Julia Wilke: Musik und Bewegung in pädagogischer Einzelarbeit. Videobasierte Analysen zu musik- und bewegungsbezogenen Koordinationsprozessen. (Münster: Waxmann 2023)
Eine Rezension von Leontine Bayer
Einordnung
Wie realisiert sich Körperlichkeit als Grunddimension des Musiklernens? Und welche Koordinationsprozesse werden sichtbar, wenn sich Kinder im Grundschulalter zur Musik bewegen? (vgl. Wilke 2023, S. 6 und S. 9) Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Dissertation von Julia Wilke, die darin ein zwölfwöchiges Projekt zum Thema „Musik und Bewegung“ an einer Grundschule zum Gegenstand macht.
Die von Wilke durchgeführte pädagogische Einzelarbeit mit drei Jungen bildet das Material für die nun vorliegende qualitative Grundlagenarbeit, die Koordinationsprozesse von Kindern im Grundschulalter zum Thema „Musik und Bewegung“ erfasst und systematisiert (vgl. ebd., S. 206). Methodisch verfolgt Wilke mit der videobasierten Analyse von Koordinationsprozessen einen interaktionsanalytischen Ansatz. Sowohl die Erhebungs- als auch die Auswertungsmethode orientieren sich an der rekonstruktiven Sozialforschung (vgl. ebd., S. 12).
Die Dissertation fügt sich in eine Reihe jüngerer Arbeiten ein, die an eine körper- und leiborientierte Musikpädagogik anknüpfen (vgl. Wilke 2023, S. 62). Die Arbeit schließt in Hinblick auf die Rekonstruktion von Koordinationsprozessen im Kontext von „Musik und Bewegung“ der untersuchten Altersgruppe eine empirische Lücke und verhilft ihrem Zentralbegriff der „Koordination“ zu erklingender Musik zu analytischer Schärfe.
Erkenntnisinteresse der Arbeit
Die Arbeit gründet auf der Annahme, dass das gemeinsame Tanzen oder Bewegen zur Musik eine Vielzahl von inner- und außermusikalischen Bezugsmöglichkeiten eröffnet und dass komplexe Übersetzungsleistungen gefordert sind, wenn es darum geht Musik in Bewegung umzusetzen (vgl. ebd., S. 11). Mit ihrer Dissertation verfolgt Wilke das Ziel, den Aufbau von Koordinationsprozessen im Kontext von „Musik und Bewegung“ zu erfassen und aus der empirischen Beobachtung förderliche und hinderliche Faktoren für die musik- und bewegungsbezogene pädagogische Arbeit abzuleiten. Dafür verbindet Wilke das Phänomen der „Koordination“ nach Maria Spychiger (2008; 2019a/b) mit dem Thema „Musik und Bewegung“ und erprobt dies praktisch in einem pädagogischen Setting (vgl. Wilke 2023, S. 11).
Vorgehen der Untersuchung
In ihren theoretischen Ausführungen nimmt Wilke auf wichtige (musik-)pädagogische Zentralbegriffe Bezug und stellt verschiedene Konzepte der musik- und bewegungsbezogenen Arbeit vor. Die theoretische Fundierung widmet sich zunächst dem Zentralbegriff der „Koordination“. Bezugspunkt ist hier die lernpsychologische Ausarbeitung des Begriffs durch Maria Spychiger (2008; 2019a/b). Koordination wird hier v. a. als dynamische Abstimmungsprozesse auf nonverbaler und klanglicher Ebene verstanden, zu denen auch die Bewegungskoordination zählt (vgl. Wilke 2023, S. 15f). Um die Struktur von Koordinationsprozessen zu beschreiben, geht die Verfasserin u. a. auf die Unterscheidungen zwischen coordination to und coordination with (Fuchs und De Jaegher 2009) sowie zwischen Intra- und Inter-Koordination ein. Dies sind Begriffe, an die Wilke bei ihrer Auswertung anknüpft (s. u.). Weitere Bezüge stellen die „Objektkoordination“, und die Feldtheorie von Kurt Lewin dar. Um koordinationsförderliche Bedingungen zu schaffen, sei zudem eine pädagogische Haltung nötig, wofür Wilke u. a. auf das Modell pädagogischen Handelns nach Fritz Oser (1994) zurückgreift (vgl. Wilke 2023, S. 26f.).
Auf theoretischer Ebene werden daraufhin Begründungen für den Einsatz körperorientierter Verfahren gesucht. Dafür greift Wilke auf das entwicklungspsychologische Stufenmodelle von Jean Piaget (1923), die dynamic skill theory von Kurt Fischer (1980), die Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty (1966) und auf den Embodiment-Ansatz zurück. Vor allem die dynamic skill theory, eine Weiterentwicklung des Stufenmodells von Piaget, bietet mit ihrer Unterscheidung in single sets, mappings und systems (vgl. Wilke 2023, S. 34f.) ein Begriffsvokabular, was Wilke später zur Kategorisierung der erfassten Koordinationsprozesse aufgreift (s. u.).
Der theoretische Teil der Arbeit schließt mit der Darstellung verschiedener Ansätze für die Konzeption von musik- und bewegungsbezogenen Interventionen. Hier liegt der Fokus v. a. auf der Darstellung der Bewegungslehre nach Rudolf von Laban und Irmgard Bartenieff, mit deren Hilfe sich Bewegungen präzise beschreiben lassen (vgl. ebd., S. 45ff.). Am Schluss des Kapitels diskutiert die Verfasserin die Verbindung von Musik und Bewegung, indem sie darstellt, wie musikalische Parameter mit der Kategorie „Antrieb“, der energetischen Qualität einer Bewegung, aus der Laban-Bartenieff-Bewegungsstudie (LBBS) miteinander verknüpft werden können. Ein Beispiel dafür wäre die Entsprechung zwischen piano in der Musik und einem leichten Gewicht in der Bewegung (vgl. Burkhardt 2014, S. 330 in Wilke 2023, S. 55). Musikbezogene Bewegungen können zudem sowohl einzelne Aspekte der Musik (v. a. musikalische Parameter) oder deren Zusammenspiel aufgreifen als auch von extramusikalischen Bedeutungszuweisungen ausgehen (vgl. ebd., S. 56ff.). Letzteres findet statt, als ein Kind während der Intervention eine aus dem Computer-Spiel Fortnite stammende „Dap“-Bewegung nachmacht (vgl. ebd., S. 146ff.).
Besonders interessant zu Beginn des empirischen Teils der Arbeit ist die Beschreibung der von der Verfasserin selbst konzipierten musik- und bewegungsbezogenen Intervention. Der Schwerpunkt der Analyse liegt zunächst auf der Reduktion des Ausgangsmaterials, d. h. auf der Auswahl der Videosegmente, deren Darstellung im Kontext der Arbeit viel Raum einnimmt. Wilke wählt hierfür einen interaktionsanalytischen Ansatz, womit das Erkenntnisinteresse auf die situativ realisierten Strukturen gelegt wird, innerhalb derer Prozesse des Koordinierens und des wechselseitigen Aufeinander-bezogen-Seins sichtbar werden (vgl. ebd., S. 81f.). Mithilfe der Segmentierungsanalyse nach Dinkelaker und Herrle (2009; 2016) werden ausgehend vom Datenmaterial induktiv drei Bewegungsmuster erkennbar, von denen aber nur die selbstreferenziellen d.h. tänzerische Bewegungen in die Auswertung aufgenommen werden (vgl. Wilke 2023, S. 91).
Mithilfe der multimodalen Interaktionsanalyse nach Schmitt (2015) erfolgt daraufhin eine mikroanalytische Betrachtung der Bewegungen, für die Wilke Frame-Comics (Standbildreihen) erstellt. Die Frame-Comics sind zusammen mit kurzen Notenbeispielen aus den verwendeten Musikbeispielen eine sehr bildhafte Beschreibung des Projekts zum Thema „Musik und Bewegung“. Für die Analyse der selbstreferenziellen Koordinationsprozesse greift Wilke auf die dynamic skill theory [1] und deren Unterscheidung in sets, mappings und systems zurück, mit dessen Hilfe sich der Komplexitätsgrad eines Koordinationsprozesses beschreiben lässt (vgl. Wilke 2023, S. 98f.).
Das methodische Vorgehen ist in sich schlüssig. Dass die Verfasserin Intervention und Auswertung der erhobenen Daten selbst vornimmt, wirft die Frage nach der Objektivität der Forschungsperspektive auf. Dabei ist der enge Bezug der Intervention zu den theoretischen Grundlagen zu berücksichtigen, der eine Umsetzung durch Personen, die nicht mit der dahinterstehenden Theorie vertraut sind, wohl erschwert hätte.
[1] Eigentlich eine Theorie der kognitiven Entwicklung, hier aber für Bewegungsprozesse modifiziert (vgl. Wilke 2023, S. 98).
Einblicke in die Ergebnisse und Ertrag der Arbeit
Im Ergebnisteil werden zunächst ausgewählte Fälle vorgestellt und anschließend in sets, mappings und systems eingeordnet und miteinander verglichen. Ein Beispiel für ein single set und eine coordination with ist eine Inter-Koordination durch eine Intra-Koordination: Im Rahmen einer Spiegelübung zum „Boléro“ von Maurice Ravel spiegelt die Autorin eine Bewegung (nachdenkliche Pose) des Jungen explizit nicht, wodurch sich der Junge seiner Bewegung erst bewusst wird und seinen Arm aus der Haltung löst und ihn in seinen Bewegungsablauf integriert (vgl. ebd., S. 117ff. und S. 178). Die erfassten Segmente werden daraufhin in drei Arten von Koordinationsprozessen eingeordnet: Koordinationsprozesse zur erklingenden Musik (entweder innermusikalisch durch Bezugnahme auf musikalische Parameter oder durch extramusikalische Bezugnahme), Koordinationsprozesse mit der Musikpädagogin und Koordinationsprozesse zu Objekten (vgl. ebd., S. 175ff.). Alles in allem zeigt sich, wie komplex Bewegungsprozesse zur Musik ablaufen und von wie vielen Kontextfaktoren wie der Musikauswahl oder den eingesetzten Gegenständen sie abhängen können (vgl. ebd., S. 205).
Zum Schluss leitet die Verfasserin förderliche und hinderliche Faktoren für den Aufbau von Koordinationsprozessen in der pädagogischen Arbeit ab, von denen einige (wie z. B. die pädagogische Haltung als begünstigender Faktor) m. E. nicht überraschen. Beispielsweise wird in der Publikation „die Sicherheit, den Fortgang der Situation antizipieren zu können, als ein relevanter Parameter für den Erhalt von Koordination“ (ebd., S. 185) genannt und die Musikauswahl hinsichtlich ihres Koordinationspotenzials diskutiert. Für die Musikauswahl scheint es sinnvoll zu sein, die Bewegungsimpulse der LBBS mit musikalischen Parametern zu verknüpfen (vgl. ebd., S. 190). Bei der Integration von Objekten ist der Aufforderungscharakter entscheidend, denn ein Gegenstand, welcher die Aufmerksamkeit des Kindes zu sehr in Anspruch nimmt, lenkt von der Bewegung ab (vgl. ebd., S. 190f.). Diese Erkenntnisse werden zwar aus der pädagogischen Einzelarbeit geschlossen, lassen sich aber sicher auch auf die Arbeit mit Gruppen übertragen.
Die Dissertation liefert wertvolle Erkenntnisse auf drei Ebenen: erstens hinsichtlich der methodischen Herangehensweise zur Ermittlung und Analyse der Koordinationsprozesse, zweitens zum Aufbau von Koordinationsprozessen im Kontext von Musik und Bewegung und drittens bezogen auf die Systematisierung und die Ermittlung förderlicher und hinderlicher Faktoren für die pädagogische Arbeit (vgl. ebd., S. 202). In der Analyse sticht besonders die Systematisierung in single sets, mappings und systems hervor. Anhand dieser können Lehrende Koordinationsprozesse und deren Organisationsstrukturen besser nachvollziehen und ein Bewusstsein erlangen, welche Koordinationsprozesse dem Kind zugemutet werden können und es bestärken (vgl. ebd., S. 197f.).
Schlussbemerkung
Die gut lesbare Arbeit verfolgt ein kohärentes methodisches Vorgehen. Die theoretische Fundierung schafft das nötige begriffliche Verständnis für die qualitativ angelegte Studie. Besonders anschaulich ist die Darstellung, wo theoretischer und empirischer Teil miteinander in Bezug gesetzt werden. Darüber hinaus werden alle vorgestellten Konzepte immer konkret auf musikalische Kontexte bezogen. Im methodischen Teil gewinnt man durch die genauen Beschreibungen und den Einsatz der Frame-Comics gelegentlich sogar den Eindruck, selbst im Feld anwesend zu sein. Die dadurch entstehende Anschaulichkeit lässt über gelegentliche Wiederholungen und Dopplungen in der Zusammenfassung hinwegsehen.
Obwohl die Erträge für die musikpädagogische Praxis möglicherweise nicht überraschen mögen bzw. intuitiv zu vermuten gewesen wären, ist die Dissertation lesenswert. Sie trägt zu einem tieferen Verständnis von musik- und bewegungsbezogenen Koordinationsprozessen bei und macht deren Potenzial deutlich. Besonders auf dem Gebiet der Laban-Bartenieff-Bewegungsstudie merkt man der Verfasserin ihre Expertise als Bewegungspädagogin an und bekommt selbst Lust, mehr musikbezogene Bewegung in die eigene pädagogische Arbeit einfließen zu lassen. Wünschenswert wäre eine genauere Darstellung der pädagogischen Intervention für didaktische Umsetzungsmöglichkeiten gewesen. Die Dissertation räumt der Bedeutung von Körperlichkeit für Musiklernprozesse einen hohen Stellenwert ein. Die von Wilke untersuchten Koordinationsprozesse, die entstehen, wenn Schüler*innen im Grundschulalter Musik in Bewegung umsetzen, stellen sich letztlich als Herausforderung und Chance in der musikpädagogischen Arbeit dar. Die Arbeit bietet somit noch viele Anknüpfungspunkte für die weitere Auseinandersetzung mit musik- und bewegungsbezogenen Prozessen.
Literatur
Wilke, Julia (2023): Musik und Bewegung in pädagogischer Einzelarbeit. Videobasierte Analysen zu musik- und bewegungsbezogenen Koordinationsprozessen. Münster: Waxmann.
Leontine Bayer studierte die Fächer Musik und Deutsch für das gymnasiale Lehramt an der HMT und Universität Leipzig. Seit 2024 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im ESF-Projekt „Sprache – Musik – Wahrnehmung“ an der Hochschule für Musik Dresden.