Friedrich Nietzsche – Ein Philosoph als Komponist
In seiner kulturhistorischen Monographie zu Marx, Wagner und Nietzsche hat der Politologe Herfried Münkler jüngst die vielfältigen Verbindungen zwischen Nietzsche und Wagner und deren Nähe und Distanz herausgearbeitet.1 Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen; vielmehr soll hier eine Seite des Philosophen beleuchtet werden, die bei dem Fokus auf seine Schriften oft vernachlässigt wird: seine starke Affinität zur Musik und seine musikalische Begabung, die sich in pianistischen Improvisationen und eigenen Kompositionen niedergeschlagen hat.
Dass ein Philosoph von der Bedeutung und Wirkung eines Friedrich Nietzsche sich auch als Komponist betätigt und verstanden hat, ist ungewöhnlich und ruft die Frage hervor, wie sich sein Philosophieren und Komponieren zueinander verhalten und welchen künstlerischen Rang seine kompositorischen Arbeiten beanspruchen können. Schon im Schüleralter wird erkennbar, welch hohen Stellenwert die Musik in seinem Leben einnimmt. Und noch während der Gymnasialzeit bleibt offen, ob sein Weg ihn zur Philologie, zur Dichtung oder zur Musik führen wird. Die Musik und die klassischen alten Sprachen treten dann aber immer mehr in den Vordergrund und bestimmen sein Leben. Aber Musik fasziniert ihn weiterhin weniger wegen ihrer formalen Strenge, sondern weil sie ihm die Möglichkeit bietet, emotionalen Ausdruck der jeweiligen Befindlichkeit seines Erlebens und Denkens zu spiegeln. Und so wie sich später sein Philosophieren statt in einer systematischen Lehre in einzelnen Aphorismen vollzieht, so äußert er sich pianistisch am liebsten in weit ausschwingenden, rhapsodischen Improvisationen – einer Stilform, die auch die ausgeführten Kompositionen formal prägt. Als Dilettant im besten Wortsinn verfügte Nitzsche nicht über die notwendigen kompositionstheoretischen Grundlagen; seine Kompositionen entfalten sich daher häufig in einem Wildwuchs musikalischer Ideen ohne klare Struktur und formale Kontrolle der musiktheoretischen Grundlagen. Dennoch bleibt eine grundlegende musikalische Begabung unverkennbar.
Jugendliche Ambitionen
Aufgewachsen in einem lutherischen Pfarrhaus in Röcken im Kreis Merseburg in der preußischen Provinz Sachsen wäre Nietzsche eine theologische Laufbahn vorgezeichnet gewesen. Die humanistische Ausbildung im Domgymnasium Naumburg und in der Klosterschule Schulpforta hätte den Weg dahin ebnen können. Aber schon früh zeigte sich seine musikalische Neigung. Eines der frühesten Zeugnisse ist ein Blatt um 1851, auf dem der Sechsjährige auf selbstgezogenen Notenlinien einige Töne (man mag noch nicht von einer Melodie sprechen) notiert, die er möglicherweise auf dem Klavier zusammengesucht hatte. Doch in die Mitte des Blattes zeichnet er einen Turm oder ein Schiff und signiert es selbstbewusst mit einem großem „FN.“[2]

Der Portenser Stipendiat zeigte dann neben dem Interesse an den alten Sprachen eine starke Hinwendung zu Dichtung und Musik. Mit seinen Schulfreunden Wilhelm Pinder und Gustav Krug gründete er die künstlerisch-literarische Vereinigung „Germania“, zu der die Freunde wissenschaftliche, musikalische und dichterische Arbeiten beitrugen. Als Schüler hatte Nietzsche Klavierunterricht erhalten und sich die Sonaten Beethovens und die Klaviermusik seiner Zeit angeeignet. Seine Freunde bewunderten insbesondere sein Improvisationstalent. Ein Mitschüler aus Schulpforta, Carl von Gersdorff, verweist in seinen Erinnerungen auf die starke emotionale Bedeutung, die Musik für Nietzsche besaß:
„Seine Improvisationen (in der Pfortenser Zeit) sind mir unvergesslich; ich möchte glauben, selbst Beethoven habe nicht ergreifender phantasieren können, als Nietzsche, namentlich wenn ein Gewitter am Himmel stand.“[3]
Eine seiner frühesten Kompositionen ist die Geburtstagssinfonie für Violine und Klavier, die er vermutlich 1857 zum Geburtstag seiner Schwester oder eines seiner Freunde (vermutlich Gustav Krug, der Geige spielte) 1857 mit 12 oder 13 Jahren geschrieben hat. Auch andere der frühen Kompositionsversuche sind aus Anlass von Familienfeiern oder für den Freundeskreis entstanden.
Bei der Partitur-Reinschrift dieser Geburtstagssinfonie fällt die akkurate Schrift ins Auge, die schon eine erstaunliche Kennerschaft verrät. Ein kleiner orthographischer Fehler in den Takten 5–7 im Finale, wo die beiden Viertel eigentlich zwei Achtel sein müssten, um dem ¾ Takt zu genügen, mögen der kindlichen Flüchtigkeit geschuldet sein. Interessanter ist aber, dass das eintaktige Motiv des Finales immer unmittelbar wiederholt (notiert mittels „Faulenzern“), beim dritten Mal dann aber weggestrichen wird, weil diese Verdopplung der melodischen Periodizität und harmonischen Symmetrie zuwiderliefe. Hier zeigt sich schon bei dem 12- oder 13-jährigen Schüler ein sensibles Formgefühl, das sich sicher den Erfahrungen im Umgang mit den Werken seines Klavierunterrichts verdankt.

Formal gliedert sich die Sinfonie in drei Teile, einen 30-taktigen Eröffnungssatz, ein knappes, dreiteiliges Trio, dessen 3-taktiger Mittelteil überraschend in ein Vierer-Metrum wechselt, und ein 10-taktiges Finale. Hier ist die dreisätzige Sinfonieform (schnell – langsam – schnell) von klassischen Vorbildern abgeschaut, bleibt aber in ihrer Schlichtheit dem kindlichen Vermögen angepasst. Zur Eröffnung folgt der „Mannheimer Rakete“[4] ein festlicher Marsch im punktierten Rhythmus im Stil der französischen Ouvertüre, gefolgt von einer Legato-Melodie (T.8). Kurz und knapp folgt der thematischen Idee deren Wiederholung, und schon ist der Satz zu Ende. Noch spärlicher fällt das Trio mit seinen 5 + 3 + 5 Takten aus. Im Finale schließlich dominiert die Wiederholung von Dreiklangsbrechungen. Das ist zwar alles noch sehr schlicht, lässt aber schon einen kompositorischen Willen und ein erwachendes Formgefühl erkennen. Selbstbewusst hatte der erst 12-jährige Nietzsche bereits eine Sonatine op. II entworfen sowie eine dreisätzige Sonate D-Dur (Allegro – Andante – Grave) und eine einsätzige Sonate G-Dur, von denen er eine säuberliche Reinschrift mit Titelblatt (MS 7) anfertigte.
Nach dem Abitur in Schulpforta begann Nietzsche zum Wintersemester 1864/65 in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und evangelischen Theologie und wurde Mitglied der Burschenschaft Frankonia. Gleichzeitig vertiefte er sich weiter in die Musik, komponierte Klavierstücke und Lieder und verbrachte viel Zeit im Theater und in Konzerten. Musik war ihm von Anbeginn zum Lebenselixier geworden. An seinen Freund Heinrich Köselitz (der sich später Peter Gast nannte) schrieb er am 15. Januar 1888 aus Nizza:
„jedes Mal kommt hinter einem Abend Musik […] ein Morgen voll resoluter Einsichten und Einfälle. Das ist sehr wunderlich. Es ist als ob ich in einem natürlicheren Elemente gebadet hätte. Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrthum, eine Strapaze, ein Exil.“ (eKGWB, BVN 1888, S. 976)
Nach einem Semester gab er das ungeliebte Theologiestudium in Bonn auf und wechselte zusammen mit seinem Freund Gersdorff 1865 zum Philologie-Studium nach Leipzig. Danach erhielt er bereits 1869 auf Veranlassung seines Leipziger Lehrers Friedrich Ritschl eine außerordentliche Professur für Klassische Philologie an der Universität Basel. Dort trat er dann auch als Improvisator gesellschaftlich in Erscheinung.
„Noch [Peter] Gast spricht von dem Glück, den Basler Nietzsche als Klavierspieler gehört zu haben; in Basel selbst erzählt man noch von der seltsamen Selbstvergessenheit, die sich des phantasierenden Nietzsche bemächtigen konnte: wie er auf einer Basler Wintergesellschaft, bei der musiziert werden sollte ….zunächst in seiner gewohnten Weise zurückhaltend und vornehm-schüchtern nur ungern der Höflichkeitsbitte der Geladenen um ein wenig Musik nachgibt, wie sein Spiel wärmer werdend alsbald in freies Phantasieren von immer kühnerem improvisatorischen Schwunge übergeht. Er scheint ein ganz anderer, als der reservierte, gesucht formvolle und selbst zeremoniöse Professor, als den man ihn sonst kennt, er vergißt selbst die Gelegenheit, den Ort, die Zeit, er phantasiert und phantasiert, die Gesellschaft ist betreten …. Nietzsche bemerkt nichts, er phantasiert fort, er ist mit sich allein – und der befremdeten Gesellschaft bleibt nichts übrig, als ihn mit sich allein zu lassen.“[5]
Die Kompositionen
Seit der Begegnung mit Richard Wagner und dem Enthusiasmus für dessen Musik sieht sich der junge Nietzsche selbst immer mehr auch als Komponist. Der musikalische Nachlass[6] umfasst insgesamt 74 Titel, die auch zahlreiche Fragmente und Skizzen einschließen. Zwischen 1861 und 1887 sind es 42 Werke, darunter verschiedene Klavierstücke zu zwei und vier Händen sowie Lieder auf Texte von Friedrich Rückert, Klaus Groth, Joseph von Eichendorff, August Hoffmann von Fallersleben, Alexander Puschkin, Sandor Petöfi, Adalbert von Chamisso, Lord Byron, Emanuel Geibel und Lou Salomé, ferner Fragmente zu einer Großen Sonate, eine Messe, Chorsätze, ein Entwurf zu einem Weihnachtsoratorium, Hymnen, eine Ouvertüre für Streichorchester, die Klavierfassung einer Symphonischen Dichtung (Ermanarich) und weiterer musikalischer Dichtungen (Eine Sylvesternacht; Manfred-Meditation).
Diese Kompositionen stellen aber nicht nur dilettantische Kompositionsversuche dar, sondern durchaus ernst zu nehmende Stücke, die Nietzsches musikalischem Ausdrucksbedürfnis Gestalt verleihen. Dies geschieht spontan und eruptiv, unbekümmert um kompositionstechnische Ansprüche an Form und thematische Durcharbeitung. Vielmehr versinkt Nietzsche selbstvergessen in harmonischen Strömen, die aber deutlich geprägt sind von der musikalischen Sprache seiner Zeit und den stilistischen Merkmalen Beethovenscher Formensprache, Schumannscher Melodik oder Lisztscher Harmonik. Diese Stücke verlangen pianistisch durchaus technisches Können und bestätigen seine klaviertechnischen Möglichkeiten. Aber zugleich offenbart sich darin auch ein künstlerisches Dilemma. Denn er weiß durchaus um seine kompositorisch begrenzten Möglichkeiten und bekennt seinem Freund Gustav Krug diesen Mangel, indem er – nicht ohne Koketterie – auf die große Differenz zu seinem philosophischen Werk verweist:
„Mein lieber Gustav, diesmal trenne ich mich wirklich recht schwer von Deiner Musik, wie von etwas, was mir täglich lieber und sympathischer wurde und das man endlich nur mit Widerwillen der Post zum Lange-Nichtwiedersehen-Hören anvertraut. Verliebt habe ich mich in Deine Musik: nur möchte ich mehr Musiker sein, um sie noch unbehinderter schlürfen zu können. Mindestens wünschte ich mir ein recht schönes 4 händiges Arrangement, von einem Meister des Klaviers und der jetzigen Technik gemacht. Deine Musik trieft um biblisch zu reden, vom Oele der Anmuth und Wehmuth; wie komme ich mir dann immer vor mit meinen plumpen Geschichten und täppischen fortissimi’s mit tremoli’s, wenn ich Deine Stimmenführungen sehe, wie schöngeschuppte graziöse Schlangen, und Deine Contrapunktik studire! Wirklich mein lieber Freund, aus Dir braucht nichts zu werden: denn Du bist was geworden: ein tüchtiger Musiker, während unser eins sich mit „Dionysisch“ und „Apollinisch“ lächerlich macht. Wie unvergleichlich ist, gegen jedes Theoretisiren gehalten, jedes wirkliche Produziren! Sei aber zufrieden, bei der innerlichen Art Deiner Musik, daß Du einen sogenannten Beruf hast, der gar nichts „Dionysisches“ in sich trägt: denn es ist schädlich, so musikalisch schwermuthsvoll auf dem Bauche zu liegen, wie ein Bär auf seiner Bärenhaut, ‚alle sechs Tagewerke im Busen fühlen‘, wie Faust sagt — ich wenigstens habe wieder einmal für 6 Jahre das Musikmachen verschworen. ‚Der Ozean warf mich wieder einmal an’s Land‘, im vorigen Winter, nämlich auf die Sandbank der Dir bekannten Compositionen. Damit soll’s aber genug sein. Ich gerathe, wie diese Compos. beweisen, in wahrhaft skandaleuser Weise in’s Phantastisch-Häßliche, ins Ungeziemend-Ausschweifende. Und ich erwartete von Deiner Seite, einigen Schimpf und Schmach davon zu tragen. Solltest Du aber für Manfred eine wirkliche Art von Neigung haben, wie Dein Brief gütig genug war zu versichern, so warne ich Dich ganz ernsthaft, lieber Freund, vor Dieser meiner schlechten Musik. Laß keinen falschen Tropfen in Deine Musikempfindung kommen, am wenigsten aus der barbarisirenden Sphäre meiner Musik. Ich bin ohne Illusionen — jetzt wenigstens.
Verlange nur von mir nichts Kritisches — ich habe keinen guten Geschmack und bin, in meinen musikal. Kenntnissen, recht heruntergekommen, kann auch wie Du gesehn hast, gar nicht mehr orthographisch schreiben. — Ich bin jetzt nur soviel Musiker, als zu meinem philosophischen Hausgebrauche eben nöthig ist.“ (Brief vom 24.07.1872, eKGWB, 1872, S. 242)
Schon in der Baseler Zeit entwirft er in einer öffentlichen Vortragsreihe an der Universität Anfang des Jahres 1872 Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten ein radikal elitäres Bildungsprogramm, in dem er dem „echten deutschen Geist“ die „ungermanische Civilisation der Franzosen« entgegenstellt, bei der sich „der Journalist zu Schiller wie Meyerbeer zu Beethoven« verhalte.[7] Diese Bildungsidee war ihm so wichtig, dass er eine Abschrift der Vorrede für Cosima Wagner zu Weihnachten 1872 anfertigte.
Nietzsches Begeisterung für die Musik von Richard Wagner gipfelte in den Reflexionen über Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Nietzsche, 1872). Er hatte in diesem Jahr wieder eine ältere Arbeit aufgegriffen: Eine Sylvesternacht für Violine und Klavier (1863) und als Nachklang einer Sylvesternacht mit Prozessionslied, Bauerntanz und Glockengeläut für Klavier zu vier Händen bearbeitet (1871). Dies wollte er Cosima Wagner zu ihrem Geburtstag am 25. Dezember 1871 widmen. Seinem Freund Gustav Krug schrieb er im November:
„Inzwischen ist ein sonderbares Opus fertig geworden, gleichsam aus der Luft gefallen. Das erste Motiv war nur, etwas von meinen früheren Sachen vierhändig zuzurichten, so daß ich es mit meinem Collegen Overbeck zu spielen vermöchte. Ich verfiel auf jene „Silvesternacht“: aber kaum hatte ich das Notenpapier gekauft, so verwandelte sich alles unter meinen Händen, und von dem ersten Takte an ist es etwas völlig Neues geworden. Der lange Titel dieses 4 händigen Satzes, dessen Ausführung 20 Minuten dauert, lautet: ‚Nachklang einer Sylvesternacht, mit Prozessionslied, Bauerntanz und Mitternachtsglocke.‘ —
Du weißt, wie erstaunt ich war, Dich noch bei frischer Componirstimmung anzutreffen, und ich kam mir wer weiß wie verwelkt oder auch „weise“ vor, daß ich darin mich seit 6 Jahren resignirt hatte. Und nun hinterdrein! Du siehst, was Dein Beispiel an mir gefruchtet hat! Im Übrigen bin ich jetzt, wo ich das Werk hinter mir habe, fast auf dem früheren Punkte und denke nicht daran weiter zu componiren: weshalb ich sagte, diese Composition sei aus der Luft gefallen. Jedenfalls klingt sie gut: sie hat etwas Populäres, geräth nie in’s Tragische, wenn auch in’s Ernste und Wehmüthige. Mitunter ist sie triumphirend, ja auch schmerzlich ausgelassen, kurz — wenn Du Dich unserer Ferienstimmungen erinnern willst, der Spaziergänge über den Knabenberg, bis auf ‚das Ding an sich‘, so wirst Du eine Exemplifikation dieser „dionysischen Manifestation“ haben. Das Ganze ist auf wenig Themen aufgebaut, in der Tonfarbe freilich orchestral, ja förmlich gierig nach Orchestration, aber Du weißt — hier kann ich nicht mehr mit. Die Geburtstage sind der 1te bis 7 November: es ist ein so reinliches Manuscript, daß ich mit Overbeck es immer aus der ersten Niederschrift bis jetzt gespielt habe. Jetzt schreibe ich es nochmal ab, um meiner ausgezeichneten und verehrten Freundin, Frau Cosima W., ein Geburtstagsgeschenk machen zu können.“ (Brief vom 13.11.1871, eKGWB, 1871, S. 165)
Dies teilte er auch einem ehemaligen Leipziger Kommilitonen Erwin Rohde mit:
„Frau W. deren Geburtstag am 25 Dec. ist (und der ich, an Deiner Stelle schreiben würde!) habe ich meine „Sylvesternacht“ gewidmet und bin gespannt, was ich über meine musikalische Arbeit von dort aus zu hören bekomme, da ich noch nie etwas Competentes zu hören bekam. Wenn ich dieselbe Dir einmal zum Vortrag bringe, wirst Du, wie ich glaube, mit Rührung den warmen, beschaulichen und glücklichen Ton heraushören, der durch das Ganze hindurchklingt und für mich eine verklärte Erinnerung an das Glücksgefühl meiner Herbstferien zu bedeuten hat.“ (Brief vom 21.12.1871, eKGWB, BVN 1871, S. 177)
Cosima bedankte sich eher zurückhaltend, aber freundlich am 30.12.1871:
„Sylvestertag soll für die Sylvester-Nacht-Klänge danken; gemeinsame Eindrücke zur Erinnerung geworden, läuteten durch die Mitternachtsglocken meinem diesjährigen Geburtstag, und ich sage dem freundlichen Melomanen Dank!“[8]
Welch geringen Eindruck er jedoch bei Wagner erzielte, zeigt ein Bericht von Hans Richter, der zusammen mit Cosima die »Sylversterglocken« spielte:
„Wagner saß unruhig dabei, knetete sein Barett und ging vor Schluß hinaus … ich fand den Meister bloß in vollem Lachen. ›Da verkehrt man nun schon seit anderthalb Jahren mit dem Menschen, ohne dergleichen zu ahnen: und nun kommt er so meuchlings, die Partitur im Gewande‹.“[9]
Eine Entfremdung zu Wagner bahnte sich seit 1874 an, als Nietzsche im August Richard und Cosima Wagner in Bayreuth besuchte, und gipfelte dann in dem totalen Bruch mit Wagner und seiner Musik (Der Fall Wagner, 1888; Nietzsche contra Wagner, 1889).
In der quasi symphonischen Manfred-Musik, die thematische Elemente seiner Sylvesternacht aufgreift, zeigt sich noch einmal der Zwiespalt seines kompositorischen Bemühens: seine Selbstzweifel bei gleichzeitiger Selbstüberschätzung. So legt er die Manfred-Meditation (1872) für Klavier zu 4 Händen selbstbewusst einem der herausragendsten Musiker seiner Zeit, Hans von Bülow, in dem Bewusstsein vor, dass sich darin seine philosophische „Erkenntnis des Leidenden“ (M 114) aufs Engste mit seiner Musik verbinde.[10] Doch die Ablehnung von Bülows erfolgte am 24. Juli 1872 umso drastischer:
„Ihre Manfred-Meditation ist das Extremste von phantastischer Extravaganz, das Unerquicklichste und Antimusikalischste, was mir seit lange von Aufzeichnungen auf Notenpapier zu Gesicht gekommen ist. Mehrmals mußte ich mich fragen: ist das Ganze ein Scherz, haben Sie vielleicht eine Parodie der sogenannten Zukunftsmusik beabsichtigt? Ist es mit Bewußtsein, daß Sie allen Regeln der Tonverbindung, von der höheren Syntax bis zur gewöhnlichen Rechtschreibung, ununterbrochen hohnsprechen? Abgesehen vom psychologischen Interesse – denn in Ihrem musikalischen Fieberprodukte ist ein ungewöhnlicher, bei aller Verirrung distinguierter Geist zu spüren – hat Ihre Meditation vom musikalischen Standpunkte aus nur den Wert eines Verbrechens in der moralischen Welt. Vom apollinischen Elemente habe ich keine Spur entdecken können, und das dionysische anlangend, habe ich, offen gestanden, mehr an den lendemain eines Bacchanals als an dieses selbst denken müssen. Haben Sie wirklich einen leidenschaftlichen Drang, sich in der Tonsprache zu äußern, so ist es unerläßlich, die ersten Elemente dieser Sprache sich anzueignen: eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis. … Sollten Sie, hochverehrter Herr Professor, Ihre Aberration in’s Componirgebiet wirklich ernst gemeint haben…., so componieren Sie doch wenigstens nur Vokalmusik… Sie haben übrigens selbst Ihre Musik als ‚entsetzlich‘ bezeichnet -, sie ist’s in der That, entsetzlicher als Sie vermeinen; zwar nicht gemeinschädlich, aber schlimmer als das: schädlich für Sie selbst, der Sie sogar etwaigen Ueberfluß an Muße nicht schlechter todtschlagen können als in ähnlicher Weise Euterpe zu nothzüchtigen.“[11]
Dass Nietzsches Manfred-Meditation vom kompositionstechnischen Standpunkt dem fachlichen Urteil Bülows nicht standhalten konnte, ist kaum verwunderlich, erfolgte aber in der schroff verletzenden Form doch unerwartet.

In dem als freie Phantasie angelegten Werk entwirft Nietzsche ein düsteres Stimmungsbild, das „langsam und brütend“ aus dem Tremolo des Basses aufsteigt, sich wellenartig entwickelt, aber immer wieder in den dunklen Anfangsklang zurückfällt, bis es sich zum Presto steigert und schließlich „sehr feierlich und langsam“ nach zum Teil harmonisch kühnen Verbindungen in c-Moll schließt. Kein Wunder, dass Bülow aus kompositionsästhetischen und handwerklichen Gründen entsetzt war. Mit seiner brüsken Reaktion wollte er sich dann offenbar den lästigen Komponisten-Dilettanten vom Leib halten, was ihm aber nicht gelang! Denn einige Jahre später versuchte es Nietzsche noch einmal sich an von Bülow zu wenden mit seinem Hymnus an das Leben (1887), den Peter Gast für Orchester bearbeitet hatte und der bei Fritzsch in Leipzig 1887 im Druck erschienen war. Im Februar 1887 hatte er ein Exemplar des Werks an Gustav Krug mit folgenden Worten geschickt, die die besondere Wertschätzung dieser Komposition betonen:
„[…] hiermit übersende ich Dir als meinem ältesten Freund und Bruder in arte musica, das Einzige, was von meiner Musik übrig bleiben soll – eine Art Glaubensbekenntniß in Tönen, das sich dazu eignen möchte, einmal ‚zu meinem Gedächtniß‘ gesungen zu werden. Denn so ein Philosoph, wie ich, der durchaus keine Gegenwart hat und haben will, hat vielleicht ebendamit eine kleine Anwartschaft auf ‚Zukunft‘[…]“ [12]
Und an den Dirigenten Felix Mottl schreibt er in derselben Zeit:
„Verehrter Herr,
was werden Sie von mir denken, wenn ich, mich Ihrer mich ehrenden Zeilen vom letzten Winter erinnernd, Ihnen heute Musik von mir selbst zu übersenden wage? Halten Sie diesen Hymnus eines Philosophen für möglich, für singebar, für anhörbar und aufführbar? … Ich selber bilde mir das Alles ein, mehr noch, ich wünsche, daß diese Musik ergänzend eintreten möge, wo das Wort des Philosophen nach der Art des Wortes nothwendig undeutlich bleiben muß. Der Affekt meiner Philosophie drückt sich in diesem Hymnus aus.“[13]
Noch ganz im Bann der Wagnerschen Vorstellung von der Bedeutung der Musik, die zu dem Wort hinzutritt, um die sinnliche Fassung des Wortes durch den unendlichen Gefühlsausdruck der Musik zu überhöhen (Wagner, 1983. S. 242), sieht Nietzsche in seinem Hymnus den Affekt seiner Philosophie aufgehoben. So wagt er es nach 15 Jahren, erneut ein Werk an Hans von Bülow zu senden. Aus Venedig wendet er sich am 22.10.1887 devot, aber zugleich auch durchaus selbstbewusst an ihn:
„Verehrter Herr,
es gab eine Zeit, wo Sie über ein Stück Musik von mir das allerberechtigtste Todesurtheil gefällt haben, das in rebus musicis et musicantibus möglich ist. Und nun wage ich es trotzalledem, Ihnen noch einmal Etwas zu übersenden, — einen Hymnus auf das Leben, von dem ich um so mehr wünsche, daß er leben bleibt. Er soll einmal, in irgend welcher nahen oder fernen Zukunft, zu meinem Gedächtnisse gesungen werden, zum Gedächtnisse eines Philosophen, der keine Gegenwart gehabt hat und eigentlich nicht einmal hat haben wollen. Verdient er das?…
Zu alledem wäre es möglich, daß ich in den letzten zehn Jahren auch als Musiker Etwas gelernt hätte.
Ihnen, verehrtester Herr, in alter unveränderlicher Gesinnung zugethan
Dr Fr Nietzsche Prof“ (eKGWB, BVN 1887, S. 936)
Umso mehr musste es ihn verbittern, dass Bülow darauf gar nicht mehr reagierte, so dass sich Nietzsche im vollen Bewusstsein seiner philosophischen Bedeutung pikiert am 9.10.1888 an ihn schrieb:
„Verehrter Herr,
Sie haben auf meinen Brief nicht geantwortet, — Sie sollen ein für alle Mal vor mir Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen. Ich denke, Sie haben einen Begriff davon, daß der erste Geist des Zeitalters Ihnen einen Wunsch ausgedrückt hatte.
Friedrich Nietzsche.“ (eKGWB, BVN 1888, S: 1129)
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Künstlerischer Anspruch und ästhetische Wirklichkeit
Nach Bülows vernichtender Kritik an der Manfred-Meditation muss es Nietzsche klar geworden sein, dass auch Cosima und Richard Wagner seiner Musik immer skeptischer gegenüberstanden, obwohl Wagner sich versöhnlich (aber eben auch herablassend) äußerte: „Für einen Professor komponieren Sie recht gut.“[14] Eine Entfremdung hatte sich schon 1874 angebahnt, als Nietzsche sich für Brahms begeisterte und sich von Wagners Gesamtkunstwerk abwandte.
Nietzsche blieb sich aber treu in der Sicht auf die Bedeutung seiner eigenen Musik für das philosophische Denken. In seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik hatte er „den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt“ als „die erschütternde Gewalt des Tones“, als den einheitlichen „Strom des Melos und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie“ bestimmt. „Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt;…“ (GT, eKGWB, § 2) Die das Wort übersteigende Macht der Musik, die als höchstes Darstellungsmittel „dem tragischen Mythos eine so eindringliche und überzeugende Metaphysische Bedeutsamkeit (verleiht), wie sie Wort und Bild, ohne jede einzige Hilfe, nie zu erreichen vermögen.“ (GT, eKGWB, § 21) Die den Affekt seiner Philosophie bestimmende Kraft der Töne kennzeichnet die Idee seines Komponierens. Nur Musik konnte dazu verhelfen, Herr über die eigene Stimmung zu werden. Mit dem Erlösungsmythos der Kunst steht Nietzsche noch ganz im Bann von Wagners Musikauffassung, obwohl seine eigene Musik nie nach Wagner klingt, sondern dem Duktus romantischer Musiktradition verpflichtet bleibt. Daher ist auch in seinen Werken keine stilistische Entwicklung – weder zu Wagner hin noch von Wagner weg – zu erkennen. Dafür bleibt das Komponieren in seinem Leben doch zu marginal.
Aber nicht nur die mythische Überhöhung seines Komponierens ist für Nietzsche charakteristisch; seiner Musikaffinität gründet auf einer durchaus vorhandenen musikalischen Begabung zusammen mit einem pianistischen Talent, das der technische Anspruch seiner Klavierkompositionen widerspiegelt. Alle seine ausgearbeiteten Kompositionen belegen, dass er musikalisch denken und sich im Idiom seiner Zeit ausdrücken konnte. Aber als dilettantischem Autodidakten fehlte es ihm an handwerklicher Solidität des Tonsatzes wie an der Fähigkeit, seine Ideen formal durchzugestalten. So bemängeln Wagner und Bülow nicht zu Unrecht satztechnische Fehler und formale wie harmonische Ungenauigkeiten. Aber es gibt auch durchaus anerkennende Stimmen, die sein Spiel und seine musikalischen Einfälle würdigen. So bleibt ein zwiespältiges Bild seiner Begabung und seines Könnens einerseits und seiner offen zutage tretenden Selbstüberschätzung, die zugleich aber auch immer wieder von Selbstzweifeln begleitet werden. Kennzeichnend dafür ist ein Briefentwurf an Bülow aus dem Jahr 1872:
„Es steht demnach recht traurig um meine Musik und noch mehr um meine Stimmungen. Wie bezeichnet man einen Zustand, in dem Lust Verachtung Übermuth Erhabenheit durch einander gerathen sind? — Hier und da verfalle ich in dies gefährliche mondsüchtige Gebiet. — Dabei bin ich — das glauben Sie mir — unendlich weit entfernt, von dieser halb psychiatrischen Musikerregung aus, Wagnersche Musik zu beurtheilen und zu verehren. Von meiner Musik weiß ich nur eins daß ich damit Herr über eine Stimmung werde, die, ungestillt, vielleicht schädlicher ist. An jener verehre ich gerade diese höchste Nothwendigkeit — und wo ich sie als mangelhafter Musiker nicht begreife setze ich sie gläubig voraus. Was mir aber an der letzten Musik besonders vergnüglich war, das war gerade, bei dem tollsten Überschwang eine gewisse Karikatur jener Nothwendigkeit. Und gerade diese verzweifelte Contrapunktik muß mein Gefühl in dem Grade verwirrt haben daß ich absolut urtheilslos geworden war. Und in dieser Noth dachte ich mitunter selbst besser von dieser Musik — ein höchst bedauerlicher Zustand, aus dem Sie mich jetzt gerettet haben.“ (Brief vom 29.10.1872, eKGWB, 1872, S. 268)
Den künstlerischen Anspruch an sich selbst konnte Nietzsche kaum erfüllen, weil ihm die handwerklichen Voraussetzungen dazu fehlten, was ihn aber nicht daran hinderte, mit den Größen seiner Zeit (Wagner, von Bülow, Mottl) in Verbindung zu treten und deren Urteil herauszufordern. Die ästhetische Wirklichkeit seiner Musik und sein selbstgefälliger Anspruch kennzeichnen das Dilemma, in dem sich seine Kompositionen befinden. Dem Hörer präsentiert sich dabei jedoch ein respektables und klanglich ansprechendes Werk, das pianistisch durchaus anspruchsvoll ist, kompositionstechnisch aber erkennbare Schwächen und handwerkliche Mängel aufweist.
Nietzsche und Wagner – die Beziehung zweier Antipoden
Die Auseinandersetzung mit Nietzsche als Komponist muss notwendig das zwiespältige Verhältnis des Philosophen zu Richard Wagner als übermächtigem Mentor ansprechen, dem er zeitlebens in einer Art Hassliebe[15] verbunden blieb,[16] indem er dessen Musik bewunderte, aber deren ideologische Grundlage ablehnte. Nietzsche hatte Wagner bereits 1868 im Hause des Orientalisten Hermann Brockhaus in Leipzig kennengelernt und ihn schon im Jahr darauf in Tribschen bei Luzern besucht und dort auch Cosima von Bülow getroffen. Seitdem bestand eine Verbindung gegenseitiger Achtung. In Wagner erblickte er den Schöpfer des Kunstwerks der Zukunft[17], das er bereits in der Antike vorgebildet sah. Mit seiner frühen Schrift über Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) schien er zum Apologeten der Fortschrittspartei Wagners zu avancieren, so dass er bei der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhause im Mai 1872 nicht fehlen durfte. Nietzsche wurde daher für Wagner wichtig zur philosophischen Legitimation seiner Kunsttheorie.
Angesichts der Nähe zu Wagner liegt die Vermutung nahe, dass Spuren von Wagners kompositorischem Stil auch in Nietzsches Musik erkennbar werden könnten. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Noch 1876 hatte er sich in seiner vierten Unzeitgemäßen Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth, die sich wie eine Propagandaschrift[18] liest, am Kulturbegriff Wagners abgearbeitet. Doch bereits 1872 war er ausgerechnet von Brahms pathetischem Triumphlied op. 55 aus Anlass der Siegesfeier nach dem deutsch-französischen Krieg tief beeindruckt – einem Werk, das gar nichts mit der Idee der Kunstreligion gemein hat. Der hymnische (oder in seinen Worten dithyrambische) Gestus in Brahms Komposition hatte ihn offenbar besonders angesprochen und ihn zu seinem Hymnus auf die Freundschaft (1874) anregte. Die Klavierfassung hatte er dann zu seinem Besuch bei Wagner im Sommer 1874 mitgenommen, sich bereits eine Abwendung von Wagner anbahnte. In Jenseits von Gut und Böse (1886) hatte er sich dann dezidiert von der dumpfen Schwüle und Schwere deutscher Musik abgewandt und von „einer Erlösung der Musik vom Norden“ (JGB, § 255) geträumt:
„Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein Solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit mit zurück verdirbt.“ (JGB, KGWB, § 255)
Endgültig scheint der Bruch mit Wagners Musik in seiner Schrift Der Fall Wagner (1888) vollzogen zu sein, in der er Bizet auf Kosten Wagners verherrlicht. Das Vorwort beginnt er mit einem provozierenden Bekenntnis:
„Ich mache mir eine kleine Erleichterung. Es ist nicht nur die reine Bosheit, wenn ich in dieser Schrift Bizet auf Kosten Wagner’s lobe. Ich bringe unter vielen Spässen eine Sache vor, mit der nicht zu spassen ist. Wagnern den Rücken zu kehren war für mich ein Schicksal; irgend Etwas nachher wieder gern zu haben ein Sieg. Niemand war vielleicht gefährlicher mit der Wagnerei verwachsen, Niemand hat sich härter gegen sie gewehrt, Niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu sein. Eine lange Geschichte!“ (WA, eKGWB, Vorwort )
Die Musik Wagners erscheint ihm nun als Ausdruck von „décadence“: „Wagner‘s Kunst ist krank […]. Wagner ist ein grosser Verderb für die Musik“ (WA 5) – „…in der Sprache des Meisters geredet: Unendlichkeit, aber ohne Melodie“ (WA 6). In seinen Schriften hatte sich Nietzsche immer wieder kritisch zum Kulturzustand Deutschlands geäußert und sich selbst in kulturtherapeutischer Mission gesehen. Radikal formuliert er seine Abkehr in Nietzsche contra Wagner (1889), in der er seine Verachtung der „überdeutschen Musik“ (JGB, §255) mit ihrem rauschhaften Gestus zum Ausdruck bringt. Vernichtend sollte das Urteil wirken, dass er den leichtfüßigen Melodienfluss Rossinis der unendlichen Melodie Wagners vorziehe.
„Richard Wagner wollte eine andere Art Bewegung, — er warf die physiologische Voraussetzung der bisherigen Musik um. Schwimmen, Schweben – nicht mehr Gehen, Tanzen …“ (NW, eKGWB )
Andererseits konnte er aber von Wagner auch nicht lassen. Als er 1887 in Monte Carlo zum ersten Mal das Vorspiel zu Parsifal hört, schrieb er überwältigt an seinen Freund Heinrich Köselitz nach Venedig:
„Zuletzt — neulich hörte ich zum ersten Male die Einleitung zum Parsifal (nämlich in Monte-Carlo!) Wenn ich Sie wiedersehe, will ich Ihnen genau sagen, was ich da verstand. Abgesehn übrigens von allen unzugehörigen Fragen (wozu solche Musik dienen kann oder etwa dienen soll?) sondern rein ästhetisch gefragt: hat Wagner je Etwas besser gemacht? Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in Bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt, mitgetheilt werden soll, die kürzeste und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis aufs Epigrammatische gebracht; eine Deutlichkeit der Musik als descriptiver Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt; und, zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefühl, Erlebniß, Ereigniß der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die höchste Ehre macht, eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, auch „höheren Menschen“, als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von „Höhe“ im erschreckenden Sinne des Worts, von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet — und von Mitleiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird. Dergleichen giebt es bei Dante, sonst nicht. Ob je ein Maler einen so schwermüthigen Blick der Liebe gemalt hat als W<agner> mit den letzten Accenten seines Vorspiels?“ (eKGWB, BVN 1887, S. 793)
Kompositorisch war Nietzsche zu sehr Dilettant, als dass er die musikalische und kompo– sitionstheoretische Bedeutung Wagners mit all seinen harmonischen Erfindungen voll erfassen konnte. Daher wird auch kein konsistentes Bild von Nietzsches Kunst- und Musikverständnisses erkennbar. Was ihn bei Wagner anzog, war dessen Musik; was ihn zugleich abstieß, war dessen weltanschauliche Ideologie, auf der die Idee des Musikdramas ruhte; dabei insbesondere die Erlösungsidee und die ideologische Überhöhung des Deutschtums.[19] Aber die südliche „Sonnenhelle“ und „Sonnenverklärung“ war seiner eigenen Musik – im Unterschied zu Bizet – fremd. So verwundert es nicht, dass die Bewunderung Wagners trotz aller Versuche, sich von ihm zu lösen, zeitlebens bestehen blieb. Dieter Borchmeyer berichtet von einer Äußerung Nietzsches in dessen Aufzeichnungen aus dem Frühjahr 1885 – also zwei Jahre nach Wagners Tod –, in der er lakonisch bekennt: „Ich habe ihn geliebt und Niemanden sonst. Er war ein Mensch nach meinem Herzen.“[20] Das Verhältnis Nietzsches zu Wagner kann man daher als den anhaltenden Versuch einer Auseinandersetzung mit Wagners Kulturbegriff und Kunstreligion verstehen, die jedoch für sein kompositorisches Werk, seine musikalischen Vorlieben und Vorstellungen ohne Folgen blieb.
Literaturverzeichnis
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Förster-Nietzsche, Elisabeth, Wachsmuth, Curt und Gast, Peter (Hgg.): Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe (Vol. 3). Berlin, Leipzig, 1905.
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Münkler, Herfried: Marx, Wagner, Nietzsche — Welt im Umbruch. Berlin, 2021.
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Nietzsche, Friedrich (1886). Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe (eKGWB) http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/JGB
Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner (1888), Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe (eKGWB). https://doi.org/http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/WA
Nietzsche, Friedrich: Nietzsche contra Wagner (1889). Digitale Kritische Gesamtausgabe (eKGWB). http://adriaan.biz/nietzsche/Nietzsche%20contra%20Wagner.pdf
Nietzsche, Friedrich: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Bayreuther Horizontbetrachtungen. Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur. Leipzig, 1896.
Nietzsche, Friedrich: Digitale Kritische Gesamtausgabe. Werke und Briefe (eKGWB) nach der Kritischen Werkausgabe von G. Colli und M. Montenari www.nietzschesource.org/#eKGWB
Schlechta, Karl: Friedrich Nietzsche. Werke, 3 Bde., Lizenzausgabe. Darmstadt, 1997.
Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft (1849). Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe Bd. 6, S. 9 — 157. Frankfurt, 1983.
Wagner, Richard: (1983). Oper und Drama (1850/51). Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe Bd. 7. Frankfurt, 1983.
Walther, Helmut: Nietzsche als Komponist. Vortrag beim Seminar der Gesellschaft für kritische Philosophie in Kottenheide vom 15.–17. Oktober 2000. online Dokument. http://www.f-nietzsche.de/n_komp.htm
Zacchini, Simone: Die Glocken von Sewastopol. Zur ersten musikalischen Komposition Nietzsches, Nietzsche-Studien 52(2023), S. 337–347. https://doi.org/10.1515/nietzstu-2022–0039
Fußnoten
[1] Herfried Münkler, Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch, Berlin 2021.
[2] Vgl. dazu Simone Zacchini: Die Glocken von Sewastopol, Nietzsche Studien 52(2023), S.342
[3] Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1920, S. 104.
[4] Aufsteigende Spielfigur der Frühklassik als dynamische Eröffnungsgeste eines Werks.
[5] Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, S. 104.
[6] Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Der musikalische Nachlass, Basel 1976.
[7] Nachlassschriften und Fragment, BA, 2. Vortrag vom 6.2.1872.
[8] Helmut Walther, Nietzsche als Komponist. Vortrag beim Seminar der Gesellschaft für kritische Philosophie in Kottenheide vom 15. – 17.10., 2000, S. 2.
[9] Zitiert nach Walther, Nietzsche als Komponist, S. 3.
[10] An Heinrich Köselitz [Peter Gast] schreibt Nietzsche am 22.2.1881: »Hinter diesem ganzen Buche [= Morgenröthe] klingt mir meine Musik zu Manfred – denken Sie sich!“ (eKGWB, BVN 1881, S. 83).
[11] Elisabeth Förster-Nietzsche, Curt Wachsmuth, Peter Gast (Hg.), Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe, Bd. 3, Berlin und Leipzig 1905, S. 349–352.
[12] Janz, Der musikalische Nachlass, S. 341.
[13] Ebd., S. 342. An Heinrich Köselitz [Peter Gast] schreibt Nietzsche am 22.2.1881: »Hinter diesem ganzen Buche [= Morgenröthe] klingt mir meine Musik zu Manfred – denken Sie sich!“ (eKGWB, BVN 1881, S. 83). Im 114. Abschnitt der Morgenröthe verweist er auf den emotionalen Zusammenhang von Leiden und Musik: „Wir sehen wieder hin auf Menschen und Natur […] aber es erquickt uns so, wieder die gedämpften Lichter des Lebens zu sehen und aus der furchtbaren nüchternen Helle herauszutreten, in welcher wir als Leidende die Dinge und durch die Dinge hindurch sahen […] wir sehen wie umgewandelt zu, milde und immer noch müde. In diesem Zustand kann man nicht Musik hören ohne zu weinen.“
[14] Zitiert in Janz, Der musikalische Nachlass, S. 336 f.
[15] Münkler verweist auf „Nietzsches unausgesetzte Beschäftigung mit Wagner, seine Angriffe gegen ihn bei fortdauernder Bewunderung für ihn“ (Münkler, 2021, S. 215).
[16] Das zwiespältige Verhältnis ist auf der Grundlage der Edition des Nietzsche Nachlasses in der Kritischen Gesamtausgabe durch Giorgio Colli und Mazzino Montenari (S. 1976 ff.) von Dieter Borchmeyer (Nietzsche und Wagner, 2 Bde., Frankfurt 1994) ausführlich dargestellt worden.
[17] Vgl. dazu Wagners Essay Das Kunstwerk der Zukunft (1849).
[18] Andreas Urs Sommer in einer Vorlesung zu den frühen Schriften Nietzsches im SS 2024 an der Universität Freiburg (ILIAS Uni Freiburg).
[19] Der Fundamentalkritik Nietzsches am Erlösungsgedanken widmet H. Münkler in seiner Studie zu Marx, Wagner und Nietzsche ein eigenes Kapitel (Münkler, 2021, S. 284–289), in dem er von der Kritik Nietzsches am Christentum ausgeht.
[20] Dieter Borchmeyer und Jörg Salaquarda (Hgg.), Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, Frankfurt 1994, S. 875.