Dem Schneesturm trotzen …
Das Wetter als Phänomen und Erfahrung im Eingangsunterricht
Wer gerne spazieren geht, wird wissen, dass wir – selbst, wenn die Strecke beim zweiten und dritten Gang unverändert bleibt – niemals denselben Spaziergang erleben. Je nachdem, ob eine sanfte Brise weht, ob Nebel aufzieht oder Sonne durch die Wolken bricht, vermittelt die Landschaft eine andere Stimmung. Das Wetter also verleiht einem Ort durch Licht und Farbwirkung, durch Wind, Niederschläge und Temperatur eine eigene Atmosphäre. Es gestaltet unsere Welt und die Art, wie wir sie erleben mit. Dieser phänomenologisch interessante Aspekt der vom Wetter ausgelösten Beziehung zwischen Mensch und Welt wurde in einer Unterrichtsreihe im Fach Kunst in der Grundschule (jahrgangsübergreifende Eingangsklasse 1 und 2) aufgegriffen. Die bildnerische Arbeit eines Schülers aus diesem Unterricht zeigt auf beeindruckende Weise, wie das Wetter als Phänomen sichtbar wird, das nicht nur die Welt um uns herum verändert, sondern auch auf den eigenen Körper einwirkt. Das Bild entstand im dritten Block des Unterrichtsvorhabens, in dem es vorrangig um das sinnliche Erleben des Wetters ging. Leitlinien der didaktischen Überlegungen zu dieser Einheit werden im Folgenden ausgehend von der Betrachtung des entstandenen Bildes aspektorientiert umrissen.
Eine besondere Landschaftscollage
In seine hier abgebildete Landschaftscollage (Abb. 1) integriert der sechsjährige Emil1 das sinnliche Erleben des Winter-Wetters auf mehreren Gestaltungsebenen. Zunächst fällt die von Schnee umwehte Gestalt des Jungen im Vordergrund des Bildes auf. Emil hat eine ausgeschnittene Fotografie seiner Gestalt auf die rechte untere Bildseite geklebt, was den Eindruck erzeugt, als ob er just von links nach rechts über die schneebedeckte Wiese gestapft sei. Stirnrunzelnd ist sein Blick rechts aus dem Bild hinaus in die Ferne gerichtet. Mit einer Hand schirmt er die Augen ab. Die andere Hand liegt lässig in der Hosentasche. Emils Schultern sind selbstbewusst nach hinten gestreckt. Seine Kleidung ist dem Wetter angepasst: Er trägt eine warme Daunenjacke und feste Winterstiefel. Mit kobaltblauer Pastellkreide hat der Schüler die Bildfläche eingerieben, die den Himmel darstellt, dessen Farbkraft am Horizont und den Berghängen verblasst. Der Horizont selbst wird nicht als Linie am oberen Bildrand wiedergegeben, wie es für Kinder in diesem Alter typisch wäre, sondern durch die zu den Berghängen hin verblassende Farbe.


Der Schnee, dargestellt mit weißer Acrylfarbe, scheint die Gestalt von Emil zu umwehen (Abb.
2). So verschwinden seine Winterschuhe beinahe hinter dem opaken Weiß und selbst sein Gesicht bleibt vom Unwetter nicht verschont. Diesen Eindruck hat der Schüler auf zweierlei Weise erzeugt: Zum einen mit der Spritztechnik unter Zuhilfenahme von Sprühflasche und Zahnbürste und zum anderen, in dem er Farbe tupfend mit einem Schwämmchen aufgetragen hat. Dabei ist Emil nicht beliebig vorgegangen, denn er setzt die Strategie der Überlappung gezielt ein: Er wagt es, die eigene fotografische Abbildung zu beklecksen und zu übermalen, schafft es aber zugleich, dass sie noch gut genug sichtbar ist, um die ansonsten menschenleere Landschaftsszene des Bildes zu beleben. Dieses Vorgehen ist keineswegs selbstverständlich.So erfordern das Übermalen und Beklecksen der eigenen Gestalt im fotografischen Abbild Mut, insbesondere, wenn die entwicklungsspezifischen Besonderheiten bedacht werden, die für Jungen diesen Alters typisch sind. So neigen Grundschulkinder in der Schuleingangsphase noch zu Formen des magischen Denkens und Gegenstände, sowie auch Fotografien erscheinen ihnen im Sinne des Animismus‘ beseelt und lebendig. „Im Arbeits- prozess schaut das Kind nicht von außen auf sein Bild, sondern es ist in seinem Bild“
(Regelski/ Suwarz 2015, 14). Im hier betrachteten Beispiel ist dieser Umstand sogar wörtlich zu nehmen. So verwundert die Aussage von Emils Mitschüler Jaron nicht, der seine fotografische Abbildung großzügig umrandete und dieses Vorgehen mit den Worten „ich kann ja nicht die Farbe auf mich machen, sonst werde ich doch nass“ begründet.

Dass Emil sich wie die meisten seiner Mitschüler*innen selbst als bildhaftes alter ego im übertra- genen Sinn dennoch dem Wetter aussetzen, indem sie Fotografien ihrer selbst in die Landschaft und das jeweils herrschende Wetter einbetten (Abb. 3 u. 4), geht auf die Tatsache zurück, dass in den Unterrichtsstunden zuvor auf die eigenkörperliche und leibsinnliche Eingebundenheit hingearbeitet wurde.
So wurde nicht einfach ein Gestaltungsauftrag mit Zielen und Kriterien kommuniziert, sondern vielmehr eine Begegnung mit Wetterphänomenen angebahnt, die nicht das Bild als vorausgedachtes Ergebnis in den Mittelpunkt stellte. Vielmehr ging es nach der imaginativen

Vorstellung und dem körperlichen Sich-Hineinversetzen in die Witterungssituation zunächst um den Gestaltungsprozess an sich, um die Tätigkeit des aktiven Hervorbringens von bildhaften Wetterereignissen selbst. Indem jedes Kind ein Wetter auswählt, das über die Landschaft zieht und dort bestimmte Farben und Spuren hinterlässt, erhält es Gelegenheit, Selbstwirksamkeit und Ermächtigung zu erfahren.
Alltägliche sinnliche Erfahrungen mit Witterungsereignissen werden in diesem Prozess mit Darstellungsstrategien verbunden. Ziel dabei ist die Verflechtung von Kunst und Sinnlichkeit (vgl. Bernhard, P. 2008, 19). Ob dies tatsächlich erreicht wurde, ist kaum messbar oder sichtbar. Indizien dafür lassen sich jedoch anhand einer Kombination aus genauer Bildbetrachtung und Prozessbeobachtung auf der Grundlage ästhetischen Erlebens ausmachen, die Emils Perspektive einbezieht. Hier einige Beobachtungen zum gestalte- rischen Prozess:
Vor dem Jungen liegt die Kopie einer kontrastreiche Schwarz-Weiß-Fotografie des schottischen Hochlands. Wetterphänomene, wie Sonne, Wolken, Regen oder Schnee sind nicht zu erahnen. Über dem Horizont ist lediglich eine helle Fläche zu erkennen. Doch nicht mehr lange. Schon greift Emil zu königsblauer Pastellkreide, reibt die Kreiden aneinander und lässt das Pulver auf die weiße Fläche rieseln, reibt es in den Bildgrund ein, verwischt dabei die Farbe zum Horizont hin und umfährt vorsichtig die Ränder der Hügelkette mit seinem Zeigefinger. Die Farbe riecht erdig. Der blaue Himmel wächst und wächst, wird dunkler. Anschließend lässt Emil sein fotografisches Abbild über die dargestellte Hochebene wandern, verweilt mit der Hand mal hier, mal dort. „Oh eine schöne Aussicht!“ ruft er kichernd und klebt die Fotografie des eigenen Abbildes schließlich vorsichtig in die Landschaft, wobei er Parameter der Bildperspektive berücksichtigt. Seine Gestalt schwebt nicht etwa in den Wolken oder steht weit hinten auf der Bergspitze, sondern an dem Ort, an dem sie perspektivisch glaubhaft in die Bildwelt eingebettet wirkt. Es sieht nun tatsächlich so aus, als würde Emil auf der Hochebene spazieren gehen. Nun das Wagnis: Emil lässt einen Schneesturm über die Landschaft hereinbrechen. Wolken ziehen mithilfe von Schwamm und weißer Acrylfarbe über der Bergkette auf und schon bald wird das Kind auf dem Bild von Schneeflocken umwirbelt, die mithilfe einer Sprühflasche und der Zahnbürste auf das Papier gespritzt werden. Ausgelassen und lustvoll wird die Landschaft besprüht und bekleckst: Der Gestaltungsprozess gleicht in seiner Dynamik und Lebendigkeit den wild tanzenden Schneeflocken eines Schneesturms. Die Schneeflocken sind in Form von Farbklecksen nicht nur auf dem Bild gelandet, sondern auch auf Händen und Gesicht des entschlossen agierenden Kindes, dessen Wangen im Eifer glühen.
Plädoyer für einen subjektiv bedeutsamen Kunstunterricht
Anhand einer solchen Prozessbeobachtung und des bildnerischen Ergebnisses werden Aspekte eines Kunstunterrichts deutlich, in dem gestalterische Tätigkeit an Erfahrungen und Empfindungen der Kinder anknüpft. So etwa die Anwendung verschiedener Materialien und Verfahren, die zuvor frei erprobt wurden und anschließend in einer planvollen Gestaltung zur Anwendung kommen. Dabei durfte das Kind selbst das zu gestaltende Wetterphänomen auswählen (zur Wahl standen Regen, Sonne, Schnee und Gewitter), sich dafür entsprechend kleiden und für ein Foto in Szene setzen. Ziel war es, durch die Erinnerung an eigene Erfahrungen mit der gewählten Witterung einen Moment eigenen Erlebens im Foto auszudrücken. Indem die Kinder sich auf diese Weise „ins Bild setzen“, wird eine Brücke zwischen der auszugestaltenden Landschaft und ihrem subjektiven Erleben geschlagen. „In der ästhetischen Erfahrung gehen Ich-Erfahrung und Welt-Erfahrung eine Einheit ein. Hans Robert Jauß charakterisiert diese spezifische Art der Erfahrung als ‚Erfahrung seiner selbst in der Erfahrung des anderen‘“ (Brandstätter 2013, 3) Diese Form des Ausdrucks fordert Schüler*innen heraus, ihre Vorstellungskraft zu nutzen und persönliches Erleben und individuelles Empfinden in die Landschaftsbilder einzubringen. Sie lernen, dass es beim Gestalten von Bildern immer auch um sie selbst geht, um ihre Art die Welt zu erleben (vgl. MSB NRW 2021, 55).
Die Verbindung von Fotografie und Malerei zeigt den Kindern darüber hinaus, wie sich verschiedene künstlerische Darstellungsverfahren miteinander kombinieren lassen, um eigene Vorstellungen und Erfahrungen bildnerisch auszudrücken. Kunstunterricht in diesem Sinn ist also weit mehr als die Vermittlung von gestalterischen Techniken, die Reproduktion vorgegebener Inhalte und das Erfüllen mehr oder weniger formaler Gestaltungsaufträge. Er ist ein Raum der Begegnung – mit sich selbst, mit den Anderen und mit der Welt. Im Mittelpunkt steht dabei das Kind als empfindendes, lernendes, forschendes und schöpferisches Subjekt, dessen ästhetische Erfahrungen nicht nur zu einem tiefen Verständnis von Kunst führen, sondern auch eine Grundlage für ein umfassendes Selbst- und Weltverhältnis schaffen (vgl. Schäfer 2019, 23f).
In diesem Sinne sollten die entstandenen Bilder auch zum Mittelpunkt eines Austausches werden, denn ein wichtiger Aspekt zeitgemäßen Kunstunterrichts ist die Reflexion eigenen Tuns (vgl. MSB NRW 2021, 57). Kinder lernen nicht nur, Bilder zu gestalten, sondern sich dabei eigener Sichtweisen und Empfindungen bewusster zu werden. Welche Gefühle löst ein Bild in mir aus? Warum habe ich mich für diese Form oder Farbe entschieden? Was wollte ich ausdrücken, und ist es mir gelungen? Durch solche Fragen wird das Bild zu einem Spiegel eigenen Erlebens und ästhetische Bildung zu einem Prozess der Selbstfindung und Weltverarbeitung. Insbesondere im Eingangsunterricht gilt es diesem Zusammenhang spielerisch nachzuspüren. Die Rolle der Lehrkraft ist es hierbei, Erfahrungsräume zu inszenieren, in denen Bildbetrachtungen didaktisch sinngebend an das Vorwissen und den Entwicklungsstand ihrer Schüler*innen angepasst sind. „Für die Primar- und Sekundarstufe dienen besondere Fachmethoden zur Vermittlung von Bilduntersuchungen, die partiell erheblich reduziert, handlungsorientiert und von der Zielgruppe der Kinder […] bestimmt sind“
(Schoppe 2011, 94f).
Für die entstandene Wettercollage bietet es sich zur Bildreflexion beispielsweise an, den Spaziergang durch die Landschaft aufzugreifen und ihn als durch das Bild wandernden Blick performativ zu inszenieren. Unterstützt werden kann diese Herangehensweise durch eine kleine Figur aus Karton, die an einem Holzstab befestigt wird. Angeregt durch die Frage „Was erlebst du auf dem Spaziergang durch deine Landschaft?“ können die Kinder mit der Stabpuppe in der Hand ihr Bild nicht nur beschreiben, sondern die dargestellte Situation nacherleben. Auch den Zuschauenden bietet die kleine Figur einen Identifikationsanlass, sodass sie imaginativ in das Bild ihres Mitschülers oder ihrer Mitschülerin hineinschlüpfen und dadurch beim aktiven Zuhören und Zuschauen unterstützt werden. Medial kann hier das Smartboard zum Einsatz kommen, mit dem viele Klassenzimmer inzwischen ausgestattet sind. Mithilfe eines Stativs wird zu diesem Zweck ein mit dem Smartboard verbundenes Tablet über dem Bild befestigt, sodass die Bewegung der Stabpuppe im Bild vergrößert projiziert und somit für alle sichtbar wird. Alternativ können ausgewählte Arbeiten der Schüler*innen auf Folie kopiert und mittels Overhead-Projektor gezeigt werden. Mit der Stabfigur entsteht dann ein anregendes Schattenspiel, das den Abschluss der beschriebenen Sequenz markiert.2
Über die Unterrichtsreihe Regenschauer, Wolkenmeer und Sonnenschein
Die hier umrissene Unterrichtsstunde war Teil einer integrativen Unterrichtsreihe, in der die Kinder aus Emils Klasse sich dem Wetter, einem eher alltäglichen Phänomen, von einer anderen Perspektive aus nähern konnten. Die Reihe enthielt ästhetische Begegnungen, gestalterische Experimente und Aktivitäten, die subjektorientiert und integrativ, im Sinne einer Verknüpfung unterschiedlicher thematischer und gestalterischer Zugangsweisen, ausgerichtet waren. Diese boten den Kindern Gelegenheit, ihren Blick für allgegenwärtige Wetter- phänomene zu schärfen und zugleich subjektiv bedeutsame Zugriffe auf das Thema zu erproben. Indem sie sich zunächst experimentierend und spielerisch mit den Phänomenen Sonne, Regen, Wind, Wolken und Schnee auseinandersetzten, lernten sie Gestaltungsweisen witterungsbezogener Bildinhalte, wie Licht, Farbe und Duktus, intuitiv kennen und erlebten das alltägliche Wettergeschehen zugleich mehrsinnlich (klanglich, visuell, sprühend, streichend, reibend, nachspurend). Die folgende Tabelle verdeutlicht die Einbettung der geschilderten gestalterischen Aktivität in den Gesamtkontext.
Sequenz 1 | Einführung in das Thema Wetter (90 min): Audiovisuelle Inputs zu unterschiedlichen Wetterphänomenen, Austausch und anschließende freie Erprobung darstellerischer Mittel an vier „Wetter-Stationen“. |
- Organisatorische Aspekte, wie die Stundentransparenz oder auch das gemeinsame Aufräumen werden hier aufgrund der inhaltlichen Fokussierung nicht eigens ausgeführt.
Sequenz 2 | Das Wetter in der Kunst (90 min): Erkundung eines Wettermuseums mit einem Museumsführer, angeleitet durch die Frage „In welches Wetterbild würdest du springen?“. |
Sequenz 3 | Wetterlandschaften (45 min): Wir setzen unser fotografisches Abbild in eine Landschaft und lassen mit unterschiedlichen gestalterischen Verfahren ein (Un-)Wetter aufziehen. |
Sequenz 4 | Schutz vor Unwetter (90 min): Wir machen einen Spaziergang und sammeln Baumaterial für eine eigene Miniatur-Bude, die uns vor einem Unwetter schützt. |
Sequenz 5 | Wetterklänge (45 min): Wir experimentieren mit Klängen und nutzen verschiedene Materialien (z.B. Reis, Wasser, Sand), um Klänge für verschiedene Wetterphänomene zu erzeugen und unsere Wettergeschichte zu akustisch untermalen. |
Sequenz 6 | Wetterreise (90 min): Kollaboratives Gestalten einer Wettercollage ausgehend von der Reise im Bilderbuch Der rote Regenschirm. |
Sequenz 7 | Ausstellung der Kunstwerke (45 min + 45 min): Planung und Durchführung der Ausstellung von Arbeiten der SuS in Form eines audio-visuellen Wetterspaziergangs. |
Darüber hinaus wurde eine subjektive Ergriffenheit der Schülerinnen und Schüler angestrebt, indem sie aufgefordert wurden, erst beobachtend, dann performativ und später gestaltend in Bilder von Wetterlandschaften hineinzuspringen.3 Dieses Erlebnis schlägt sich ebenfalls in Emils Bild nieder, der für seine Fotografie eine Körperhaltung einnimmt, die seiner Wanderung durch den Schneesturm entspricht. Die Gestaltung der Wetterlandschaft wurde also mit einer körperlichen Erfahrung verknüpft. Im Zuge der Sequenzen konnten individuell bedeutsame Fragen aufgegriffen werden: „Welches Wetter ist mir das Liebste?“ oder „Welche besonderen Erlebnisse verbinde ich mit den unterschiedlichen Wetterphänomenen und wie ging es mir dabei?“
- Einen spannenden EinsDeg hierzu bietet die Kreideszene aus dem Film Mary Poppins (1964) an, die über den folgenden Link einsehbar ist: https://www.youtube.com/watch?v=zy7XEMeBROQ [Stand: 09.2024]
Wie besondere Schönheiten der Natur auch durch das Wetter anschaulich werden, lernten die Kinder schließlich durch die Betrachtung von Kunstwerken und die Auseinandersetzung mit ihnen zu erkennen und wertzuschätzen. Die Installa- tionen des Künstlers Olafur Eliasson beispielsweise lenkten ihre Aufmerksamkeit auf reizvolle Erscheinungsformen des Wetters,
die maßgeblich durch Lichtspiele und Luftströmungen erzeugt werden und das sinnliche Erleben von Wetterphänomenen betonen (Abb. 5).

Einschübe von spontan-experimentellen Arbeitsaufträgen, wie: „Verfolge mit einem Bleistift auf einem Transparentpapier die über das Fenster wandernden Regentropfen“, oder auch Erkundungsgänge im naturnahen Umfeld der Schule, durchbrachen die gewohnten Grenzen des Klassenraumes und ermöglichten es den Kindern, körpernahe Erfahrungen zu sammeln und sich über diese auszutauschen. So erlebten sie die Unterrichtseinheit zum allgegenwärtigen Phänomen des Wetters als eine spielerische und zugleich sinnhafte Auseinandersetzung mit der Natur. Besonders bedeutsam wurde das gemeinsame Erleben, indem die Kinder körperliche Reaktionen und leibsinnliche Empfindungen anschließend in den Gestaltungsprozess hineinholten. Sie posierten für die Wettercollage, indem sie ihre Kleidung und Körperhaltung an das ausgewählte Wetter anpassten: Im imaginierten Sonnenschein schlossen sie entspannt die Augen, während sie im Schneesturm dick eingepackt ihre Hand schützend vor das Gesicht hielten. Diese performativen Elemente zeigen, dass es im Kunstunterricht nicht nur um handwerklich-technische Aspekte von Bildgestaltung geht, sondern dass Bewegung, Körperwahrnehmung und Inszenierungen über ein ganzheitliches Erleben die individuelle Involviertheit der Kinder in den Gestaltungsprozess ermöglicht (vgl. Kirchner 2013, 14).
Fazit
Die beschriebene Unterrichtsreihe zeigt, auf welche Weise das Wechselspiel von Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung im Zentrum des Kunstunterrichts stehen kann. Die Kinder sind hier nicht bloß Lernende, sondern Erlebende – sie reflektieren ihre Erfahrungen im Austausch miteinander, vergleichen ihre Arbeiten, staunen über die Vielfalt der Ausdrucksformen und verstehen allmählich, dass es in der Kunst nicht um ein „richtiges“ Ergebnis geht, sondern um die persönliche Auseinandersetzung mit Phänomenen der Welt im Modus des Darstellens und Gestaltens.
Lehrerinnen und Lehrer nehmen im Kunstunterricht folglich weniger eine belehrende, als eine begleitende Rolle ein. Sie geben Kindern Impulse und unterstützen sie bei individuellen Vorhaben. Die Lehrkraft tritt also nicht als allwissende Instanz auf, sondern als Mitlernende, die den Kindern Impulse gibt und sie gleichzeitig in ihren individuellen Vorhaben unterstützt. Der Fokus liegt dabei immer auf dem Kind und dessen spezifischer Wahrnehmung. Die Schüler*innen bringen ihre eigenen Geschichten, Erfahrungen und Träume mit in den Unterricht – diese zu respektieren und als Ausgangspunkt der Arbeit zu nutzen, ist für einen lebendigen und sinnhaften Unterricht essenziell.
Die ästhetische Bildung von Kindern beginnt mit dem Blick, der weit offen ist für alles, was die Welt zu bieten hat. Dabei wird der Sinn für Schönheit, Ausdruck und Symbolik nicht bloß ausgebildet, sondern immer neu erfunden. Kinder sind, so könnte man sagen, von Natur aus
„ästhetische Entdecker“. Sie nehmen Formen, Farben, Klänge und Strukturen auf eine Art wahr, die uns Erwachsenen oft verborgen bleibt. Im Kunstunterricht wird diese oft noch unvoreingenommene kindliche Perspektive aufgegriffen und für neue Dimensionen des Wahrnehmens, Verstehens und Gestaltens geöffnet (vgl. Horn 2022, 21). Kunstunterricht ist bestenfalls ein Ort, an dem Kinder sich selbst als schöpferische Wesen erfahren. Und darin liegt die vielleicht größte Stärke der ästhetischen Bildung: Sie ermächtigt Kinder, ihre eigene Welt zu gestalten – in der Kunst ebenso wie im Leben.
Ausgehend von dieser Argumentation liegt die Anbindung an das übergeordnete Thema Wetter nahe: Es ist Teil unseres Alltags und allgegenwärtig. Wir fühlen den Wind oder die Wärme der Sonne auf unserer Haut, wir hören das Prasseln der Regentropfen gegen unser Fenster bei Nacht, spüren durch den Schnee stapfend das Knistern und Zusammensacken der weißen Decke unter unseren Schuhen und riechen die kalte Schneeluft oder den heißen Dampf von Petrichor. Diese und andere Sinneseindrücke knüpfen direkt an die affektive Betroffenheit der Schülerinnen und Schüler und ihr individuelles Erleben an. Durch den Einsatz spielerisch-experimenteller Verfahren und die Anbindung an kindgemäße Bildrezeption bietet das Wetter somit ein breitgefächertes Spektrum an Unterrichtsimpulsen an, die für Kinder im Grundschulalter lebensweltlich bedeutsam sind.
Literatur
Bernhard, P. (2008): Aisthesis. In: Liebau, E.; Zirfas, J. [Hg] (2008). Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung. Ästhetik und Bildung, Bd. 2. Bielefeld: transcript
Brandstätter, Ursula (2013/2012): Ästhetische Erfahrung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung [12.07.2022]
Horn, A. (2022): Raus aus der Ergebnisfalle. Kindergarten heute. Facetten der Kunst. Jg. 52, H. 4. Freiburg: Verlag Herder
Kirchner, C. (2013): Grundlagen des Kunstunterrichts. In: Dies. (2013): Kunst – Didaktik für die Grundschule. Berlin: Cornelsen Scriptor
Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2021): Lehrpläne für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen. URL:
https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_PS/ps_lp_sammelband_2021_0 8_02.pdf [21.02.2024]
Regelski, K.; Schwarz, S. (2015): Feder, Draht und Pinsel. Ideen und Techniken für Kinderkunst. Bielefeld: Haupt Verlag
Schäfer, G. E. (2019): Bedeutung der Ästhetik für kindliche Bildungsprozesse. In: Neuß, Norbert/ Kaiser, Lena S. (Hgg.) (2019): Ästhetisches Lernen im Vor- und Grundschulalter. Stuttgart: Kohlhammer
Schoppe, A. (2011): Bildzugänge. Seelze: Kallmeyer/Klett/Friedrich-Verlag
Jasmin Meller studierte zunächst Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld, sattelte dann aber auf den Studiengang Grundschullehramt mit der Fächerkombination Kunst, Deutsch, Mathematik und Bildungswissenschaften um. Inzwischen absolviert sie ihren Vorbereitungsdienst an einer jahrgangsübergreifenden Grundschule.