Konzept versus Realisierung von Limes — Limits of Perception
Wie ästhetische Erfahrung und musiktheoretische Forschung auf eine Performance wirken
Wie künstlerische Forschung im Bereich von Performance Art und experimenteller Musik zu betreiben ist, dafür gibt es noch keine ausgefahrenen Wege und keine vielfach erprobten Methoden. Bei einem forschenden Komponieren von Performances oder – aus dem anderen Blickwinkel – beim Forschen, das sich der Methode des Komponierens bedient, stellen sich mir in meiner Arbeit diese Fragen: Kann mein aus Vorerfahrungen zu einem Erfahrungsschatz akkumuliertes ästhetisches Wissen mir bei der Entwicklung und Realisation einer Performance nützen und mit welcher Methode setze ich es am besten ein? Und: Wo bringt mich speziell bei einer konzeptuellen Performance ein (musik-) theoretischer Ansatz weiter? Als Komponistin, Musiktheoretikerin, Konzeptkünstlerin und Performerin konnte ich während des Entstehungsprozesses einer Performance-Serie beobachten, dass die Tätigkeiten des Theoretisierens, der Erfindung eines Konzepts und des Performens zusammen- und auch aufeinander einwirken. Diese Beobachtung soll den Ausgangspunkt bilden, um die beiden genannten Fragen zu beantworten. Exemplarisch ziehe ich meine Performance Limits of Perception von 2016 heran, die Teil der aus insgesamt vier Performances bestehenden Werkserie Limes ist. Die einzelnen Performances von Limes variieren sowohl von ihrem Motiv her als auch in ihrer Realisierungsweise, doch liegt der Serie insgesamt eine mathematische Struktur zugrunde, die unverändert bleibt und im Sinne eines Kerns das Konzept der Serie bildet.1 Zwischen ihm und seiner Realisierung entstehen aber an einzelnen Punkten Spannungen. Oft kommt es dazu, dass auf diesem Spannungsfeld musiktheoretische Ansätze meine künstlerische Praxis lenken und ich versuche dann, diese Ansätze – auf Grundlage meiner ästhetischen Erfahrungen – experimentell umzusetzen.
Im ersten Teil der Performance Limits of Perception2 befinde ich mich in einem von mir konstruierten Käfig aus einem Holzrahmen (3m x 3m), auf dem äquidistante Gummibänder entlang aller drei Achsen befestigt sind. Der Käfig stellt ein dreidimensionales kartesisches Koordinatensystem dar und symbolisiert zugleich sowohl die Art als auch die Grenzen der Wahrnehmung. Im zweiten Teil versuche ich, mich von diesen Grenzen – von der physischen bzw. von der materiellen Ebene – zu befreien. Am Ende entsteht eine Utopie, da ich symbolisch die Begrenzungen überwinde und die Limits „zerbreche“ oder „zerreiße“, wodurch ein flüchtiger und fiktiver Zustand der Befreiung erreicht wird. Die Musik bzw. das Sounddesign begleitet diesen Prozess: Im ersten Teil werden die gesamte Bühne sowie mein Körper mit einem Hall-Effekt verstärkt. Die Schritte werden dabei durch Mikrofone unter der Bühne und mein Atem durch ein Headset-Mikrofon übermittelt, was die Anstrengung und die Energie, die in die Performance eingeht, zusätzlich zum ohnehin Hörbaren steigert. Im zweiten Teil kommt neben der Mikrofonierung ein vorab aufgenommener Track hinzu. Dieser beginnt mit einer chaotischen Klangtextur, die sich allmählich in einen Dur-Dreiklang transformiert und sich schließlich im Unhörbaren auflöst. Dadurch wird der Effekt der ‚Utopie‘ auch klanglich unterstützt.

Theorie (hier: Musiktheorie) trat während des Entstehungsprozesses, der Realisation und im Nachhinein nicht frei flottierend in Aktion, sondern die Theorie wurde sortiert oder gelenkt von meiner ästhetischen Erfahrung. Theoretische Anteile und Arbeitsweisen ergaben sich in diesem Fall bei den folgenden Aspekten: 1) Überlegungen, die der Komposition vorausgingen;
2) Entstehungsprozesse begleitende Reflexionen im Kontext mit der Erstellung neuer Fassungen der Performance; 3) nachträgliche Reflexionen über das Ergebnis bzw. die
endgültige Realisierung; und 4) Überlegungen dazu, wie aufgrund der gemachten Erfahrungen eine neue Arbeit zu konzipieren wäre. Ich möchte jeden der vier Punkte exemplarisch kommentieren. Beginnen werde ich mit Fragen, die sich bei der Entwicklung des Konzepts von Limes ergaben.
Zu Punkt 1: Die Überlegungen, die der Komposition von Limits of Perception vorausgingen, setzten bei der Kenntnis und kritischen Auseinandersetzung mit Performances anderer Komponist*innen an, ich machte mir Probleme und Grenzen solcher bereits existierenden Performances klar (wie in einem Forschungsprojekt, wo zunächst der Forschungsstand zu dokumentieren ist und Desiderata aufzuzeigen sind). Anschließend überlegte ich, wie offene Fragen beantwortet und vielleicht sogar Mängeln existierender Performancekunst mit meinem eigenen neuen Konzept begegnet werden könne.
Bei meinen musikalisch-szenischen Performances ziehe ich Parallelen zum Werk der Performance-Künstlerin Marina Abramović (* 1946), die, wie ich, aus Serbien stammt. Wie in ihrem Werk spielt auch in meinen Arbeiten ein minimalistischer Ansatz eine zentrale Rolle, ebenso wie die Verbindung der Klang-Ebene mit Elementen und Ausdrucksbereichen der bildenden Kunst und mit sichtbaren körperlichen Bewegungs-Aspekten (einem Bereich von Tanz und von Schauspiel). Allerdings unterscheidet sich das Verhältnis dieser Komponenten in meinen Performances von dem in Abramovićs Arbeiten: Dem Hörbaren kommt bei mir meist eine deutlich größere Rolle zu.
Immer wieder stellt sich mir beim Komponieren die Frage, inwiefern das Hörbare das Sichtbare konkretisieren, verdoppeln, es klarer machen oder Analogien zu ihm bilden soll. Und von welchem Punkt an werden solche Entsprechungen überflüssig oder redundant? Diese Fragen lassen sich beantworten, indem man sich die eigene ästhetische Erfahrung vergegenwärtigt, aber auch, indem man bedenkt, wie welche Aktionen von Zuschauer*innen reflektiert werden könnten oder – im Nachhinein – welche Aktionen von ihnen tatsächlich wahrgenommen und reflektiert wurden. Während des Entstehungsprozesses meines Stücks hatte ich ursprünglich einen aufgenommenen bzw. programmierten Klang für das ganze Stück vorgesehen, der als Hintergrund die Atmosphäre beschreiben und das Konzept unterstützen sollte. Im weiteren Verlauf der Realisierung und Konzeptentwicklung ergab sich jedoch der Bedarf nach einer performativen Komponente, die die Energie und Anstrengung auf der Bühne stärker hervorhebt. Gleichzeitig empfand ich das ursprüngliche Sounddesign als überflüssig, da es das Konzept lediglich verdoppelt hätte und dadurch für zuschauende Hörer*innen weniger attraktiv gewesen wäre. Nach einigem Überlegen und allerlei Änderungen habe ich mich entschieden, den Hauptanteil der aufgenommenen Klänge zu eliminieren und stattdessen die Bühne als Raum sowie die Aktionen der Performerin mit Mikrofonen und zusätzlichen live- Effekten akustisch ins Zentrum zu rücken.
Zu Punkt 2: Während der Realisierung stellte sich als wichtigste Frage heraus, inwieweit man dem Publikum das Konzept vermitteln oder es offen und unbestimmt lassen soll. Was soll davon verständlich und eindeutig sein? Wo soll man hingegen den Zuschauer*innen die Freiheit lassen, ein eigenes Verständnis einzubringen? Diese ÜbeIst es denn das Ziel, ein Gleichgewichtrlegungen führten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Balance zwischen Klarheit und absichtsvoll in die Perzeption ausgelagerter Interpretation. Einerseits kann ein stark geführtes Konzept die Vorstellungskraft des Publikums einschränken, andererseits besteht bei großer Offenheit die Gefahr, dass das Vorhaben der Performance oder die Idee, an der sie sich entzündete, verloren geht. Ein forschender Ansatz wäre, systematisch zu erfassen und womöglich aufzulisten, welche Möglichkeiten es gibt und wohin sie führen würden. Beispielsweise könnte man untersuchen, welche Aspekte des Werks als Leitfaden dienen könnten und welche bewusst abstrakt gehalten werden sollten, um Raum für individuelle Deutungen zu schaffen. Zusätzlich stellt sich die Frage, wie visuelle, akustische oder narrative Elemente gestaltet werden können, um (für künftige Performer, aber auch für das Publikum) eine Balance zwischen Vorgabe und Freiheit zu schaffen, sodass sich die Wirkung der Performance auf den jeweiligen Moment und den Ort abstimmen lässt. Ohne Vorgabe würde die Performance beliebig, doch möchte ich sie indes nicht weiter als nötig ausformulieren. Nicht nur die konkrete Gestaltung, sondern sogar das Verhältnis von Sehen, Hören und Story soll ein stückweit dem Moment überlassen bleiben.
Zu Punkt 3: Nachträgliche Reflexionen beinhalten so etwas wie eine musikalische Analyse der Performance. Hier liegt ein traditioneller musiktheoretischer Zugang nahe: Reflexion über bereits Vorhandenes. Anhand konkreter Stellen aus meiner Performance Limits of Perception möchte ich erläutern, wie sich diese aus der Rückschau darstellt und wo ich alternative Lösungen und Ansätze ausprobieren möchte. Beispielsweise habe ich mir die Frage gestellt, ob man die Schritte im ersten Teil mehr stilisieren und planen sollte oder ob sie noch freier und unbestimmter als in der ursprünglichen Performance sein könnten. Eine detailliertere Planung würde einerseits die Aufführung „sicherer“ machen, könnte andererseits jedoch die spontane Energie vor Ort reduzieren und in eine Art inszeniertes Schauspiel übergehen, wie es etwa von Marina Abramović konzipiert wurde.3 Zudem habe ich darüber nachgedacht, ob der Höhepunkt des Stücks durch den Einsatz von Schreiklängen intensiver gestaltet werden könnte. Kann aber ein Schrei in diesem Moment ehrlich und natürlich aus dem Körper kommen? Wenn nicht, würde man ihn als überflüssig, fremd und nicht performativ im Sinne der Performance Art wahrnehmen, die ja das Vorgeführte zur Realität des Augenblicks werden lässt.
Das führt zu Punkt 4, Überlegungen dazu, wie aufgrund der gemachten Erfahrungen eine neue Arbeit zu konzipieren wäre. Solche Überlegungen würden bei einem naturwissenschaftlichen Experiment zu einem anderen Untersuchungsansatz führen. Ich möchte zur Veranschaulichung kurz beschreiben, welche Reaktionen auf die Performance aus dem Publikum kamen. Die Reaktionen und Kritiken waren überwiegend positiv. So wurde z.B. geäußert, dass die Grundidee im Prinzip verständlich war und zugleich einen Imaginationsraum beließ und dass die Performance jene Emotionen geweckt hatte, die ich mir vorstellte bzw. beabsichtigte. Andererseits habe ich Inputs bekommen: dass nämlich manche Bewegungen und Klänge noch intensiver hätten sein können und dass man die zugespielten Klänge komplett weglassen könnte. Diese Reaktionen haben teilweise meine Vorstellungen bestätigt und mich zu neuen Methoden der Konzeptentwicklung geführt. Die neuen Konzepte reagieren darauf, dass beim Publikum noch andere, manchmal schwer voraussehbare Faktoren eine Rolle für die Perzeption spielen, etwa eine regional bestimmte Fantasie und lokal abhängige interpretative Elaboration. Hier kann erforscht werden, welchen unterschiedlichen Ausprägungen oder Ausführungen solche Performances Raum bieten: Auf welche regionalen oder lokalen Momente kann oder möchte ich mich mit meinen Performances einlassen? An welcher Stelle verwandelt sich die Performance in ein neues Projekt? Was macht ihre Identität bzw. ihr So-und-nicht-anders-Sein aus?
Es ist unwahrscheinlich, dass man die regionalen und lokalen Aspekte bzw. die aus ihnen hervorgehenden Reaktionen wirklich im Voraus planen kann. Und ein kulturell homogenes Publikum wird kaum jemals zu finden sein; man kann die Zusammensetzung des Auditoriums nur in seltenen Fällen beim Komponieren einplanen (etwa bei Auftragskompositionen für bestimmte Anlässe mit geladenen Gästen). Daraus ergibt sich die Frage, ob es nützlich wäre, wenn ich anhand bisheriger Erfahrungen bei der Aufführung der Performance mehrere Möglichkeiten bereithalten und sie zunächst einmal für mich auflisten würde. Doch kann man so etwas wie eine Menge verschiedener Reaktionen auf eine Performance anhand solcher Komponenten wie Religion, Kultur etc. auch zu den Freiheiten zählen, die der Komponist oder die Komponistin ausdrücklich lässt. Dass etwas anders verstanden wird als geplant, kann auf jeden Fall ein gutes Ergebnis sein. Problematisch wäre, wenn man sich aufgrund kultureller oder religiöser Faktoren auf gar keine Interpretation einer Performance einstellen kann, die auf eine bestimmte Aufführungslokalität zugeschnitten wäre oder ein bestimmtes Publikum antizipierte. Eine solche Erfahrung hatte ich mit der Performance 0 x infinity, die ebenfalls zu der Limes-Serie meiner Performances gehört. Das Publikum stammte teilweise aus der Türkei und teilweise aus Österreich bzw. Zentraleuropa und diese Performance fand im Rahmen eines Abschlusskonzerts eines Feldforschungsprojekts4 statt. Die Mehrheit des türkischen
Publikums setzte die Aussage dieser Performance mit religiösen Einstellungen in Beziehung, während die Mehrheit des österreichischen bzw. zentraleuropäischen Publikums die Performance eher als eine feministische Geschichte verstand. Was mich wunderte, war, dass beide Interpretationen gleichzeitig gut zu meiner ursprünglichen Idee passten. Dennoch hätte ich mich mit der konkreten Aufführung gern genauer auf das Publikum eingestellt, um die Performance intensiver wirken zu lassen.
Eine Frage, mit der ich diesen Beitrag schließen möchte, ist, ob man solche Überlegungen zur eigenen und fremden ästhetischen Erfahrung und zur lokal sowie kulturell definierten Perzeption dem Feld der (Musik-)Theorie oder dem der Komposition zuordnen soll. Gehören Überlegungen zu Wechselwirkungen zwischen sichtbarem Geschehen auf der Bühne und dem zu Hörenden eher zur Arbeit der Komponistin als der Theoretikerin? Jedenfalls wird mit ihnen ein kompositorischer bzw. schöpferischer Prozess untersucht, abstrahiert und sowohl methodologisch als auch (mit Blick auf ein Publikum) didaktisch betrachtet sowie aktiv gelenkt. Daher sind solche Überlegungen vielleicht keine rein analytischen Tätigkeiten. Falls sich Musiktheorie nicht nur als Analyse von Fertigem versteht, könnte sie im Sinne einer künstlerisch profilierten Forschungspraxis mehr als nur bereits bestehendes Musikmaterial in den Blick nehmen. Mir scheint, dass fast alle zeitgenössischen Künste zusehends mehr zur Abstraktion bzw. zu konzeptuellen Formen neigen, wobei die Formen letztendlich fast nur als ein Medium der Realisierung dienen. Eine Performance, in die Musik als Medium involviert ist, wirkt womöglich intensiver, wenn sie ‚selbstgemachte‘ und imaginierte ästhetische Erfahrung sowie neben theoretischer Reflexion auch musiktheoretische Konstruktion in ihre Erfindungsmodi aufnimmt.
Literatur
Abramović, Marina: Im Gespräch mit Marina Abramović. Interview geführt von Stefanie Hammer und Norbert Classen, moment by moment, 6. Juni 2022, https://www.moment-by-moment.de/im-gespraech-mit-marina-abramovic/ (Stand: 12.12.2024)
Hristina Šušak: „Limes: Limits of Perception“ (2016). Installation, sound design and performance. Werkbeschreibung auf der Šušaks Homepage:
https://hristinasusak.com/portfolio/limes-limits-of-perception-2016/ (Stand: 12.12.2024)
Hristina Šušak: Limits of Perception auf YouTube:
https://www.youtube.com/watch?v=KB5bj8ImMUk (Stand: 12.12.2024)
[1] Zu den hier nicht weiter zu erörternden mathematischen Grundlagen siehe die Stückbeschreibung von Limits of Perception auf meiner Homepage: https://hristinasusak.com/portfolio/limes-limits-of-perception-2016/
[2] Eine Aufzeichnung dieser Performance ist auf YouTube zu finden: https://www.youtube.com/watch?v=KB5bj8ImMUk
[3] Abramović, 2022
[4] Es handelte sich um das Feldforschungsprojekt Confusing Inspiration 2, angesiedelt an der Universität für Musik und darstellende Kunst, geleitet von Johannes Kretz, Wei-Ya Lin und Hande Sağlam, 2016–2017.
Hristina Šušak, geboren 1996 in Novi Sad, studierte Komposition bei Iris ter Schiphorst und Musiktheorie bei Gesine Schröder an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 2019 nahm sie an einer Masterclass von Marina Abramović in Belgrad teil. Anschließend absolvierte sie ein Meisterklassestudium bei Mark Andre in Dresden. Ihre Werke wurden unter anderem vom Ensemble Intercontemporain, in der Philharmonie de Paris, bei der Biennale di Venezia, der Paris Fashion Week, vom MDR-Sinfonieorchester, dem Arditti Quartett, den Neuen Vocalsolisten sowie beim Stuttgarter ECLAT-Festival und im Volkstheater Wien aufgeführt. Neben ihrer kompositorischen Tätigkeit hielt sie musiktheoretische Vorträge, unter anderem an der Sorbonne Université, am Moskauer Konservatorium, bei GMTH- Jahreskongressen und an der Universität der Künste in Belgrad. 2021–23 lehrte sie Tonsatz an der HMT Leipzig, seit 2023 unterrichtet sie Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin.