Umgang mit Sprache fragt er deshalb, „wie wir etwas zur Sprache bringen können, ohne das Entstehende dem Bestehenden anzugleichen.“[39]
Kinder im Grundschulalter nehmen Musik weitaus differenzierter wahr, als sie es zu verbalisieren vermögen.[40] Der Musikunterricht der Grundschule steht meines Erachtens deshalb vor folgender Herausforderung: Die Lernenden sollen Gewissheit und Orientierung erfahren, mithilfe von sprachlich verständlich formulierten, machbaren Aufgabenstellungen transparent kommunizierte Lernchancen erhalten. Doch nur das Wahren von Unbestimmtheit (u.a. durch Wendigkeit im sprachlichen Ausdruck) und Offenheit unterrichtlicher Prozesse kann garantieren, dass die eigenen nuancenreichen Hörwahrnehmungen der Kinder darin tatsächlich zur Sprache kommen.
In der beschriebenen Unterrichtssequenz wird einerseits versucht, Kinder in Bezug auf Musik sprachfähig zu machen, andererseits soll das angebotene Sprachkonzept so offen und ausbaufähig bleiben, dass es die natürlichen (noch unbeeinflussten) Wahrnehmungen der Kinder zum Vorschein bringt. Im Sinne eines sprachsensiblen Musikunterrichts wird an die individuellen sprachlichen Voraussetzungen der Schüler_innen angeknüpft und ein kindgerechtes sprachliches Repertoire zur Untersuchung der Musik angeboten. Bei den im Laufe der Unterrichtseinheit eingeflochtenen Aufgabenstellungen zu Gebrauch und Weiterentwicklung dieses Sprachrepertoires wird versucht, stets eine Balance zwischen Offenheit und strukturierender Vorgabe beizubehalten.[41]
Die beschriebene Vorgehensweise der Verknüpfung von Prozessen des Musikhörens mit einem kreativ-schöpferischen Umgang mit Sprache soll im Folgenden mit den oben beschriebenen Faktoren der Aufmerksamkeitsbildung in Zusammenhang gebracht werden:
Die im Rahmen der Unterrichtssequenz zu beobachtende Selbstaktivierung der Schüler_innen führe ich auf die Offenheit der Aufgabenstellungen zurück, die es ihnen ermöglicht, sich den eigenen Voraussetzungen gemäß ohne den Druck standardisierter Bewertungen auszudrücken. Sie erleben, dass mit ihren sprachlichen Ideen weitergearbeitet wird und sie damit das gemeinsame Unterrichtsgeschehen entscheidend beeinflussen können.
Es werden im Gespräch über die Musik auch Gefühle und Empfindungen der Kinder beim Hören der Musik thematisiert. Mit Blick auf Prozesse der Sprachbildung werden sie darin unterstützt, Wortbedeutungen zusammen mit der Musik unmittelbar zu erfahren. Dies auch, indem der Unterricht generell für spontan entwickelte körperlich-konkrete Bewegungsideen offen bleibt. Die Schüler_innen zeigen beispielsweise während des Hörens mit ihren Händen Hasen- und Luchsohren. Oder es werden sichtbar werdende körperliche Bewegungen der Kinder angesprochen und thematisiert.[42]
Im weiteren Sinne von Bewegung betrachtet, regt die musikbezogene Sprachbildung auch das Ändern der Bewegungsrichtung der Musikwahrnehmung der Kinder an. Sie kann zum Generieren von Erwartungen und Vorstellungsbildern verleiten und somit in die Richtung kommender Höreindrücke weisen. Das Sprechen über Gehörtes wirkt hingegen wie eine Rückschau oder Zusammenfassung und Fixierung bereits gefundener Sinnzusammenhänge.
Dass die Lernenden von der Musik inspiriert verbalsprachliche Konzepte entwickeln und diese an die Musik zurückbinden, fördert das Verstehen und die Wiedergabe narrativer Strukturen in beiden Medien.[43] Gerade die Offenheit und Unvollständigkeit, die bis zum Abschluss der Geschichte am Ende der Einheit bestehen bleibt, regt die Kinder zur intensiven Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit, Narrativität und Geschichtlichkeit im Sinne einer durch die Bewegung der Logik erfolgenden, kausalen Verkettung von Ereignissen an. Die Erstklässler_innen erleben sowohl die Sprache als auch die Musik als Medium sinnvoller Strukturierungen und der Sinnbildung.
Mit Bezug auf Merleau-Ponty gehe ich davon aus, dass durch Bildung narrativer Strukturen zugleich ein Denken in Musik einsetzt, da der musikalische Verlauf für die gesuchten wortsprachlichen Strukturen Orientierung gibt.[44] Hierfür ist der schöpferische Aspekt der Wahrnehmung ausschlaggebend, deren Anstoß das Aufmerken ist: Im Moment der Wahrnehmung wird nicht bloß Sinn entdeckt, den etwas hat, sondern Sinn verliehen. Aufmerksamkeit ist nach Merleau-Ponty damit nicht bloße Assoziation, sondern ein schöpferischer Akt, stets „die aktive Konstitution eines neuen Gegenstandes.“[45] Der kreative Umgang mit Sprache durch das Erfinden einer noch nicht dagewesenen, neuartigen Geschichte unterstützt in Symbiose mit den musikalischen Verläufen diese schöpferische Qualität musikalischer Wahrnehmungen.
Die der Musik zugeordneten sprachlichen Episoden haben weiter Zeigequalität, machen auf bestimmte markante Merkmale in der Musik aufmerksam.
Zunächst werden die Schüler_innen durch eine begriffliche Rahmensetzung als einer ersten leichten Einschränkung des Wahrnehmungsfeldes angeregt, wachsam zu sein für Aspekte in der Musik, die für sie zum Konzept einer Winterwelt – auch in Bezug zum Titel der Sinfonie „Winterträume“ – zum Leben von Schneehase und Luchs passen könnten. Gemeinsam werden daraufhin Wortbegriffe als Sammlung an der Tafel zur Frage: „Was wissen wir über das Leben von Schneehase und Luchs?“ zusammengetragen und sichtbar als Wortspeicher zum weiteren Gebrauch zur Verfügung gestellt. Im Erfinden der Geschichte greifen die Erstklässler_innen später auf diese Wortangebote (zusätzlich übersetzt in Bilder) teilweise zurück oder ergänzen sie mit weiteren Begriffen ihrer eigenen vertrauten Alltagssprache. Um eine spätere Verknüpfung mit dynamischen Verläufen in der Musik anzubahnen, werden zu den jeweiligen Begriffen zusätzlich Hintergründe und Wirkungen, also die bedeutungsvollen Verbindungen der einzelnen Sachverhalte, besprochen. Die Kinder denken beispielsweise darüber nach, wer wie zum Feind des Schneehasen werden könnte und wie sich die Tiere an ihren besonderen Lebensraum anpassen. Hierbei gebe ich bereits Anregungen, die erfundenen Situationen gedanklich in klangliche zu übertragen, z.B. durch Fragen, wie: „Wie könnte es sich anhören, wenn ein Luchs durch den Schnee eilt?“.
Die gefundenen Wortbegriffe und entfalteten Sprachkonzepte fungieren im Kontext des Musikhörens als Zeigegesten. Sie haben dabei unter anderem den Zweck, die Hörenden auf etwas aufmerksam zu machen, das sie bisher noch nicht bewusst wahrgenommen haben.[46] Dabei kann es auch das zur Sprache gebrachte leiblich-emotionales Involviertsein in das musikalische Geschehen sein, das die anderen auf etwas aufmerksam macht. Ein Kind ist beispielsweise beim Hören der Musik so davon überzeugt, dass man den Schneehasen im Gebüsch lachen hören kann, dass es selbst spontan loslacht. Als es den anderen verrät, warum es lacht, müssen an selber Stelle auch alle anderen Kinder lachen.
Gezeigt wird in pädagogischen Kontexten, so Dinkelaker, aus der Annahme einer Erfahrungsdifferenz heraus. Die Wiederholung des Zeigens im Rahmen der Unterrichtseinheit führt dazu, dass die Schüler_innen immer mehr zu einem gemeinsamen Erfahrungshorizont gelangen, der für weitere Wahrnehmungsprozesse Voraussetzung schafft. Das Zeigen mit den Mitteln der Verbalsprache gestaltet sich hier als „Verkettung solcher voraussetzungsschaffender Hervorhebungsmomente“.[47] Dadurch kommt es im Laufe der Unterrichtssequenz immer wieder zur oben beschriebenen Reliefbildung in der Wahrnehmung des komplexen Phänomens Musik: einzelne Merkmale treten nun hervor, werden benannt und bewusst gemacht. Der eigentliche Lerngegenstand Musik wird dabei jedoch nicht von vornherein in seiner Komplexität reduziert, sondern lediglich der sprachliche Umgang damit vereinfacht und somit den Kindern ein Zugang erleichtert.[48] Das Wahren von Offenheit und Uneindeutigkeit führt zu einem gemeinsamen Fragen, Nachdenken, Abwägen und Aushandeln durch das Gegebensein, gerade für diese Kinder, wichtiger musikbezogener Sprachanlässe.
Conclusio und Ausblick — Kann Aufmerksamsein als Können geübt werden?
„Horchen oder Lauschen sind dem Unerwarteten ausgeliefert. Augen weiden sich, Ohren schmausen. Es ist ihnen unmöglich, über Gegenstände hinweg zu wandern, wie es die Augen tun. Im Hören ist die Freiheit begrenzt. Weil es aber anders, da es ausschließlicher als das Sehen auf einen Anspruch antwortet, der vom anderen ausgeht, ist es empfindsam gegenüber Stimmen und Stimmungen.“[49]
Gerade weil das Hören genuin solche unfreien Anteile hat, wie Meyer-Drawe es hier beschreibt, ist es mir ein Anliegen, dass Kinder beim Hören von Musik Möglichkeiten eigener Ausdeutungen und Entdeckungen als frei und lustvoll erleben können. Ist das der Fall, wenn sie, in die Musik versunken, gar nicht (mehr) bemerken, dass sie auf etwas aufmerksam gemacht worden sind, die Bewegung der Aufmerksamkeitsbildung scheinbar aus eigenem Antrieb und Willen entspringt?
Ich möchte nun abschließend auf die These Brinkmanns zurückkommen, dass eine (offene) Haltung einzunehmen und somit das Aufmerksamwerden als Aufmerken geübt werden kann.[50] Aufmerksamkeit ist weniger ein Zustand als vielmehr ein fortwährender Prozess, der von Bewegung gekennzeichnet ist bzw. „der gerade durch Bewegung seine Stabilität erfährt“.[51] Daher lohnt es sich, auch für das Musikhören den Blick auf das Hervorrufen und Erhalten von Aufmerksamkeit zu lenken und zu fragen, wie es Hörenden aus sich selbst heraus gelingen kann, die Bewegung der Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten und auch ungewohnter, neuartiger Musik mit Neugier zu begegnen.
Zeigegesten wollen im pädagogischen Kontext nicht nur zu eigenständigen Handlungen der bisher Unerfahrenen führen. Ziel ist auch, dass sich die Zeigenden zunehmend aus der Situation der Vermittlung zurücknehmen können. In der beschriebenen Unterrichtseinheit sind die verbalen Zeigeaktionen immer mehr in die Hände der Kinder gegeben worden, die sich zusehends selbst untereinander auf das Bemerkenswerte in der Musik hingewiesen haben.
Anhand der entstandenen Szenenbilder können sie sich schließlich vergegenwärtigen, wie differenziert sie selbst in der Lage sind, die Musik wahrzunehmen und zu beschreiben. Die in den Bildern enthaltenen Metaphern können sie nun selbst immer weiter entfalten und in Anbindung an die Musik ihre Strukturwahrnehmungen vertiefen. Dies stärkt in den Kindern, so meine Hoffnung, das Selbstvertrauen, sich eigenständig Musik erschließen zu können. Selbstvertrauen wächst, wie man weiß, durch das Üben als einer „Praxis, die sich durch Wiederholung auszeichnet.“ Dabei habe die Wiederholung „verändernde Kraft“, so Waldenfels.[52] Übung zielt auf diese Veränderung, die zugleich Lernen bedeutet.
Im Rahmen der beschriebenen Unterrichtseinheit habe ich beobachtet, dass die Wiederholung der Vorgehensweise des Geschichte-Schreiben-Lassens durch die Musik den Schüler_innen immer vertrauter wird. In der Folge können sie sich schneller aufmerkend in der Musik vertiefen, scheint es ihnen zunehmend leichter zu fallen, sich in der Musik zu orientieren und gezielt Klangereignisse herauszugreifen, die ihnen mit Bezug auf die Weiterentwicklung ihrer Geschichte als passend auffallen. Immer selbstständiger gelangen sie in die Prozessbewegung der geteilten aktiven Wahrnehmung. Fast wirkt es so, als würde sie die Komplexität des Musikwerks (und damit der Unmöglichkeit, alles sofort zu erfassen und zu verstehen) nicht weiter beunruhigen, als würden sie es vielmehr genießen, Neues im weiten Feld der Musik zu entdecken.
Im Musikunterricht der Grundschule erlebe ich es immer wieder, dass sich die jungen Hörenden für jegliche Art der Musik begeistern lassen. Ich vermute, es braucht für die Annäherung an Musik im Unterricht eine Balance aus Vertrautheit, die Halt und Orientierung gibt und Fremdheit, die möglicherweise irritiert und Neugier weckt. Vertraut kann dabei zunächst auch etwas außerhalb der Musik sein – eine Ordnung im Raum, ein Unterrichtsritual, die Situation des Musikhörens selbst, eine Art und Weise des Umgangs mit der Musik, die sich wiederholt. Neuartig und deswegen interessant sind in meinem Beispiel für die Schüler_innen auch die Informationen zum Leben des Schneehasens und des Luchses[53]. Ungewohnt und neuartig sind die Klänge des Sinfonieorchesters, das von der Lehrkraft ausgewählte Musikwerk. Der Rahmen der eigenen Geschichte, das Ausdrücken-Dürfen in eigenen Worten der kindlichen Alltagssprache gibt ihnen wiederum Sicherheit, ist ihnen vertraut und wird ihnen immer vertrauter.
Auch ich bin davon überzeugt, dass sich Aufmerksamwerden und -bleiben üben lässt. Insbesondere für den Musikunterricht der Grundschule schafft dieses Können eine Voraussetzung für das Gelingen wichtiger (nicht nur) musikalischer Lern- und Verstehensprozesse. An die geschilderte Unterrichtssequenz ließe sich nun auf verschiedenste Weise anknüpfen, um die gewonnene Wachheit zu nutzen und das zu diesem Zeitpunkt teilweise noch unbewusste musikalische Wissen explizit zu machen. Ich denke hier an das Anbahnen von Bewegungen der ästhetischen Aufmerksamkeit, in dem die Kinder reflektierend ihre eigene Wahrnehmung in den Blick nehmen oder an das situative Wieder-Aufgreifen von bemerkten Kompositionsprinzipien im Rahmen von Improvisations- oder Kompositionsaufgaben.
Für wichtig halte ich im Hinblick auf die Aufmerksamkeitsbildung im Musikunterricht für das Musikhören, dass die Lernenden angeregt werden, eigene Hörwege zu finden und zu beschreiten – ist die Musik an sich ja schon Vorgabe genug. Wir können Kindern dabei helfen, sich musikalische Welten zu eröffnen, Wege zu befestigen und sichtbar zu machen, doch durch welches Gelände sie führen und was sich auf diesen Wegen entdecken lässt, sollten die Schüler_innen selbst entscheiden.
Literatur
Bartel, Judit: Aufmerksamkeitsbildung. Anthropologische Überlegungen zum Lernen und Lehren. In: Reh, S., Berdelmann, K., Dinkelaker, J. (Hg.): Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie. Wiesbaden 2015, S. 221–240.
Brinkmann, Malte: Übungen der Aufmerksamkeit. Phänomenologische und empirische Analysen zum Aufmerksamwerden und Aufmerksammachen. In: Reh, S., Berdelmann, K., Dinkelaker, J. (Hg.): Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie. Wiesbaden 2015, S. 199–220.
Dinkelaker, Jörg: Varianten der Einbindung von Aufmerksamkeit. Zeigeinteraktionen in pädagogischen Feldern. In: Reh, S., Berdelmann, K., Dinkelaker, J. (Hg.): Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie. Wiesbaden 2015, S. 241–264.
Engel, Birgit: Ästhetische Aufmerksamkeit – Movens einer reflexiv-offenen und kritisch-innovativen Praxis in Kunst und Pädagogik. Hamburg 2020.
Geisler, Josephine: Tonwahrnehmung und Musikhören. Paderborn 2016.
Hegel, Georg W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes. Mit mündlichen Zusätzen. Frankfurt a. M. 1970.
Kade, Jochen: Aufmerksam – nicht aufmerksam – unaufmerksam. Kulturelle Hintergründe und erziehungswissenschaftliche Aspekte der Aufmerksamkeitskommunikation. In: Reh, S., Berdelmann, K., Dinkelaker, J. (Hg.): Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie. Wiesbaden 2015, S. 127–146.
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966.
Meyer-Drawe, Käte: Anfänge des Lernens. In: Benner, Dietrich (Hg.): Erziehung — Bildung — Negativität. Weinheim 2005, S. 24–37.
Meyer-Drawe, Käte: Aufmerken – eine phänomenologische Studie. In: Reh, S., Berdelmann, K., Dinkelaker, J. (Hg.): Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie. Wiesbaden 2015, S. 117–126.
Oberschmidt, Jürgen: Mit Metaphern Wissen schaffen. Erkenntnispotentiale metaphorischen Sprachgebrauchs im Umgang mit Musik. Augsburg 2011.
Reh, Sabine, Berdelmann, Kathrin, Dinkelaker, Jörg (Hg.): Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie. Wiesbaden 2015.
Rora, Constanze: Erzähltheoretische Perspektiven auf das musikpädagogische Problem des Sprechens über Musik. In: Schläbitz, Norbert (Hg.): Interdisziplinarität als Herausforderung musikpädagogischer Forschung. Essen 2009, S. 309–322.
Sallat, Stephan: Musiktherapie bei Sprach- und Kommunikationsstörungen. München, Basel 2017.
Sallat, Stephan: Musikalische Fähigkeiten im Fokus von Sprachentwicklung und Sprachentwicklungsstörungen. Idstein 2008.
Salvesen, Christian: Musik als Bewegung. Die Energietheorie der Musik von Ernst Kurth. Hamburg 2020.
Schatt, Peter W.: Positionen der Hörerziehung im 20. Und 21. Jahrhundert. In: Schilling-Sandvoß, K., Jung-Kaiser, U. (Hg.): Wie lerne ich hören, wozu und warum? Zur Erprobungsphase des Forschungsprojekts Sparkling Ears. Mainz 2019, S. 41–54.
Schilling-Sandvoß, K., Jung-Kaiser, U. (Hg.): Wie lerne ich hören, wozu und warum? Zur Erprobungsphase des Forschungsprojekts Sparkling Ears. Mainz 2019.
Schneider, Ernst Klaus, Stiller, Barbara, Wimmer, Constanze (Hg.): Hörräume öffnen – Spielräume gestalten. Konzerte für Kinder. Regensburg 2011.
Seewald, Jürgen: Leib und Symbol. Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung. München 1992.
Stöger, Christine: Kreativität. In: Dartsch, M., Knigge, J., Niessen, A., Platz, F., Stöger, C. (Hg.): Handbuch Musikpädagogik, Münster 2018, S. 260–267.
Waldenfels, Bernhard: Lebenswelt als Hörwelt. In Ehrenforth, K. H. (Hg.): Musik – unsere Welt als andere. Phänomenologie und Musikpädagogik im Gespräch, Würzburg 2001, S. 17–31.
Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt am Main 2004.
Weidner, Verena: Musikhören als didaktisches Handlungsfeld. In: Dartsch, M., Knigge, J., Niessen, A., Platz, F., Stöger, C. (Hg.): Handbuch Musikpädagogik. Münster 2018, S. 315–318.
Anna Unger-Rudroff, Dr. phil., vertrat 2020/21 die Professur für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Aktuell ist sie in Lübeck als Musiklehrerin an einer Grundschule und als Lehrbeauftragte im Bereich Musikpädagogik an der Musikhochschule tätig.
Anhang
Schneehasengeschichte Klasse 1.1: Schneeflocke und die rettende Eispfütze
Schneeflocke, der Schneehase hoppelt vergnügt durch den Schnee. Die Sonne scheint und er ist bestens gelaunt. Er schlägt Haken im Kreis und spielt ausgelassen. Dabei bemerkt gar nicht, dass er von einem Luchs im Gebüsch beobachtet wird. Der Luchs hat den Schneehasen zuerst gehört, dann gerochen und schließlich konnte er ihn mit seinem scharfen Blick gut erkennen. Noch bemerkt Schneeflocke den Luchs nicht, doch als es leise im Gebüsch raschelt, wird der Schneehase aufmerksam und spitzt seine Ohren. Als es wieder im Gebüsch knackt, entdeckt er das Luchs-Fell hinter den Zweigen. Erschrocken hoppelt er davon. Der Luchs jagt ihm sofort hinterher. Schneeflocke huscht durch den Schnee, dicht gefolgt vom Luchs, der den Hasen nicht aus den Augen lässt. Der Luchs kommt immer näher, hat den Schneehasen fast eingeholt, da tut sich eine große Eispfütze vor ihnen auf. Mit einem Husch saust Schneeflocke auf seinem kuscheligen Po über die Eispfütze, springt, am Ende der Pfütze angelangt, wieder auf seine Pfoten und hoppelt davon. Der Luchs aber kommt auf der Eispfütze ordentlich ins Schleudern, rutscht aus und stößt schließlich unsanft an einen Baumstamm. Der Luchs versucht wieder auf die Pfoten zu kommen, doch ihm ist schrecklich schwindelig. Er torkelt herum und plumpst schließlich wieder in den Schnee. Dort fällt er in einen kurzen Traum. Er träumt von einem Schneehasen, der unglaublich groß und angsteinflößend ist.
Währenddessen hoppelt Schneeflocke schnell zum Bau seiner Familie. Drinnen macht es sich die Hasenfamilie gerade gemütlich. Das Abendbrot steht auf dem Tisch, Kerzen sind angezündet. Am Tisch unterhalten sich die Hasen angeregt. Schneeflocke kommt hinzu und erzählt aufgebracht von seinen Erlebnissen. Die ganze Hasenfamilie spricht und diskutiert bis spät in die Nacht lebhaft miteinander.
Schließlich, zu später Stunde, bereiten sich die Häschen auf das Schlafen vor. Als dann alle in ihren Betten liegen und schlummern, träumt Schneeflocke noch einmal davon, was er am Tag alles erlebt hat.
Zusammenfassung in Bildern:
Bild 1: Schneehase „Schneeflocke“ hoppelt und tollt lustig im Schnee herum
Bild 2: Luchs beobachtet Hase aus dem Versteck
Bild 3: Hase flieht, Luchs jagt ihm hinterher
Bild 4: Luchs hat Hasen fasst eingeholt
Bild 5: Hase und Luchs rutschen über die Eispfütze
Bild 6: Luchs stößt an den Baum, Hase hoppelt davon
Bild 7: Luchs ist desolat, ihm ist schwindelig. Er bleibt liegen und träumt von einem riesengroßen Schneehasen.
Bild 8: Schneeflocke hoppelt zu seiner Familie
Bild 9: Hasenfamilie isst Abendbrot, hat es gemütlich
Bild 10: Im Bett träumt Schneeflocke von seinem Tag
Schneehasengeschichte Klasse 1.2: Der bunte Luchs
Die Schneehasenmädchen Mia (Flöte) und Lia (Oboe) hoppeln durch den Schnee. Später kommen ihnen Mama und Papa, noch etwas später auch Oma und Opa hinterher. Die ganze Familie bewegt sich nun langsam einen Berg hinauf. Da nähert sich ein Luchs und beobachtet den Schneehasenausflug von der Ferne. Als die Hasen ihn bemerken, verstecken sie sich sofort im Gebüsch hinter einem Baum.
Wohin sind die Häschen verschwunden? Der Luchs sucht und sucht. In ihrem guten Versteck hört man die Hasen kichern. Und weiter sucht der Luchs, inzwischen schon mürrisch und grimmig. Die Hasen kichern und hoppeln weiter hoch hinauf zur Bergspitze. Der Luchs entdeckt sie wieder und folgt ihnen heimlich. Er versteckt sich unter einem Felsvorsprung. Von dort beobachtet er die Häschen, die nun auf dem Berg sitzen und ein unglaubliches Spektakel erleben: Ein Raumschiff nähert sich. Immer dichter kommt es heran, streift dann aber nur den Bergkamm und zieht ohne aufzusetzen weiter. Noch ganz aufgeregt hoppeln die Hasen den Berg wieder hinunter und machen, weil sie sich beeilen wollen, einen Satz vom Felsvorsprung. Dabei landen sie – ohne es zu merken – auf dem Luchs, der dort auf der Lauer liegt. Ein Häschen nach dem anderen hüpft auf den Luchs wie auf ein Trampolin. Dieser schaut den Häschen grimmig hinterher und nimmt nun die Verfolgungsjagt wieder auf. Doch Mia, Lia und die Hasenfamilie verschwinden bald geschickt und schnell in ihrem Bau.
In ihrer Höhle angekommen, zünden die Häschen sich Kerzen an und bereiten ein gemütliches und leckeres Karotten-Abendbrot. Danach werden die Hasenzähne geputzt und ein Häschen nach dem anderen schlüpft in sein Bettchen. Bald werden sie aber von einem Wühlgeräusch wieder geweckt. Es ist der Luchs, der die Häschen erschnuppert hat und nun versucht in ihren Bau zu gelangen. Immer tiefer gräbt der Luchs seinen Kopf in den Erdhügel hinein. Doch da, als er gerade mit seinem Kopf ins innere gelangt und in die Hasenstube blickt, bleibt er stecken. Die Hasen hüpfen aufgeregt um ihn herum. Als sie aber merken, dass der Luchs keinen Millimeter mehr weiterkommt und feststeckt, jubeln sie und lachen. Nun laufen die Häschen schnell und holen Faschingsschminke. Der Luchskopf wird lustig bunt geschmückt. Nur der Luchs selbst, findet das überhaut nicht lustig. Während die Hasen sich kaputtlachen, versucht der Luchs mit viel Kraft sich aus der Klemme zu befreien und schafft es schließlich. Erschöpft und verärgert läuft er davon. Bis er schließlich zu einem vereisten See gelangt. Er sitzt am Ufer, blickt auf das Eis und sieht sich selbst wie in einem Spiegel. Nun wird er erst recht grimmig, als er sieht, was die Hasen mit ihm gemacht haben. Sogleich drückt er sein Gesicht in den Schnee, um sich von der Schminke und dem Schmuck zu befreien. Er wühlt und wischt, bis der Schnee ganz farbig wird. Zur selben Zeit haben sich die Hasen in ihrem Hasenbau friedlich schlafen gelegt. Als sie eingeschlafen sind, träumen die Schneehasen Mia und Lia noch einmal davon, was an diesem spannenden Tag alles ereignet hat.
Zusammenfassung in Bildern:
Bild 1: Mia und Lia, gefolgt von Mama, Papa, Oma und Opa laufen durch den Schnee
Bild 2: Häschen verstecken sich vor dem Luchs, kichern im Gebüsch
Bild 3: Hasen hoppeln hinauf zur Bergspitze (gefolgt vom Luchs)
Bild 4: Ein Raumschiff nähert sich der Bergspitze und schwebt langsam davon
Bild 5: Häschen hüpfen vom Felsvorsprung auf den Luchs auf der Lauer
Bild 6: Hasenfamilie macht es sich im Bau gemütlich, draußen nähert sich der Luchs
Bild 7: Luchs gräbt sich in den Bau, bleibt mit seinem Kopf stecken
Bild 8: Häschen bemalen und schmücken den Luchs-Kopf
Bild 9 Luchs läuft davon, ist wütend
Bild 10: Hasen liegen im Bett und träumen vom Tag
[1] Kade 2015 in Reh, Berdelmann, Dinkelaker (Hrsg.) 2015, 127ff.
[2] Hegel 1970, 249.
[3] Den Begriff Aufmerksamkeitsbildung diskutiert Judit Bartel im Zusammenhang mit dem Lernen und Lehren in Bartel 2015, 221ff.
[4] Vgl. Meyer-Drawe 2005, 25f.
[5] Waldenfels 2004, 10.
[6] Hierbei werden die einzelnen Szenen mit Spielfiguren nachgestellt und fotografiert.
[7] Dieser Vorgang wird von den Schüler_innen interessanterweise selbst als „Kinoschauen“ bezeichnet. Auch wenn die Bilder jeweils für eine gewisse Zeit stehenbleiben, scheinen sie für die Kinder durch die Musik regelrecht lebendig zu werden.
[8] Ihre „Schneehasenmusik“ gefällt den Schüler_innen so sehr, dass ich noch zu Sommerbeginn von ihnen gefragt werde, ob wir sie nicht noch einmal im Musikunterricht hören können.
[9] Vgl. M. Brinkmann 2015, 199.
[10] Malte Brinkmann mit Bezug auf Merleau-Ponty 1976, in Brinkmann 2015, 199.)
[11] Brinkmann mit Bezug auf Waldenfels in Brinkmann 2015, 199.
[12] Brinkmann 2015, 200.
[13] Vgl. Brinkmann 2015, 201.
[14] Brinkmann 2015, 203.
[15] Brinkmann mit Bezug auf Waldenfels in Brinkmann 2015, 203.
[16] Waldenfels mit Bezug auf William James in Waldenfels 2004, 101.
[17] Brinkmann 2015, 203.
[18] Brinkmann 2015, 202.
[19] Ebd.
[20] Vgl. Brinkmann 2015, 200.
[21] Bartel 2015, 223.
[22] Waldenfels 2004, 47.
[23] Ebd.
[24] Waldenfels 2004, S. 9.
[25] Langer selbst wählt das Beispiel eines vorbeifahrenden Zuges, der eine Phantasie von Gewalt entstehen lassen kann. In Seewald 1992, 119.
[26] Vgl. Meyer-Drawe 2015, 125.
[27] Als Begriff erarbeitet u.a. in Engel 2020.
[28] Engel 2020, 10.
[29] Engel 2020, 10ff.
[30] Engel 2020, 21.
[31] Eine Diskrepanz, die sich im Falle der Übertragung musikalischer Wahrnehmungen in die narrative Struktur von Sprache, zwangsläufig ergibt, ist die der Verschiedenheit beider Medien und dem damit verbundenen Problem, das es keine Übersetzung ohne Verluste geben kann.
[32] Waldenfels 2007, 250.
[33] Waldenfels 2010b, 165.
[34] Waldenfels 2007, 250.
[35] Vgl. Dinkelaker 2015, 244.
[36] Auch wenn konkrete Augenbewegungen als Anzeichen sichtbar werden, bevorzuge ich an dieser Stelle den Begriff „Blick“, denn er macht es möglich, die Verbindung vom Selbst des Kindes mit der Sache, auf die es blickt, zu beschreiben. Die sichtbaren Augenbewegungen werden also hier von mir bereits gedeutet.
[37] Dinkelaker 2015, 244.
[38] Hier sollte lediglich angedeutet werden, wie sich die Anzeichen-Kategorien von Dinkelaker auf das Hören von Musik übertragen ließen, wohlwissend, dass dies auf der Basis meiner Beobachtungen nur ungesicherte Deutungen bleiben können.
[39] Waldenfels 2004, 36.
[40] Vgl. Oberschmidt 2011, 93.
[41] Vgl. hierzu auch Stögers Ausführungen zur Kreativität in Stöger 2018, 266.
[42] Dies zum Beispiel mit Fragen, wie „Warum hast du an dieser Stelle eben so auf deinem Stuhl gewippt?“
[43] Auf die intentionale Zeigequalität unvollendeter musikalischer und sprachlicher Ausdrücke weist auch Christian Salvesen in seiner Abhandlung über Ernst Kurth hin: „Ein sinnloser Ausdruck verlangt weder nach Vervollständigung durch andere Ausdrücke noch nach anschaulicher Erfüllung. Auch die Töne haben in ihrem Hinweisgestus, d.h. aufgrund ihrer Bedeutungsintention ein Ergänzungsverlangen.“ Salvesen 2020, 139.
[44] Als Übergang vom Unbestimmten zum Bestimmten bezeichnet Merleau-Ponty das „Denken selbst“. Vgl. Merleau-Ponty 1945/1966, 52.
[45] Vgl. ebenda, 58.
[46] Vgl. Dinkelacker 2015, 243.
[47] Dinkelaker 2015, 245.
[48] Die Vereinfachung bezieht sich hier vor allem auf eine thematische Eingrenzung.
[49] Meyer-Drawe 2015, 121.
[50] Brinkmann 2012 s.o. in 2015, 200.
[51] Brinkmann 2015, 240.
[52] Waldenfels in Brinkmann 2015, 205.
[53] Interessant sind für die Kinder Denkanregungen, wie: „Stellt euch vor, draußen auf dem Spielplatz in der Siedlung würde eine Maus piepsen – ein Luchs könnte sie von hier, aus dem Musikraum im Schulgebäude, hören…“