Babenhauserheide, M./ Eschengerd, A. B. (Hrsg.): Ver(w)ortungen. Bildungsprozesse im Rumpelstilzchen-Literaturprojekt. Eine Festschrift für Michael Hellwig. Bielefeld: Aisthesis 2020
Rezension
„Ich wünsche, ich wäre ein Buchstabe./ Times New Roman und winzig klein./ Dann würde ich, wie es sich gehört in Büchern leben/ Drachen fangen, Mörder jagen, die große Liebe finden./ Ich wünschte, ich wäre ein Buchstabe. /Times New Roman und riesengroß.“ (Göhner, 145)
Der Rezension zum dem von Melanie Babenhauserheide und Anna Bella Eschengerd herausgegebenen Buch, stelle ich einen Text von einer Autorin und ehemaligen Teilnehmerin des Rumpelstilzchen-Literaturprojekts, Stefanie Göhner, voran. Denn einerseits bringt dieser Text die Bedeutsamkeit von Worten und die Wirkmächtigkeit des kreativen Schreibens zum Ausdruck. Andererseits verdeutlicht er, indem die Autorin die Buchstaben zu Textanfang als winzig klein und am Textende als riesengroß beschreibt, welch Entwicklungsmöglichkeiten und Potentiale die Schreiberfahrung im Literaturprojekt für die Teilnehmer*innen barg. Sie erhielten im schulischen Kontext die Chance, ihre eigenen Perspektiven zu finden und zu formulieren, Erfahrungen in Form von Gedichten, Kurzgeschichten zu veröffentlichen und einem Publikum zugänglich zu machen. Damit bringt der Text als Einstieg die Kernidee des Buches auf den Punkt, nämlich das zur Geltung zu bringen und sichtbar zu machen, was sonst herausfällt. (vgl. Babenhauserheide, 69)
Das vorliegende Buch versteht sich zunächst einmal als Festschrift für Michal Hellwig, dem Lehrer am Widukind Gymnasium in Enger, der seit 1981 das Rumpelstilzchen-Literaturprojekt federführend betreute. Größtenteils waren die Autor*innen des Bandes selbst Teilnehmer*innen des Literaturprojektes und bedanken sich mit ihren literarischen Texten, autobiografischen Reflexionen und wissenschaftlichen Betrachtungen bei Michael Hellwig. Zugleich betonen sie aber auch die individuelle, biografische, pädagogische und gesellschaftspolitische Notwendigkeit solcher Freiräume zur literarischen, ästhetischen und persönlichen Entwicklung im Kontext Schule. Damit geht diese Festschrift weit über die Idee einer Publikation aus festlichem Anlass hinaus. Sie hebt das Literaturprojekt aus dem Schulbetrieb heraus und macht es somit nicht nur als anregendes, sondern vor allen Dingen als zukunftsweisendes pädagogisches Praxisprojekt für eine breitere Öffentlichkeit aus Bildungspolitiker*innen, Wissenschaftler*innen, Pädagog*innen, Schüler*innen und Literaturinteressierten sichtbar.
Das Rumpelstilzchen-Literaturprojekt entstand im Oktober 1981 im Widukind-Gymnasium Enger zur Förderung literarisch schreibender Kinder und Jugendlicher. Neben Schreibwerkstätten und Individualberatung wurden Foren für die Präsentation ihrer Texte organisiert: z.B. das schuleigene Literaturblatt Rumpelstilzchen, Anthologien, Lyrik-Postkarten, Lesungen, Literaturgottesdienste, Kunstformen verbindende Projekte (in Kooperation mit bildenden Künstlern), (Wander-) Ausstellungen sowie Literaturpräsentationen im öffentlichen Raum. Seit Februar 2020 besteht das Rumpelstilzchen-Literaturprojekt unabhängig von institutionellen Strukturen als loser Verbund ehemaliger Schüler*innen, ist aber auch für andere Autor*innen offen. So sollen über einen Austausch hinaus gemeinsame Projekte weiterentwickelt bzw. neu konzipiert und realisiert werden. (www.literaturlandwestfalen.de)
Die Texte im Buch sind alphabetisch geordnet. Dabei sind die literarischen Texte der Teilnehmer*innen aus Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter den biografisch-reflektierenden und wissenschaftlichen Texten vorangestellt. Sie zeigen, mit welchen Themen sich die Autor*innen in ihren jeweiligen Lebensphasen beschäftigt haben. Sie verdeutlichen die Bandbreite und Diversität der Werke. Sie veranschaulichen, wie sich die Autor*innen unterschiedlicher Generation in ihren Texten mit der Welt und ihren eigenen Erfahrungen auseinandergesetzt haben.
In den Interviews und ihren biografischen Texten heben die Autor*innen, wie z.B. Rabea Usling, die Möglichkeit zur Selbstreflexion im Rahmen des Literaturprojekts hervor, die mit dem Schreiben, Überarbeiten, Publizieren einherging. Durch immer wieder neu-organisierte Anlässe (Autor*innentreffen, Lesungen, Ausstellungseröffnung, Publikationen) bekamen die Teilnehmer*innen neuen Input und konnten sich neuen Herausforderungen stellen, die, wie Anna Paszehr beschreibt, einen immer wieder aus der eigenen Komfortzone herauslockten (218) und natürlich auch, wie Stefanie Göhner berichtet, Überwindung kostete. Durch das Projekt erhielten die jungen Autor*innen wertschätzende und anerkennende Feedbacks, die weit über die Leitungsorientierung und das bloße Bewerten im Unterricht hinausreichten. Für den Teilnehmer Till Münzberg hat das Projekt ‚Ordnung gebracht‘ und einen alternativen Zugang zum Schulbetrieb aufgezeigt. Für ihn war das Projekt vor allen Dingen auch in der Pubertät ein Orientierungspunkt und eine Möglichkeit, sich durch das Schreiben zwischen Pubertät, Punkersein und „Hochkultur“ zu verorten. Sowieso taucht der spielerische Titel des Buches „Ver(w)ortungen“ in den Texten der Autor*innen immer wieder auf, indem sie die Bestimmung einer Position im Prozess des Schreibens hervorheben. In einigen biografischen Texten lässt sich klar nachzeichnen, wie sehr die Form dieser speziellen ästhetischen Bildung den beruflichen Werdegang der Teilnehmer*innen beeinflusst hat, wie z.B. bei Anna Bella Eschengerd, die von ihren Herausgeberschaften und Veröffentlichungsprojekten erzählt, die stark von ihren Erfahrungen in den Schreibwerkstätten geprägt wurden. Melanie Babenhauserheide beschreibt, dass dieser relativ unreglementierte Erfahrungsraum, der nicht die ganze Zeit auf Erfolg, messbare Leistung und gesellschaftliche Integration getrimmt war, immer noch ihre Forschung und Lehre im Bereich der Bildungstheorie bestimmt. Nur aufgrund dieser Erfahrung hat sie ein „Verständnis für die (gebrochenen) Versprechen des neuhumanistischen Bildungsideals und die Kritik an der gesellschaftlichen Organisation von Bildung und den dafür vorgesehenen Institutionen heute“ (Babenhauserheide, 69) entwickeln können. Für sie entzog sich das Literaturprojekt dem schulischen Leistungsprinzip, war ein Gegenmodell zur Schule im schulischen Rahmen, war angebunden an den Unterricht und zugleich losgelöst. Damit nimmt sie Bezug zu den Herausforderungen bzw. Reibungen, die im Rahmen des Projektes durch die Rollendifferenzierung und die Unverträglichkeit von Begleitung und Unterstützung beim Schreiben und der Notenlogik entstanden sind, von denen zum Beispiel auch Till Münzberg und Michael Hellwig berichten.
Neben den biografischen Texten setzen sich die wissenschaftlichen Texte von M. Babenhauserheide, A. E. Eschengerd, Konstantin Rink und R. Usling mit der Bildungstheorie, der bildenden Erfahrung von Lyrik, einem möglichen Zusammenhang von Schreiberfahrung und Schreibkompetenzentwicklung in der Hochschule und dem Transfer des kreativen Schreibens in unterschiedliche Handlungsfelder auseinander. Melanie Babenhauserheide geht in ihrer wissenschaftlichen Betrachtung auf die methodische und konzeptionelle Gestaltung des Literaturprojekts und dieser der Methodik innewohnenden Pädagogik des Überzeugens ein. Dabei zeigt sie die für die Anleitung des Literaturprojektes prägnante Dialektik aus Anerkennen und Ignorieren von Vorlieben, Grenzen und Erwartungen der Rumpelstilzchen-Mitglieder auf. (vgl. Babenhauserheide, 86) Anleitung als Anleitung zur Selbsttätigkeit, Begleitung als Begleitung von Selbsttätigkeit. Dabei stehen das Selbsttätig-Werden und „das Über-sich-Hinauswachsen“ im Zentrum der ästhetischen Praxis.
Anna Bella Eschengerd geht in ihrem wissenschaftlichen Text auf die Prozesshaftigkeit und Ergebnisoffenheit ihrer Schreiberfahrung ein, die sie im Literaturprojekt gemacht hat, und stellt dieser die allgemein vorherrschende Kompetenzorientierung im Kontext Hochschule gegenüber. Auf der einen Seite das Schreiben in einem gemeinsam gestalteten Möglichkeits- bzw. Ermöglichungsraum mit all seinen Entfaltungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite das Schreiben als Handlung unter den Bedingungen des wissenschaftlichen Schreibens im Studienverlauf. Letztlich plädiert sie für eine Schreibkompetenzentwicklung im Rahmen der Hochschule, die das Potential der vielfältig zusammengesetzten Gemeinschaft mit den individuellen Besonderheiten und Erfahrungen stärkt und weniger die produktorientierte, texthülsenproduzierende Copy-Paste-Logik, die die innere Sprache von Schreibenden zum Verstummen bringt. (vgl. Eschengerd, 137 f.) Denn gerade die ästhetischen Praktiken des Schreibens bieten die Gelegenheit, sich über Konventionen, soziale Erwartungen und Adressierungen bestimmter sonstiger Handlungsfelder hinwegzusetzen. In der ästhetischen Freiheit können die Zwänge, Regeln und Notwendigkeiten des ‚everyday life‘ für eine begrenzte Zeit weitestgehend außer Kraft gesetzt, bestehende Gesellschaftsordnungen überwunden und Möglichkeits- und Resonanzräume für widerständige und eigensinnige Praktiken erfahren werden.
Das Interview mit Michael Hellwig zeigt sowohl, wie literarische, ästhetische Bildung durch diesen freien, selbstbestimmten, offenen, kreativen Zugang begünstigt und ermöglicht werden kann, als auch die Schwierigkeiten solch eines Projekts im (außer)schulischen Kontext. Die Räume, in denen sich ästhetische Erfahrung frei von Verwertungslogiken und Leistungsoptimierung abspielen können, werden durch verdichtete Lehrpläne oder die Einführung des Ganztags kleiner. Verloren gehen Verhältnisse, die geprägt sein können von Wechselseitigkeit, Freiwilligkeit ohne Zwangsstrukturen, gemeinsamen Lern- und Entwicklungsprozessen, Akzeptanz und Verantwortung, (Frei-)Raum und Zeit. Klar und offen erzählt Michael Hellwig von der stetigen Überzeugungsarbeit, die für kreative, ästhetische Bildungsangebote innerhalb und außerhalb des Schulbetriebes zu leisten ist. Dieses Ringen aber auch die Wichtigkeit und Notwendigkeit der ästhetischen Praxis des Schreibens als Erfahrungs- und Gestaltungsraum kommt auch im Abschiedsgedicht, das in der letzten Ausgabe des Rumpelstilzchen-Literaturblattes erschienen ist, zum Ausdruck:
„Rumpelstilzchen/ tanzt durch den Buchstabenwald/ füllt seinen Zettelkasten/ mit herabfallenden Texten / springt ums Feuer/ der Phantasie/ und reißt sich für die Literatur/ ein Bein aus.“ (zitiert aus: Westfalen Blatt, 27.01.2020, Ruth Matthes)
Nicole Zielke ist Soziologin und arbeitete von 2016–2018 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Volxakademie — Zentrum für inklusive Kultur“ der Theaterwerkstatt Bethel. Seit 2020 ist sie Projektleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Kultur.inklusiv in Westfalen-Lippe“ in der Theaterwerkstatt Bethel. Ebenso gibt sie als freie Dozentin Seminare für Qualitative Forschung an der Fachhochschule der Diakonie und für Performance & Inszenierung an der Universität Bielefeld. Sie promovierte an der Universität Bielefeld (Bielefeld Graduate School in History and Sociology) zu wohnraumbezogenen Übergängen ins Seniorenheim. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ästhetische Praxis und Inklusion, Raumsoziologie, Übergangsforschung und Qualitative Methoden.