Mein Blick schweift ab, verselbstständigt sich.
Über das Beobachten und Fotografieren von Lehre in einem künstlerisch-forschenden Prozess.
Annette Hermann und Jana Rzehak[PJ1] [PJ2] [PJ3] [PJ4]
In unserem Beitrag zeichnen wir unsere
künstlerisch-forschenden Praktiken rund um die Frage Lässt
sich Lehre zeigen? nach. Mit dieser Frage schließen wir an die Publikation
Exhibiting Lessons[1]
an, in welcher verschiedene Verständnisse und Praktiken des Lehrens sowie des
Zeigens und Sichtbarmachens von Lehre im Bereich der Künste, der Kunstpädagogik
und nahestehender Disziplinen versammelt sind.
Unser erster Anhaltspunkt ist die Überlegung,
im Format des Porträtierens sprachbasierte Interviews mit Hochschullehrenden
durch Fotografien anzureichern. Hierdurch wollen wir auch das Atmosphärische
dieser Lehrräume in den Blick nehmen und uns damit beschäftigen, wie sich diese
Räume aufspannen. Durch den Lockdown im Herbst 2021 werden wir auf uns selbst
zurückgeworfen. Was vorerst bleibt, ist probeweise die eigene Lehre daraufhin
zu untersuchen, inwiefern sich diese mit Mitteln der Fotografie zeigen (und
vielleicht sogar erfahren?) lässt.
Mit dem Begriff ‚Erfahren‘ beziehen wir uns auf
die Beobachterin von Lehre, die sich in das Handlungsgeschehen des Lehrraums
hineinbegibt und im Prozess des Beobachtens und Fotografierens Lehre ‚erfährt‘.
Lehre bezieht sich dabei zwar nicht intentional auf die Beobachterin selbst;
wir gehen aber davon aus, dass sich das Erfahrene in den entstehenden
Fotografien anreichert. Daran schließt die grundsätzliche Frage an, an wen sich
Lehre in einem spezifischen Kontext richtet und wie dies geschieht.[2]
Mittels Fotografie
taucht die Beobachterin ihrerseits in das Geschehen ein; sie ist zwar nicht
aktiv teilnehmend in die Lehrveranstaltung involviert, ihr ‚widerfährt‘ dennoch
Lehre. Sie findet einen Raum vor, in dem sie lernt abzuwägen, wie das
Gesamtgeschehen ihre eigene Handlung (zwar nicht intentional direkt)
beeinflusst und inwiefern sich ihre Handlung auf das Gesamtgeschehen auswirkt.
Es geht um ein sich selbst Kennen- und Einschätzenlernen
in diesem Wechselspiel. Begleitet durch die Reflexion dieses Prozesses in
Gesprächen auf Basis der eigenen Fotografien tritt die Beobachterin erneut in
den Lehrraum ein, in welchem sie ihre eigenen Handlungen im Sinne
fotografischer Aktivitäten und auch Empfindungen hinterfragen und somit ein
Bewusstsein für diese bekommen kann. Beobachtung von Lehre mittels Fotografie
ist dann als ein Prozess zu verstehen, welcher zu einem zunehmend bewussten
eigenen Handeln befähigt. Fotografie wird hier nicht als dokumentarisches
Medium, sondern als Medium der Gestaltung und als Gesprächs- und
Reflexionsanlass genutzt.
Im Verlauf von sechs Monaten und während zehn Fotosessions gewinnt unser Vorhaben zunehmend an Kontur und Eigenständigkeit. Ein Korpus aus über 1000 Bildern entsteht. Fortlaufend emergieren mal mehr, mal weniger deutlich formulierbare Fragen: Welche Unterstützung brauche ich als Beobachterin von Lehre innerhalb dieser Prozesse? Wie kann ich in der Rolle der fotografierenden Beobachterin meinen eigenen Handlungsraum innerhalb dieser Lehrräume aufspannen? Wie aktiv muss ich involviert sein, um im Handlungsgeschehen akzeptiert zu werden? Wie passiv muss ich bleiben, damit ich mich jederzeit wieder herauslösen kann, um die nötige Konzentration für die Suche nach dem eigenen Fokus aufrecht zu erhalten? Was trägt dazu bei, dass ich mich im Beobachten von Handlungs- und Leistungsdruck befreien kann und wie schlägt sich dies in den Fotografien nieder? Wie sehr greift meine Motivwahl in das Selbstverständnis und die Intimsphäre der Beteiligten im Lehr-Lerngeschehen ein und wie kann ich diesen ‚Eigensinn‘ der Teilnehmenden in meiner fotografischen Inszenierung wahren? Wie positioniere ich mich selbst, mit meinen ästhetischen Neigungen innerhalb des Handlungsgeschehens und welche Rolle nehme ich dabei ein?
Das Gespräch als Reflexionsraum
Während des gesamten Prozesses führen wir kontinuierlich Gespräche, die maßgeblich zu einem gedanklichen Klärungsprozess beitragen. Sie helfen, aus dem Geschehen herauszutreten und aus einer gewissen Distanz sowie diversen Blickrichtungen zu reflektieren, warum sich etwas wie verhält oder ereignet, woher eigene Reaktionen rühren. Die Gespräche befördern dabei zweierlei: einerseits die Klärung des Geschehens insgesamt und andererseits eine Reflexion über das Entstehen und die Auswahl der Fotografien. Zeichnerische Skizzen unterstützen uns im Austausch über das sichtbare und unsichtbare räumliche Gefüge von Lehre. Im folgenden Abschnitt geben wir einen Einblick in die Irritationen und Herausforderungen, die in diesem Prozess aufgetreten sind und in unseren Gesprächen behandelt wurden.
Was geht einher mit der Rolle als Beobachterin von Lehre?
Am Anfang sieht sich die Beobachterin von Lehre mit der
Tatsache konfrontiert, zunächst keine klare Rolle einnehmen zu können und nicht
zu wissen, woraus die eigenen Handlungen hervorgehen bzw. worauf sie sich
beziehen. Im Gegensatz zur Dozentin und den Student:innen im Rahmen des Seminars bestehen
gegenüber der Beobachterin keine expliziten Erwartungen, welche in sozialen
Dynamiken im Allgemeinen an das Individuum herangetragen werden. Was getan
werden kann oder muss, bleibt vorerst offen; vielmehr ist die eigene Rolle
während des Prozesses im Gesamtkontext auszuloten. Dies birgt Möglichkeiten und
Schwierigkeiten zugleich, wenn sich erst im Handlungsraum selbst erweist, was
zu tun ist. Es wird deutlich, dass die in Lehrkontexten wahrgenommene Rolle
einer Beobachterin mit dem spezifischen Handlungsgeschehen eng verknüpft ist und sie sich mitgängig
zum eigenen Handeln befähigt oder befähigen muss.
Worauf trifft die
Beobachterin in Lehr-Räumen?
Lehre ist an situative soziale Dynamiken und Rollen geknüpft und tritt in Räumen als komplexes fluides Gebilde in Erscheinung. In einem Raum mit vier Wänden befinden sich Sprecherin und Zuhörer:innen; letztere sind mit ihrer Aufmerksamkeit der Sprecherin zugewandt, auf ein situatives aktives Zentrum hin gerichtet. Die soziale Dynamik des Sprechens und Zuhörens prägt sich als Gefüge in den Raum. Die Konzentration auf einen Punkt, auf ein erkennbares Zentrum hin, bildet einen ‚Positivraum‘, welcher die zugewandten Teilnehmer:innen einschließt. Gemeinsam spannen sie dabei den Raum auf und aktivieren ihn, während ringsherum ein ‚Negativraum‘, ein inaktiver Umraum verbleibt.
Auf gleicher Weise bilden sich in Vortragssituationen abgrenzbare Bereiche zwischen dem Handlungsraum der Vortragenden und dem Handlungsraum der Zuhörenden; hierbei verläuft eine Art unsichtbare Grenze durch den Raum. Bei Rückfragen und im Austausch bilden sich vorübergehend räumliche Netze der Kommunikation und durchkreuzen die Grenzlinien. Die Beobachterin nimmt dieses Geschehen als mögliche Ausprägung eines räumlichen Gefüges zunehmend bewusst wahr und schult ihren Blick auf die sozialen Dynamiken.
Welche Bedingungen bringt ein Raum mit sich und inwieweit können diese ausschlaggebend für Dynamiken von Lehre sein? Wie wird der Raum organisiert, wie strukturiert er sich, welche Charakteristika weist er auf?
Eine Grundvoraussetzung für Lehre ist Raum. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob der Raum als Ganzes sofort ersichtlich und überschaubar ist, oder ob er Nischen mit Ecken beinhaltet. Räume mit Nischen gehen weniger stark in Konfrontation, die Beobachterin befindet sich dabei weniger exponiert auf der Bühne. Seminarräume besitzen eine mehr oder weniger fest installierte Grundausstattung (Beamer, Rednerpult, Tische, Stühle usw.); Menschen verbinden mit solchen Räumen ganz bestimmte Erfahrungen und Handlungen. Dies hat zur Folge, dass diesen Räumen Erwartungshaltungen anhaften und Menschen sich darin auf eine ganz bestimmte Weise verhalten. Insofern beeinflussen Lehrräume an sich das Geschehen von Grund auf.
Was geschieht, wenn der Seminarraum verlassen und ein anderer Ort aufgesucht wird? Wie wirkt sich der Ortswechsel auf das Selbstverständnis der Beteiligten aus?
Durch den Ortswechsel des Lehr-Lern-Geschehens, weg vom klassischen Seminarraum hin zu einem Ort[3] außerhalb der Hochschule, eröffnet sich die Möglichkeit, eingefahrene Hierarchien von Lehr-Lernkonstellationen zu hinterfragen und aufzubrechen. Verstärkt durch die gemeinsame praktische Arbeit, Stoffbahnen anzubringen, sowie Beamer und andere Lichtquellen zu installieren, entsteht ein Gefüge, in dem sich die Beteiligten auf Augenhöhe begegnen und soziale Konstellationen und Dynamiken neu definiert werden können. Mit dem Verständnis sozialer Rollen als hinterfragbare und neu strukturierbarer Konstrukte kann die fotografierende Beobachterin die Grenzen des eigenen Handlungsraums neu auszuloten. Sie begreift ihren Handlungsraum fortan als einen geschmeidigen und nachgiebigen Raum, an den keine expliziten Handlungsnormen geknüpft sind. Befreit von Handlungs- und Leistungsdruck tritt sie in einen Möglichkeitsraum ein, der sich in einem ‚Können‘, (im Gegensatz zu ‚Müssen‘) zeigt. Der Raum der Lehre wird zum Rückzugsort und Refugium; die beobachtende Fotografin erhält darin die Befugnis, sich aus dem Geschehen herauszulösen.
Wie wirken sich Intention und Interpretation auf das fotografische Handeln aus?
Auch wenn Fotografie zunächst als grundlegende Technik verstanden werden kann, muss im nächsten Schritt nach ihrem intentionalen Charakter gefragt werden. Welche kritischen Aspekte unterliegen ihr, sobald sie als Forschungsinstrument verstanden wird? Wird eine Person porträtiert, tritt diese Person in eine bewusste Interaktion mit der Fotograf:in, das Porträtieren kann jederzeit wiederholt und das Ergebnis in Rücksprache korrigiert werden. Diese Korrekturmöglichkeit entfällt, wenn der Fotoapparat als Forschungsinstrument zur Beobachtung von Lehre als ein einmaliges, flüchtiges, vorübergehendes Geschehen eingesetzt wird. Der fotografische Blick unterliegt dann der situativen Deutung und Interpretation der Beobachterin und stimmt nicht unbedingt mit dem Selbstverständnis der Beteiligten überein, während ein Abgleich situativ kaum möglich ist. Hier wird deutlich, dass die Frage nach der Motivwahl ein hohes Maß an Sensibilität auf Seiten der Fotograf:in erfordert. Mit dem Verzicht auf das Motiv ‚Kind‘ vermeidet die Fotografin beispielsweise die Fixierung auf das ‚Kindsein‘. Hierdurch kann nun vielmehr die Individualität des Kindes und die Ernsthaftigkeit, mit der es sein Tun im Rahmen des Lehr-Lern-Geschehens verfolgt, in den Fokus rücken.
Was geschieht, wenn sich das Selbstverständnis der Beobachterin verändert?
Die Frage danach, wie aktiv die Beobachterin in das Geschehen involviert sein muss, um beobachten zu ‚dürfen‘, steht stellvertretend für das Wechselspiel und Selbstverständnis dieser Rolle im Gesamtkontext. Indem sie sich kontinuierlich vom Selbstverständnis einer reinen Beobachterin löst und das einer Fotografin einnimmt, weitet sich der eigene Blick im künstlerisch-forschenden Prozess. Dieser lässt sich dabei eng mit den sozialen und ästhetischen Praktiken im Moment künstlerischer Lehre verknüpfen. Der (Rollen-)Wechsel im eigenen Selbstverständnis ist dabei nicht als Zeichen einer Inkonsequenz des Handelns zu verstehen, sondern spiegelt die Lehrpraxis künstlerischer Fachbereiche, die im Sozialen und Ästhetischen ihre Bezugsquelle haben.
Fotografie als Reflexionsgegenstand in einem Forschungsprozess
Die entstehenden Bilder
werden zunehmend zu einem Spiegel des subjektiven Blicks der Fotografin: im
Prozess wendet sich ihr Blick nach und nach von den Beteiligten des
Lehrgeschehens als einem zentralen Motiv von Lehre ab, wodurch sie sich in
gewisser Weise auch vom eigenen Involviertsein lösen
kann. Susan Sontag bemerkt in einem ihrer Essays über ästhetische Aspekte der
Fotografie: „Wer sich einmischt, kann nicht berichten; und wer berichtet, kann
nicht eingreifen.“[4]
Ergebnisoffen bewegt sich die Fotografin durch den Raum; nach und nach
verdichtet sich ihr Motiv in visuell ästhetischen Ausschnitten des
Handlungsraums Lehre. Die Fotografin ist als Künstlerin forschend involviert,
insofern sie sich der Praktiken des Sammelns, Fokussierens, Auswählens bedient
und diese iterativ reflektiert. Die fotografische Begleitung von Lehre verläuft
hier in einer künstlerisch forschenden Bewegung aus dem Interesse heraus,
ästhetische Momente einzufangen und diese in visuell wahrnehmbarer Form zu
vermitteln.
Aus der Sicht der Beobachterin. Ein (Selbst-)Erfahrungsbericht.
Die folgenden Selbstberichte und Fotografien entstammen der Feder der Beobachterin von Lehre. Im Voranschreiten des Prozesses fokussiert die Beobachterin neben dem dokumentarischen Charakter auf den ästhetisch-künstlerischen Eigensinn der Fotografie. Hinsichtlich der Frage nach dem möglichen Umgang mit den entstehenden Fotografien stellt das Magazin Der Greif[5] einen wichtigen Referenzpunkt für die Auswahl, Reihung und Narration des fotografischen Konvoluts dar.
Ein wenig abgeschreckt und
noch eingeschüchtert vom letzten Mal komme ich wieder. Neue Sitzung, neues
Glück. Ich bin irritiert; die Tischordnung ist eine andere. Alle sitzen
zusammen, keine Lehratmosphäre? Keine Sperrzone? Eine Gruppe, ein Volumen im
Raum. Immer noch vorsichtig, aber dennoch deutlich entschlossener versuche ich,
diesen Kosmos, der sich vor mir gebildet hat, zu erforschen und aus allen
Perspektiven zu dokumentieren. Ich wünschte mir ein Teil davon zu sein, denn
hier bin ich ganz klar außen vor. Wenigstens aber habe ich dieses Mal nicht das
Gefühl zu stören. Alle sind vertieft, einander zugewandt, meine Anwesenheit
wird kaum zur Kenntnis genommen. (ABK-Pavillon, 11.11.21, 13:00 – 15:30)
Das erste Mal im Hölzelhaus. Raus aus dem Seminar, aber eigentlich genau im
Seminar. Der andere Ort verändert die Strukturen, die Dynamiken, auch meine.
Wir sind im Moment zu viert und es fühlt sich so an, als agierten wir im
Kollektiv. Ich bin in das Geschehen involviert, nicht nur als Beobachterin. Ich
fühle mich akzeptiert. Ich kann meinen Blick finden, ihm nachgehen. Hier
eröffnet sich mir ein Raum, in dem ich mich frei bewegen kann — ohne
Handlungsdruck. Langsam löse ich mich wieder aus dem Kollektiv. Ich trage
keinerlei Verantwortung, außer für mich selbst. Ich muss niemandem gerecht
werden. Meine Präsenz ist willkommen, aber auch einfach ein bisschen egal. Ich
wandle durch die Räume. Meine Angst, Momente zu verpassen, schwindet mit jedem
Schritt; hier gibt es noch so viel mehr. Mein Blick schweift ab,
verselbstständigt sich. (Hölzelvilla, 12.11.21, 11:00 –
16:00)
Ich weiß,
dass ich nicht an jedem Ort gleichzeitig sein kann. Das ist in Ordnung, aber
manchmal schwer zu ertragen. Heute sind es viel mehr Menschen, die hier
geschäftig umherschwirren. Ein buntes Treiben kleiner Grüppchen. Sich auf eine
Sache zu konzentrieren ist schwieriger als gestern. Ich bin außen vor, aber
irgendwann wieder ganz bei mir. (Hölzelvilla, 13.11.21, 11:30 – 16:00)
Wieder ruhiger. Beim letzten
Mal war es irgendwann so finster, dass ich keine Fotos mehr machen konnte. Jetzt
werde ich wieder mit Licht empfangen. Ich bin erleichtert und kann an meine
Streife durch die Baustelle anknüpfen, ich erkunde dieses Mal auch die oberen
Stockwerke. Heute ist nur eine Studentin da. Ich habe Zeit. Später werde ich
wieder hinuntergehen. Aber jetzt bin ich erstmal hier. (Hölzelvilla,
03.12.21, 11:00 – 13:30)
So viele Kinder. Laut,
schnell und überall gleichzeitig. Die Strecken, die hier und heute
zurückgelegt werden, sind beachtlich. Zu meinem Leid haben sich kleine
Gruppierungen gebildet, über den gesamten Campus verteilt — und schon wieder
habe ich den Überblick verloren. Ich bin mir nicht recht sicher, wie ich das hier
bewerkstelligen soll. Ich habe es als Kind gehasst, wie eines behandelt zu
werden. Ich habe es genau gespürt, wenn ich nicht für voll genommen wurde. Ich
möchte ihnen mit Respekt begegnen und merke, dass es sich falsch anfühlt, meine
Kameralinse direkt auf sie zu richten. Es ist, als würde ich ihr Kindsein zum
Motiv machen, anstatt das festzuhalten, was sie in diesem Moment eigentlich
beschäftigt und welche Ernsthaftigkeit sie in ihrem Tun an den Tag legen. (ABK Glaskasten, NB1 & Campusgelände, 10.12.21, 14:00 –
16:00)
Heute ein Raum mit
vier Wänden, klare Grenzen, alles überschaubar. Das Toben vom letzten Mal ist
einem konzentrierten Arbeiten gewichen, es ist ruhig. So ruhig, dass ich mir
meiner selbst wieder (unangenehm) bewusst werde und es
kaum wage, meine Kamera zu zücken. Ich möchte auf keinen Fall stören, möchte
nicht, dass die Schüler:innen
sich unwohl fühlen. Ich weiß nicht, was tun. Ein
Blick zurück, ein Blick zu mir. Ich muss mich förmlich dazu zwingen, an
die Tische heranzutreten, um meine Motive zu finden. Immer wieder frage ich
nach, ob ich die Arbeiten fotografieren darf, ob meine Anwesenheit in Ordnung
ist. Ich bin darauf bedacht, keine Grenzen zu überschreiten, obwohl ich mich
ständig auf eben diesen bewege. Das Licht- und Schattenspiel in diesem
Raum berührt mich, auch wenn ich noch zu beschäftigt bin mit den Grenzen der
Intimitäten, als dass ich mich hierauf komplett einlassen und konzentrieren
könnte. Wieder draußen: Zwei Schüler:innen
fragen mich, ob sie einen Stuhl aus dem Seminarraum mit hinaus nehmen dürfen.
Ich scheine eine Rolle einzunehmen, mit der ich nicht gerechnet hatte. (ABK
Aktsaal, 17.12.21, 14:00 – 16:00)
Dieses Mal werden
die Arbeiten der Kinder wieder großformatiger; es fällt mir leicht, mit meiner
Kamera umherzuwandern. Ich falle kaum auf zwischen den hin und her streifenden
Kindern. Sie sind so beschäftigt, Pinsel und Farben zu tauschen, dass sie mich
fast nicht wahrnehmen... oder zumindest tun sie mir diesen Gefallen. Das
lässt mir Zeit, gibt mir Raum, lässt mich atmen. Die Sonne bricht durch die
Wolken und flutet den Saal, leuchtet auf die Arbeiten, auf die Szenerie, auf
meine Kamera. Licht und Schatten modellieren meine Bilder, bringen die
Kontraste noch besser hervor. So wohl fühle ich mich nie wieder während des
Fotografierens in einem Setting zusammen mit den Schüler:innen, so zufrieden. Ich merke, die Bilder
werden gut. Ich merke, dass ich die Arbeiten der Schüler:innen wertschätze. Ich weiß gar nicht, wo
anfangen, am liebsten würde ich mitmachen, ich versuche durch meine Kamera
mitzumachen. Versuche die Kompositionen und die Materialien einzufangen. (ABK Aktsaal, 14.01.22, 14:00 – 16:00)
Ich habe große
Erwartungen an das heutige Setting. Wieder findet es in diesem wunderbaren Raum
statt. Ich freue mich auf die neuen Motive in dieser Szenerie und Atmosphäre. Alles kommt anders. Viele Kinder, mehr als davor??! Das kann
nicht sein, ich bin mir sicher und doch herrscht so ein Chaos, dass ich gar
nicht weiß, wo anfangen. Ich bin frustriert. Die Schüler:innen neben den Lehrer:innen
auf dem Boden, rechts, links, geradeaus und wieder zurück. Ständig streifen
Leute meinen Sucher. Dabei will ich doch keine Menschen auf meinen Fotos! Aber
das scheint dieses Mal schier unmöglich. Ich merke, wie festgefahren ich bin,
ich nerve mich selbst. Ich suche einen ruhigen Ort, finde den Vorraum, hier ist
es angenehm, aber dunkel. Also gehe ich wieder zurück. Bald ist es geschafft,
die fertigen Arbeiten werden aufgehangen, ich sehne es herbei! Aber die
Fotos sind trotzdem ok, sie erzählen wenig von meinen Schwierigkeiten. Nur ICH
kann sie befragen, weiß genau, dass sie das Geschehen nicht abbilden; ich frage
mich, was ich hätte anders machen müssen. (ABK Aktsaal, 28.01.22, 14:00 – 16:00)
Neuer Ort, alter
Ort. Zurück im Seminarraum. Dieses Mal allerdings zusammen mit den Schüler:innen. Nach dem letzten
Mal bin ich heute auf alles gefasst; meine Euphorie von vor zwei Wochen hat
sich gelegt. Aus irgendeinem Grund habe ich eine innere Abneigung gegen diesen
Raum, ich weiß nicht genau warum. Jetzt ist er abgedunkelt, keine Chance, auch
nur ein einziges gutes Foto zu machen, dessen bin ich mir ziemlich
sicher. Als die Kinder dann kommen und zwischen der Beamer-Projektion
hin- und hertreiben, sich damit vermischen, eins werden, beginnt sich meine
Haltung zu verändern. Hier sind sie Motiv und werden zu einem Teil ihrer und
auch meiner Arbeit. Die Schüler:innen
scheinen mich in ihre Gruppe aufgenommen zu haben, vielleicht nicht als ein
aktives Mitglied, aber zumindest doch so, dass es mir die Sicherheit
vermittelt, hier sein zu dürfen. Durch dieses Gefühl, akzeptiert zu
sein, erweitert sich gleichzeitig auch mein Handlungsspielraum als
Fotografin. Ich merke, wie sich in diesem Moment der Entspannung mein
Blick öffnet und ich mich von eingefahrenen Strategien meines fotografischen
Handelns lösen bzw. diese neu verorten kann. Ich beginne zu begreifen, dass
Entscheidungen, wie das Ausklammern des Motivs „Kind in der Totalen“ eine
Reaktion auf meine eigenen Erfahrungen und somit auch autobiografisch bedingt
sind (vgl. „Ich habe es als Kind gehasst, wie eines behandelt zu werden“).
Diese Erkenntnis und Reflektion ermächtigt mich dazu,
meinen Blick zu hinterfragen und weiterführend neue Möglichkeiten und Sichtweisen
zuzulassen. (ABK Pavillon,
04.02.22, 14:00 – 16:00)
Zwischenfazit und Ausblick
Weder theoretische noch methodische Entscheidungen wurden von uns im Vorab festgelegt. Die Produktion sinnlich wahrnehmbarer Materialitäten wechselte mit Phasen der Reflexion. Es handelt sich insgesamt nicht um eine Analyse von Lehre als Gegebenheit oder um eine möglichst vollständige Sammlung der Dimensionen von Lehre. Mit Blick auf das bislang entstandene Forschungsmaterial zeigt sich dessen doppelte Bedeutung: das fotografische Bild mit seinem ästhetischen ‚Eigensinn‘ als künstlerische Arbeit und gleichsam als Reflexionsinstrument in einem künstlerischen Forschungsprozess.
Im
Rückblick auf den Prozess des Beobachtens und Fotografierens von Lehre wird
zweierlei erkennbar: zum einen löst sich die Fotografie sukzessive von ihrem
rein dokumentarischen Charakter und zum anderen rückt in einem hochgradig
individuellen Prozess das Streben der Fotografin nach einem Sich-Bewusstwerden
bzw. Sicht-Bewusstsein als wesentliches Motiv in den Vordergrund. Als
eigenständige ‚Bildgestaltungen‘ und als Material für Bewusstwerdungsprozesse
bergen die Fotografien das Potential für weiterführende kritisch-(selbst)reflexive
Schleifen. Welche bewussten oder unbewussten (Bild-)Vorstellungen haben zu
diesen Bildern und deren Auswahl geführt? Und bezogen auf Lehr-Lern-Prozesse: Welches
Bildungsverständnis zeigt sich im eigenen Blick auf Kunstvermittlung?
Die
Erfahrungsdichte des bisherigen künstlerisch-forschenden Prozesses wird zum
Ausgangspunkt zweier kunstdidaktischer Seminare an der Kunstakademie Stuttgart.
Im Sommersemester 2022 bedienen sich 15 Studierende im künstlerischen Lehramt
der Fotografie als Beobachtungsinstrument zur Vorbereitung auf das schulische
Orientierungspraktikum im Kunstunterricht, um sich der Vielfalt mitgängiger
Erfahrungen in Beobachtungsmomenten bewusst zu werden — zwischen ICH und BILD.
Weiterführend
lässt sich danach fragen, was in (fotografischen) Bildern gezeigt oder gerade
nicht gezeigt wird und von wem und wie dies geschieht (vgl. Mörsch[6];
Macht des Zu-Sehen-Gebens[7]).
Gemeinsam mit Stipendiat*innen der Akademie Schloss Solitude setzen sich
Studierende im Wintersemester 2022/23 kollaborativ mit macht- und
repräsentationskritischen Perspektiven auf Kunstvermittlung auseinander. Die
Fotografie dient u.a. dazu, repräsentationskritische Perspektiven auf
Kunstvermittlung in einer gemeinsamen Ausstellung für andere sichtbar und
verhandelbar zu machen.
Bildunterschrift (Arial, 10, nach Absatz 6
Pt.) [PJ6]
Literatur
Bader, Nadia / Hermann, Annette (Hg.): Exhibiting Lessons. Lässt sich Lehre zeigen? Reihe Kunst, Bd. 16. Siegen 2021.
Sontag, Susan: Über Fotografie. München 2002.
Der Greif. Magazin. Ausgabe 13, 2020. Guest Editor: Penelope Umbrico.
Internetquellen
Mörsch, Carmen: Arbeiten in
Spannungsverhältnissen 9: Herausforderungen bei der und durch die Dokumentation
von Kunstvermittlung. In: Zeit für Kunstvermittlung. 2012, https://www.kultur-vermittlung.ch/zeit-fuer-vermittlung/v1/?m=9&m2=5&lang=d (Stand: 5.11.2022).
Sturm, Eva: In Zusammenarbeit mit gangart. Zur Frage der Repräsentation in
Partizipations-Projekten. 2001, https://www.kultur-vermittlung.ch/zeit-fuer-vermittlung/download/02 materialpool/MFV0901.pdf
(Stand: 5.11.2022).[PJ7]
[1] Annette Hermann & Nadia Bader (Hrsg.) (2021). EXHIBITING LESSONS. Lässt sich Lehre zeigen? Reihe Kunst, Bd. 16. Siegen: universi 2021.
[2] Im konkreten Fall richtete sich die Lehre an Studierende im künstlerischen Lehramt im Rahmen eines kunstdidaktisch-bildungswissenschaftlichen Seminars im WiSe 21/22 an der Kunstakademie Stuttgart. Das Seminar vermittelt Grundlagen für ein reflektiertes Theorieverständnis der historischen und aktuellen Begriffe und Ansätze zu Bildung und Erziehung in schulischen und außerschulischen Kontexten.
[3] Baustelle der Hölzelvilla. Der Gebäudekomplex in Stuttgart-Degerloch wurde zu der Zeit umfassend saniert und durch einen Anbau erweitert.
[4] Susan Sontag: Über Fotografie. München 2002, S. 19.
[5] Der Greif. Magazin. Ausgabe 13, 2020. Guest Editor: Penelope Umbrico
[6] Carmen Mörsch: Arbeiten in Spannungsverhältnissen 9: Herausforderungen bei der und durch die Dokumentation von Kunstvermittlung. In: Zeit für Kunstvermittlung. 2012, https://www.kultur-vermittlung.ch/zeit-fuer-vermittlung/v1/?m=9&m2=5&lang=d. (Stand: 5.11.2022).
[7] Eva Sturm: In Zusammenarbeit mit gangart. Zur Frage der Repräsentation in Partizipations-Projekten. 2001,
https://www.kultur-vermittlung.ch/zeit-fuer-vermittlung/download/02 materialpool/MFV0901.pdf (Stand: 5.11.2022).