Überlegungen aus Anlass des aktuell erschienen Buches „Rhythmik – Musik und Bewegung. Transdisziplinäre Perspektiven“, herausgegeben von Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (2019). Bielefeld: transcript.
Rezension
Das vorliegende Buch verstehe ich als Standortbestimmung im Hinblick auf eine wissenschaftliche Grundlegung von Rhythmik, einem Teilbereich der kulturellen Bildungsarbeit, dem ich mich mit großer Sympathie, allerdings ohne expliziten fachwissenschaftlichen Sachverstand annähere. Mein hauptsächliches Arbeitsgebiet kann man als Allgemeine Kulturpädagogik mit dem Leitbegriff der kulturellen Bildung bezeichnen, wobei meine erziehungswissenschaftliche Heimatdisziplin die historische Bildungsforschung ist. Daher kann ich mich zwar mit großer Neugierde dieser fachwissenschaftlichen Standortbestimmung annähern, aber keine Rezension vorlegen, die dieses Buch in den spezifischen fachwissenschaftlichen Diskurs der Rhythmik kompetent einordnen kann.
Nachvollziehen kann ich die Mängelanalyse des Herausgeberkreises in der Einleitung des Buches, in der eine Reihe von Gründen angegeben wird, warum die Theorienbildung in der Rhythmik so schwierig ist: von einer Konzentration auf die Praxis über einen Mangel an notwendigen Ressourcen bis hin zu einer ambivalenten Dominanz des Gründers Jaques-Dalcroze. Nach der Lektüre dieses Buches kann man allerdings den Eindruck gewinnen, dass es sich bei dieser Mängelanzeige zumindest bei einzelnen Aspekten um einen performativen Widerspruch handelt. Denn es werden sowohl aus dem eigenen genuinen Arbeitskontext der Rhythmik, aber auch aus der Tanz- und Musikpädagogik, aus der Anthropologie, der Philosophie, der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, der Neurowissenschaft, aus der Theorie der ästhetischen Bildung, der Soziologie und anderen Disziplinen zahlreiche Theorien genutzt, mit denen das eigene Anliegen einer Theorienbildung im Felde der Rhythmik verfolgt wird. Allerdings scheint es so zu sein, dass die offenbar bis heute präsente Ausgangsmotivation von Jaques-Dalcroze, nämlich eine andere und innovative Methode in der Musikpädagogik zu entwickeln und hierfür entsprechende Bewegungen des Körpers zu Hilfe zu nehmen, ein Hindernis bei der Entwicklung einer Eigenständigkeit der Rhythmik in Theorie und Praxis ist. Es geht also nicht um die Gleichberechtigung und eine neue Synthese von Musik und Bewegung, sondern es wird in vielen Beiträgen bemängelt, dass in dieser Traditionslinie der Rhythmik der Bewegungsaspekt gegenüber der Musik nachrangig ist.
Das Buch gliedert sich in vier Teile: Geschichte und Gegenwart, fachtheoretische Ansätze, transdisziplinäre Bezüge und in einen letzten Abschnitt, in dem der praxeologische Charakter der Rhythmik (als Forschungsansatz und Möglichkeit der Theorienbildung) an Beispielen vorgestellt wird. In dem Buch finden sich zudem in den verschiedenen Abschnitten 16 sogenannte „Spots“, bei denen man über einen QR-Code Praxisbeispiele öffnen kann, die die vorgestellten theoretischen Überlegungen konkretisieren und illustrieren sollen.
Der historisch angelegte erste Abschnitt stellt die Entwicklung der Rhythmik als Teilbereich einer umfassenden reformpädagogischen Bewegung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dar. Es geht um Konzepte einer Wiedergewinnung von Ganzheitlichkeit, deren Verlust angesichts einer sich durchsetzenden industriellen Moderne zu einer Verkümmerung spezifischer Ausdrucksvermögen des Menschen geführt hat. Bei Jaques-Dalcroze ist es zudem sehr stark eine Kritik an vorfindlichen musikdidaktischen Konzepten, die er mit seinen Reformvorschlägen zum musikalischen Schulunterricht (1905) verändern will. Interessant ist der Hinweis (30) auf sein gesellschaftspolitisches Ziel, nämlich der Förderung einer musikalischen Kultur bei allen Menschen. Offenbar hat dieser Ansatz den Nerv der Zeit getroffen, was zudem durch die Begegnung mit Wolf Dohrn und der Gründung der Gartenstadt in Hellerau forciert wurde. Es geht um die Vision, Arbeit und Wohnen mit Bildung und Kultur zu verbinden, unabhängig von der sozialen Herkunft der Bewohner (so Daniel Zwiener, 32).
Die Einbettung in die reformpädagogische Bewegung zeigt sich auch an der Themenstellung des dritten Kunsterziehertages in Hamburg im Jahre 1905, der unter dem Motto „Musik und Gymnastik“ stand Eine Institutionalisierung der spezifischen Methode etwa durch die Gründung eines entsprechenden Instituts in Genf, die Anerkennung der Rhythmik als Ausbildungsfach durch den wichtigen musikpädagogischen Reformer Kestenberg in der Weimarer Republik und nicht zuletzt durch die Einrichtung entsprechender Studiengänge an Hochschulen nach dem Zweiten Weltkrieg waren weitere Schritte bei der Professionalisierung des Arbeitsfeldes. Allerdings weist Brigitte Steinmann in ihrem entsprechenden Beitrag auch auf Probleme hin, etwa die Uneinheitlichkeit bei der Bezeichnung oder die Ein- und Unterordnung in musikpädagogische Studiengänge. Ihr Beitrag endet mit der Hoffnung auf die Einführung künstlerischer Promotionen (69).
Rhythmik hatte schon durch die Ausstrahlung des Gründungsvaters eine internationale Dimension.. Interessant sind zudem die Hinweise von Dorothea Weise auf transdisziplinäre Verbindungen, wobei diese Verbindungen auch aufgrund der „Zerrissenheit und Diskontinuität in den Biografien vieler Rhythmikerinnen“ (79) und der damit verbundenen Tätigkeit außerhalb der Rhythmik im engeren Sinne hergestellt wurden, etwa durch eine Tätigkeit im Theater, in der Heilpädagogik, in der polyästhetischen Erziehung.
Die Darstellungen in diesem historisch angelegten Teil des Buches beschreiben die Rhythmik als Teil der großen, überwiegend antizivilisatorischen Reformbewegung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere als Teil der Reformpädagogik. Damit ergeben sich zum einen Gemeinsamkeiten mit anderen Feldern der – damals sogenannten – Musischen Bildung, es ergibt sich aus meiner Sicht allerdings daraus auch die Aufgabe, die Ambivalenzen dieser Reformbewegungen im Hinblick auf Rhythmik stärker zu diskutieren. Zum einen wären in bildungstheoretischer Hinsicht die Verbindungen zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik im Anschluss an Wilhelm Dilthey und seine Schüler (etwa Eduard Spranger und Herman Nohl) zu überprüfen. Dabei müsste man zur Kenntnis nehmen, dass der zeitdiagnostische Ansatz der meisten prominenten Repräsentanten dieser Bewegung jener Kulturpessimismus war, den der Historiker Fritz Stern als politische Gefahr beschrieben hat. Die politische Gefahr lag darin, dass es zum Teil recht enge Verbindungen mit nationalistischen und später auch nationalsozialistischen Tendenzen gab. Ein kleiner Hinweis findet sich in dem Beitrag von Dorothea Weise (79), nämlich der Hinweis auf die im Internet zugängliche Diplom-Arbeit von Silke Oevers aus dem Jahre 1991, die die Verstrickungen wichtiger Vertreter/innen – etwa die immer wieder in dem gesamten Buch positiv zitierte Elfriede Feudel – mit dem nationalsozialistischen Regime aufzeigen. Hierbei könnte man auf entsprechende Aufarbeitungen im Bereich des Tanzes (vgl. etwa Lilian Karina/Marion Kant (1996): Tanz unterm Hakenkreuz Berlin, oder auf entsprechende Arbeiten einer kritischen Musikpädagogik) zurückgreifen.
Interessanterweise beginnt der zweite Teil des Buches, der fachtheoretische Aufsätze umfasst, mit einem Beitrag von Ulrike Oesterhelt-Leiser zur gesellschaftlichen Bedeutung der emotionalen Qualität von Musik und Bewegung, der zumindest auch einen Hinweis auf die Nutzung von Musik in rechtsextremen Kontexten enthält. Es geht um die Einbeziehung des Körpers, wobei sich hierbei nicht bloß Bezüge zur Entwicklungspsychologie in der Entwicklung der Motorik des Kindes herstellen lassen, man könnte auch entsprechende Reflexionen und Studien etwa von Christian Rittelmeyer (Aisthesis. München 2014) nutzen. Insgesamt ergeben sich hier vielfältige Anschlussmöglichkeiten der Rhythmik an allgemeine kulturpädagogische Diskurse, etwa im Hinblick auf die größere Bedeutung, die man heute mimetischem und performativem Lernen zumisst, was inzwischen sogar im Bereich der Schulentwicklung zu einer Grundlage für ein neues Schulkonzept („Kulturschule“ und „kulturelle Schulentwicklung“) geworden ist. Dierk Zaiser thematisiert denselben Grundgedanken aus einer eher phänomenologischen Perspektive, Marianne Steffen-Wittek und Cheng Xie beziehen außereuropäische Kulturtraditionen mit ein.
Dies ist zugleich ein Übergang zu dem dritten Teil, der transdisziplinäre Bezüge zum Gegenstand hat. Suggestiv ist das Leitmotiv des Beitrags von Franz Mechsner, „Bewegung ist die Kunst, Wahrnehmung zu organisieren“ (183). Auch hier geht es um das Leiblich-Körperliche der menschlichen Existenz, wobei ein wichtiger Bezug zur Anthropogenese am Beispiel des mimetischen Lernens hergestellt wird. Evolutionstheorien spielen auch im Beitrag von Maria Spychinger eine Rolle, wenn sie die Bedeutung der Koordination hervorhebt. Hier ist man über die von ihr zitierten wissenschaftlichen Bezüge hinaus auf der sicheren Seite, wenn man etwa zusätzlich die Forschungen von Michael Tomasello aus dem Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie mit einbezieht.
Einen bildungstheoretischen Zugang liefert unter Bezug auf aktuelle Vorschläge (etwa Dietrich, Klepacki oder Zirfas) und unter Berufung auf die auch für mich maßgebliche biologisch-philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner der Beitrag von Constanze Rora. Mimetisches Lernen vermittelt leibliches Wissen: So beschreibt es Roswitha Staege in ihrem Beitrag. Auch dies ist aus meiner Sicht ein aussichtsreicher Ansatz, da wir es zur Zeit mit einer heftiger werdenden Auseinandersetzung um die Legitimität verschiedener Wissensformen zu tun haben, was bereits jetzt dazu geführt hat – etwa in der Forschungsförderung zur kulturellen Bildung des Bundesbildungsministeriums –, dass nur noch quantitatives und objektivierbares Wissen als legitim anerkannt wird.
Mit Forschung hat es auch der abschließende Teil zu tun. Der Begriff der Praxeologie aus der Überschrift wird in der Einleitung (12) als „Wissenschaft von Praktiken“ definiert, wobei ein enges Verhältnis von Theorie und Praxis die Basis ist. In der Wissenschaftsgeschichte ist dieser Begriff nicht neu. So wird etwa in der Soziologie der Ansatz von Pierre Bourdieu und in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft die Konzeption von Dietrich Benner als praxeologisch bezeichnet. Für die Rhythmik wird dieses Konzept mit den Worten eingeführt: „Die Theorienbildung der Rhythmik ist sehr komplex und zeitaufwendig, denn die Fachgenese basiert (…) auf praxisgeneriertem Erfahrungswissen.“ (12) Dass Theorienbildung nicht praxisfern erfolgen kann, leuchtet unmittelbar ein. Man muss allerdings sehen, dass es bei dem zitierten Erfahrungswissen in Wissenschaftskontexten um reflektiertes Erfahrungswissen gehen muss, wobei die Gewinnung von Erfahrungen bereits ein elaboriertes System von Begriffen voraussetzt.
Damit bin ich bei der Beschreibung des Eindrucks, den ich bei der Lektüre dieses Buches gewonnen habe. Es zeigt eindrucksvoll, dass die Rhythmik nicht bloß in der Praxis anspruchsvoll betrieben wird, sondern dass auch die wissenschaftliche Reflexion dieser Praxis auf einem hohen Niveau erfolgt. Es gibt eine Fülle unterschiedlicher fachwissenschaftlicher (pädagogischer, soziologischer, psychologischer, musik- und tanzwissenschaftlicher etc.) Zugangsweisen, die in dem Buch vorgestellt und genutzt werden für eine eigene Theorienbildung und Forschungsstrategie. Dass es dabei andere Bereiche gibt, die – wie etwa die Musikpädagogik – über eine bessere wissenschaftliche Infrastruktur verfügen, ist zwar zutreffend, doch gilt der Mangel auch für andere Felder in der großen Familie der Kulturpädagogik. Aus meiner Sicht ergeben sich zahlreiche Anschlussmöglichkeiten an Diskurse in den anderen Bereichen der Kulturpädagogik und in der Allgemeinen Kulturpädagogik. Dies betrifft etwa eine kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte, so wie ich es oben angedeutet habe. Für die Kulturpädagogik wurde vorgeschlagen, drei Phasen zu unterscheiden: die Phase der musischen Bildung (in der Weimarer Zeit und früher), eine emanzipatorische Phase rund um die 1970er Jahre und in den letzten Jahren eine kritisch-reflexive Phase. Es wäre interessant zu überprüfen, inwieweit dieser Vorschlag auch für die Entwicklung der Rhythmik Gültigkeit hat.
Ein wenig überrascht war ich bei der Lektüre darüber, dass es relativ wenige Bezüge zu allgemeinen bildungstheoretischen Diskursen gibt (Ausnahme zum Beispiel der Beitrag von Constanze Rora). Solche Anschlüsse könnten zum einen hilfreich sein als Reflexionsgrundlage für die eigene Arbeit. Sie helfen auch bei aller Notwendigkeit, das eigene Profil zu schärfen, dabei, Verbindungen zu verwandten Arbeitsfeldern herzustellen. Neben der Bedeutung, die das vorliegende Buch zweifellos für die wissenschaftliche Fundierung der Rhythmik als Praxis- und Forschungsfeld hat, kann man es daher auch als Diskussionsangebot für andere Bereiche der kulturellen Bildung verstehen.