„Denn es bedarf eines In-der-Musik-Seins (als Moment, in dem Leib Musik und Musik Leib ist)“: Die leibphänomenologisch-musikpädagogische Auseinandersetzung mit Bewegung und Musikverstehen durch Anna Unger-Rudroff
Eine Rezension von:
Unger-Rudroff, Anna: Bewegung und Musikverstehen. Leibphänomenologische Perspektiven auf die musikalische Begriffsbildung bei Kindern. Bielefeld 2020.
An den seit einigen Jahren erfreulicherweise wieder Fahrt aufnehmenden Leib-Diskurs der Musikpädagogik (vgl. u. a. Oberhaus 2006, Oberhaus & Stange 2017) knüpft die hier vorgestellte Dissertationsschrift von Anna Unger-Rudroff an.[1] Sie vertieft und bereichert die bisherige Diskussion durch einen detailliert (leib)phänomenologischen Blick auf das Wechselverhältnis von körperlich-leiblicher Bewegung und musikbezogenen Verstehensvorgängen. Damit gelingt der Verfasserin nicht nur die bis dato umfassendste Behandlung des Themas Bewegung und Musikverstehen, sondern auch eine eindrucksvolle Verteidigung der Notwendigkeit eines leiblich fundierten Musiklernens, wie es schon von unter anderem Wolfgang Rüdiger eingefordert wurde (vgl. 2018).
Besonders gründlich sind die philosophisch-phänomenologischen Fundierungen zu Beginn der Arbeit. Die Autorin führt im zweiten, an die Einleitung anschließenden Kapitel allgemein in die Phänomenologie ein lässt und erwartungsgemäß Edmund Husserl, Martin Heidegger und selbstverständlich insbesondere Maurice Merleau-Ponty zu Wort kommen. Für Erstleser auf diesem philosophischen Gebiet könnten die anfänglichen Ausführungen gegebenenfalls etwas schwerer zugänglich sein, da viele Begriffe — wie etwa jener der Transzendentalphilosophie — quasi als bekannt vorausgesetzt werden. Dies, das Voraussetzen eines gewissen Grundvokabulars, ist aber auch vertretbar, um das reichhaltige Programm abarbeiten zu können. Im dritten Kapitel geht es dann nämlich intensiv um die Leibphänomenologie, etwa um die Differenzierung zwischen Leib und Körper, den Bewegungsbegriff bei Merleau-Ponty oder dessen Wahrnehmungstheorie, entfaltet in seinem Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung.
In einem vierten Kapitel betritt Unger-Rudroff ganz allmählich den Boden musikpädagogischer Überlegungen, wenngleich sie in dieser Sektion zunächst nur beabsichtigt, das leibnahe Phänomen Musik aus leibphänomenologischer Sicht näher zu betrachten. Sie untersucht, wie uns die Musik als räumlich-zeitliches Phänomen in unserem Wahrnehmen, Empfinden und Erkennen begegnet, wobei sich regelmäßig pädagogische Implikationen andeuten, wie hier in Bezug auf das Einswerden von Leib und Musik während des musikalischen Vollzuges: „Indem wir uns leiblich der Musik annähern, können wir die musikalischen Strukturen einverleiben und somit leiblich verstehen. Die Musik lässt uns wiederum unseren Leib spüren und erfahren“ (Unger-Rudroff 2020, S. 123). In prägnanter Weise gelingt es der Autorin, „Musik als gelebte Leiblichkeit“ (ebd., S. 139) auszuweisen und herauszuarbeiten, wie bedeutsam Leiblichkeit für unser „Der-Musik-zugewandt-Sein“ (ebd., S. 136) ist. Eine zentrale Passage lautet daher:
„Da der Leib das Medium ist, das eine größtmögliche Nähe zum Gegenstand Musik aufweist, kann es im Hinblick auf einen verstehenden Umgang mit Musik zur Anschauungserfüllung beitragen, wenn der Leib bei der Auseinandersetzung mit Musik selbst zum Gegenstand wird, an dem Verstehen möglich ist — so beispielsweise in der Bewegung, in der uns unser Leib selbst mit gegenwärtig wird. Ein leibliches Zur-Musik-Sein könnte demnach eine (besonders starke,) auf dem Prinzip der Intentionalität beruhende Korrelation zwischen Subjekt und Musik herstellen. Dies betrifft das Sich-Ansprechen-Lassen von der Musik genauso wie die schöpferische Bewegung auf die Musik zu. Der Moment der Korrelation birgt also ein schöpferisches Moment in sich, indem zugleich die Wurzel für Begriffs- oder Symbolbildungsprozesse und somit Verstehen zu sehen ist.“ (ebd., S. 135)
In dreifacher Schichtung illustriert Unger-Rudroff die hier erwähnte Nähe des Leibes zur Musik, indem sie Kernaspekte von Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie auf das Musikhören anwendet, Musik als Lebenswelt behandelt, und selbstverständlich auch das Thema Musik und Bewegung beleuchtet. Stimmigerweise bleibt sie auch bei der Sichtung des zuletzt genannten Gebietes der merleau-pontyschen Phänomenologie treu und forscht, grundsätzlich im Rekurs auf den Bewegungsbegriff von Merleau-Ponty verankert, nach dem Wesen des Verhältnisses von Musik und Bewegung. Der oft zu begegnenden Behauptung „Musik sei Bewegung“ (ebd., S. 139)[2] bringt sie gute Argumente entgegen und lädt zu einer weitaus differenzierteren Betrachtungsweise ein, indem sie ausführt,
„dass die von uns in der Musik wahrgenommene und empfundene Bewegung im Prinzip den Charakter einer Illusion oder einer Täuschung hat, da sie de facto (im Sinne von Sichtbar) nicht existiert. Bewegung in der Musik ist weder mess- noch konkret greif- oder sichtbar. Hinter ihr verbirgt sich eine nicht eindeutig bestimmbare Wahrheit von transportierten Bedeutungen. Ihre Existenz ist gebunden an ein sie leiblich gewahr werdendes Individuum, das sich der Wahrnehmung von Musik öffnet und diese als real existierende Bewegung empfindet.“ (ebd., S. 143)
Ihr Argumentationsgang mündet schließlich darin, dass man Musik als vollzogene Leiblichkeit auffassen darf und muss. Sie bekräftigt damit und baut weiter aus, was Lars Oberhaus (2006) mit seiner Schrift Musik als Vollzug von Leiblichkeit bereits in den musikpädagogischen Diskurs hineingetragen hat. Galant gelingt der Brückenschlag zu originär musikpädagogischen Fragestellungen, die im Falle von Unger-Rudroff ja besonders die Bewegung fokussieren:
„Auch Musik wird aufgrund ihrer Leibähnlichkeit nur zu dem, was sie ist, wenn wir sie in unserem leiblichen Gewahrwerden sozusagen zum Leben erwecken. Musik und Musikverstehen hat daher in vielfacher Hinsicht immer etwas mit Bewegen, Bewegung und Bewegtwerden zu tun.“ (Unger-Rudroff 2020, S. 140)
Um die Frage zu beantworten, „welche Rolle der Leib beziehungsweise die Leiblichkeit beim Verstehen von Musik spielt“ (ebd., S. 177), beabsichtigt die Autorin in ihrem fünften Kapitel, Leibphänomenologie und Musikpädagogik zu verbinden. Zuerst wirft sie einen phänomenologischen Blick auf den Verstehensbegriff und den Verstehensprozess, grenzt dabei unter anderem phänomenologisches Verstehen von hermeneutischem Verstehen ab, und überträgt anschließend ihre Erkenntnisse auf das Musikverstehen. Eine definitorische Kondensierung einer phänomenologisch-musikpädagogischen Verstehensauffassung, die für absolute begriffliche Klarheit sorgen würde, sucht man jedoch vergebens. Stattdessen treten an unterschiedlichen Stellen immer wieder die einzelnen Bedeutungsschichten des von Unger-Rudroff skizzierten Verstehensbegriffs zutage, was hier nur ausschnitthaft angezeigt werden kann:
- „Nach phänomenologischer Erkenntnishaltung kann Verstehen nur damit beginnen, dass man sich seiner eigenen Erfahrungen und der mit ihnen verbundenen Vorurteile zunächst bewusst wird.“ (ebd., S.194)
- „Aus phänomenologischer Perspektive ereignet sich Verstehen durch ein korrelatives Verhältnis von Ich und Welt. Das bedeutet übertragen auf den Umgang mit Musik: Verstehen sollte als Prozess betrachtet werden, bei dem die subjektive lebensweltgebundene Perspektive des Verstehenssubjektes genauso von Bedeutung ist wie die affizierenden und herausfordernden Wesenszüge des musikalischen Kunstwerkes als Gegenstand der Betrachtung.“ (ebd., S. 198)
- „Verstehen als Bewegung zwischen Musik und Mensch bleibt immer an den Vollzug der Wahrnehmung gebunden und erreicht keinen Endpunkt.“ (ebd., S. 209)
Die Dimensionen von Verstehen, die sich am Ende herauskristallisieren, würden noch schärfere Umrisse annehmen, kontrastierte man sie pointiert mit den Bedeutungen von Verstehen, die bislang in der Musikpädagogik vorherrschten — einen guten Überblick geben etwa Peter W. Schatt (2007, S. 39 ff.) oder Rudolf-Dieter Kraemer (2007, S. 99 ff.). Zwar bezieht Unger-Rudroff auch die kritische Rezeption des Verstehensbegriffs durch Jürgen Vogt (2001) und Frauke Heß (2003) ein, jedoch ist die Bezugnahme auf den musikpädagogischen Verstehensdiskurs recht kurzgehalten. Eine Arbeit, die sich so enthusiastisch dem Musikverstehen widmet, hätte hier länger verweilen können; dies wäre auch dem von der Autorin entwickelten Verständnis von Verstehen entgegengekommen und hätte es mehr zur Geltung gebracht. An Ertrag für musikpädagogisch-praktisches Handeln fehlt es aber generell keinesfalls. Eine große Stärke ist die Bereitstellung vieler Impulse für die Gestaltung von Musikunterricht mit Blick auf das Musikverstehen. Die Autorin fordert Lehrkräfte dazu auf, den ihr pädagogisches Handeln bestimmenden Verstehensbegriff kritisch zu hinterfragen und „immer der zu verstehenden Sache angemessen“ (Unger-Rudroff 2020, S. 210) zu formulieren. Der Musik angemessen wäre zum Beispiel, so Unger-Rudroff, wenn das Verstehen selbst zum Thema wird und man im Musikunterricht die Erfahrung macht, dass Musik nicht eindeutig auslegbar oder bestimmbar ist. „Musik behält immer Anteile von Verborgenem und unerklärlichem Sinn“ (ebd.). Verstehensprozesse gar zur Referenzgrundlage von Leistungsbewertung zu machen, erscheint der Verfasserin deshalb völlig abwegig. Da sich Musik einem endgültigen Verstehen entzieht, solle man sich auch von der „althergebrachte[n] Erfolgserwartung des Verstehensbegriffs“ (ebd., S. 197), die gebunden ist an Gedanken der Zielerreichung und der messbaren Resultate, verabschieden. Unger-Rudroff fragt daher, ob es „nicht vielmehr um den Weg an sich als ein Aufrechterhalten einer Bewegung der Auseinandersetzung“ (ebd.), ein „In-Gang-Setzen von Musikverstehen als einem Prozess“ (ebd., S. 209) und „die musikalische Erfahrung, um die wir reicher werden“ (ebd.) geht. Zudem deutet sich bereits an, „dass unter Verstehen auch leibliches und vorsprachliches Verstehen gefasst werden kann“ (ebd., S. 199).
Gesteigertes musikpädagogisches Drehmoment entfaltet sich kurze Zeit später in der Sektion „Musik und leibliches Lernen“ (ebd., S. 213 ff.), in der Unger-Rudroff ein höchst überzeugendes Plädoyer für eine leibnahe Musikvermittlung vorträgt. Unter anderem heißt es dort:
„Im musikbezogenen leiblichen Lernen entstehen sinnstiftende Beziehungen zwischen lernenden Subjekten und musikalischen Phänomenen, die in ein prärationales Bedeutungserleben hineinreichen und somit die Grundlage für das Verstehen von Musik bilden. (…) In der leiblich-körperlichen Bewegung zu Musik gelingt es, die Distanz zwischen Mensch und Musik so stark zu verringern, dass Bewegung und Musik als Einheit empfunden werden. Lernen und Verstehen rücken dabei so nahe, dass sich sagen ließe: Hier versteht der Leib, indem er lernt.“ (ebd., S. 213)
Erfolgreich legitimiert sie daraufhin den „Leib als Fundament des Lernens“ (ebd., S. 220 ff.) und zeigt auf, wie wichtig unsere Bewegung, unser kinästhetisches Bewegungsbewusstsein für das Lernen und Verstehen von Musik ist. Eine der wichtigsten Kernthesen lautet dabei: „Musikbezogenes Lernen ist Bewegung, geht aus Bewegung hervor und bewirkt Bewegung“ (ebd., S. 252). Dies sieht Unger-Rudroff darin begründet, dass verschiedene Bewegungsaspekte im Bereich der Musik interagieren, nämlich:
- „die Bewegung als Denkbewegung bzw. die Prozesshaftigkeit von Vollzügen wie Wahrnehmen, Empfinden, Lernen, Erkennen und Verstehen in Bezug auf Musik (in diesem Sinne betrifft sie die unsichtbare Bewegung zwischen Musik und Mensch),
- die Bewegung als unsichtbarer Bestandteil oder Aspekt der Musik im Sinne einer von der Musik hervorgerufenen Bewegungssuggestion oder der Bewegungsillusion nach Langer sowie
- die sichtbare oder sichtbar (und somit auch bewusst) gemachte konkrete körperliche Bewegung zur Musik (wie zum Beispiel die Bewegung am Instrument, die Bewegung des Dirigierens oder die tänzerische Bewegung zur Musik).“ (ebd., S. 251)
Unger-Rudroffs Dissertationsschrift kulminiert schlussendlich in Kapitel 6, „Bewegungen zu einem Orgelstück“ (ebd., S. 324 ff.), in einer empirischen Studie, die nochmals ihre leibphänomenologischen Gedankengänge mit der musikpädagogischen Fragestellung ihrer Veröffentlichung zu fusionieren versucht, und Verstehensakte im Kontext leiblichen Musiklernens fokussiert. An der absichtsvoll auch konzertpädagogisch motivierten Projektstudie nahmen 12 Grundschulkinder verschiedener Klassenstufen teil, die sich über zwei Monate hinweg samstags in der Lübecker Kirche St. Marien zusammenfanden, um sich durch verschiedene ästhetisch-transformative Tätigkeiten intensiv mit einem Orgelstück — dem Scherzo aus den 10 pièces pour orgue von Eugène Gigout (1844–1925) — zu befassen. Letztlich sollten die unterschiedlichen Umgangsweisen der Kinder mit dem Werk in einem Kinder-Orgelkonzert auch einem Publikum präsentiert werden. Zu den von den Kindern durchgeführten ästhetischen Transformationen zählte die Überführung der Orgelmusik in Bild (mit Temperafarben, A3-Format), Sprache (kleine Geschichten) und eine zur Musik passende Bewegungschoreographie, die von den teilnehmenden Grundschülern selbst als Tanz bezeichnet wurde, und die in Unger-Rudroffs Betrachtungen den größten Raum einnehmen.
Da diese kreativ-künstlerischen Aneignungsformen von Musik ein solch zentrales Element der Studie darstellen, wäre ein (ggf. ausgiebiges) Einflechten der von Ursula Brandstätter erarbeiteten Theorie der ästhetischen Transformation — etwa zur Rolle metaphorischer Bezugnahme, zum Spannungsfeld von Sich-ähnlich-Machen und Sich-verschieden-Machen, oder zur Kontextverschiebung, Abstraktion, Wahrnehmungsveränderung und insbesondere zur ästhetischen Erkenntnis durch Transformation (vgl. Brandstätter 2013, S. 120 ff.) — ein den musikpädagogisch-theoretischen Rahmen der Studie bereicherndes Vorhaben gewesen. Die von Unger-Rudroff identifizierten Verstehensvorgänge hätten auf diese Weise an der ein oder anderen Stelle in Verbindung mit den theoretischen Vorarbeiten Brandstätters noch größeres Gewicht erhalten können. Den Platz dafür hätte es gegeben, denn das die Studie behandelnde Kapitel ist im Vergleich zur restlichen Dimensionierung der Schrift recht kompakt gehalten und kommt fast ausschließlich ohne Anbindungen an Literatur aus. Vielleicht macht aber gerade auch diese Konzentration auf das absolut Wesentliche die schriftliche Darstellung der dem phänomenologischen Forschungsstil verpflichteten Studie so reizvoll. Im Übrigen werden die forschungstheoretischen Probleme, die aus der Personalunion der Autorin in Bezug auf Konzeption, Durchführung und Auswertung der Studie erwachsen können, anfangs kurz angesprochen, wenngleich sie nicht tiefergehend reflektiert werden.
All dies schmälert jedoch nicht die Leistung, die Unger-Rudroff insgesamt erbringt. Sie führt die phänomenologische Methode der Deskription zu einer Blüte und demonstriert eine äußert feinfühlige Beobachtungsgabe, die die Lesenden mit in die kindlichen musikbezogenen Verstehenswelten nimmt. Genau darin liegt unter anderem der musikpädagogische Wert, der die Ausführungen so überaus lesenswert macht. Durch die körperliche Bewegung initiierte Prozesse des Musikverstehens werden hier konkret greifbar und mit dem notwendigen und angemessenen Detailreichtum sehr anschaulich rekonstruiert und dargestellt.
Als besonders interessant erweist sich in diesem Zusammenhang die Schilderung einer von der Autorin als Krisenmoment bezeichneten Situation (Unger-Rudroff 2020, S. 338 f.). Bei der bewegungsmäßigen Umsetzung einer Achttakt-Phrase des Orgelstückes empfinden es die Kinder sehr bald als problematisch, dass ihre Bewegungen über die acht Takte hinweg gleichbleiben. In der Musik ereignet sich nach vier Takten nämlich eine Sequenzierung der aufwärtsstrebenden Achtellinie in Moll und eine Terz tiefer. Für den sequenzierten Abschnitt handeln die Kinder untereinander nach kurzer Zeit eine Bewegungsgestaltung aus, die letztlich jener der ersten vier Takte ähnelt, aber dennoch die charakterliche Änderung und Weiterentwicklung der Musik bei insgesamt gleichbleibendem Gestus berücksichtigt. Angesichts dieses teils nonverbalen Aushandlungsprozesses hätte man, nebenbei bemerkt, wunderbar auf die musikalischen Bildungspotenziale des ästhetischen Streits (vgl. Rolle & Wallbaum 2011) verweisen können, denn hier hat offenbar ein mit ästhetischen Argumenten (z. B. Vormachen von Bewegungen) ausgetragener Diskurs, ein ästhetischer Streit par excellence stattgefunden.
Spannend ist hier zudem die das leiblich-bewegte Musiklernen kennzeichnende Vorsprachlichkeit, die natürlich nicht immer gegenwärtig sein muss, es aber im Moment der spontanen Bewegungshervorbringung oftmals schlicht ist. Unger-Rudroff berichtet über die Kinder:
„Während sie beispielsweise im Projekttagebuch nur sehr zögerlich, kurz oder gar verneinend auf die Frage: ‚Du hast das Orgelstück nun schon oft gehört. Meinst Du, dass Du es schon gut kennst und es beschreiben kannst?‘, antworten, zeigen ihre Bewegungen und Handlungen zur Musik, dass sie in einem Intervall von etwa acht Takten auf Veränderungen und Entwicklungen in der Musik reagieren. Daraus lässt sich schließen, dass es sich hier durchaus um Prozesse des Verstehens von Musik handelt. Diese spielen sich aber vermutlich schwerpunktmäßig im vorsprachlichen Bereich ab. Daher sind die Erkenntnisse der Kinder (noch) nicht adäquat in Wortsprache übertragbar. (…) Die Beobachtungen im Rahmen des Projektes haben bekräftigt, dass Verstehen von Musik da beginnt, wo etwas als etwas in der Musik wahrgenommen wird. Durch das Sichtbarmachen der gehörten Verhältnisse wird den Grundschülern (zunächst vorsprachlich) bewusst, dass sie und was sie musikalisch wahrnehmen. Durch die Übertragung der Musik in Bewegung eröffnet sich ihnen beispielsweise die Dimension des Raumes, durch die wahrgenommene Verhältnisse in der Musik sichtbar werden. So lässt sich am Tanz der Kinder nahezu ‚ablesen‘, dass die Musik zu Beginn des Stückes um immer mehr Klangfarben und Stimmen reicher, immer dichter wird. Adäquat dazu stoßen nach und nach (nach jeweils acht Takten) immer mehr Kinder zur tanzenden Gruppe hinzu (…).“ (Unger-Rudroff 2020, S. 352)
„Verstehen beginnt nicht erst da, wo mit konkreten musikalischen Wortbegriffen umgegangen wird. Verstehen setzt vielmehr bereits da an, wo die eigene Wahrnehmung von Sinn und Struktur in der Musik zum (vorsprachlichen) Ausdruck (…) gebracht wird“ (ebd., S. 356). Dies hebt die Verfasserin daher berechtigterweise hervor und versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass im Musikunterricht auch verbalsprachlich reflektierend an derartige Momente angeschlossen werden kann, um den ohnehin nie endenden Verstehensvorgang weiter anzufachen und die musikalische Begriffsbildung anzuregen. Ihre Einsichten über die vorsprachlich-sinnliche Erkenntniskraft von Bewegung zur Musik hätte Unger-Rudroff an dieser Stelle auch im bestehenden Leib-Diskurs der Musikpädagogik verorten können, so erweist sich ja beispielsweise auch für Christoph Stange, rekurrierend auf Pierre Bourdieu, der Körper „als Verstehender, und das in einer Weise, die sich der Sprachlichkeit (ohne sie auszuschließen) häufig entzieht, die dafür aber unabdingbar Sinnlichkeit einschließt“ (2017, S. 84).
Geschickt zeigt Unger-Rudroff im Laufe ihrer Ausführungen die Potenziale der leiblichen Auseinandersetzung mit der Musik auf. Es sei nochmals ein bewegungsbezogener Gedanke der Autorin zitiert, immerhin liegt ihr Hauptaugenmerk ja auf dem Thema Bewegung und Musikverstehen, wobei sie durchaus auch die von den Kindern verfassten Geschichten untersucht (auf ein Eingehen auf die mediale Transformation in Bild verzichtet sie in ihren Auswertungen allerdings):
„Der von ihnen [den Kindern] zur Musik entwickelte Tanz zeigt Strukturen, Sinngebilde, Gestalten, dynamische Entwicklungen, Stimmungen (somit vermutlich indirekt Klangfarben) und Verhältnisse der verschiedensten Art (wie beispielsweise das Verhältnis der Einzelstimmen zueinander oder unterschiedliche Nuancen, die sich im Spannungsfeld zwischen den ‚leisesten‘ und den ‚lautesten‘ Momenten herausbilden) wie auch den zeitlichen Verlauf an sich, durch das Einanderfolgen in Schlängellininen oder in Kreisformen.“ (Unger-Rudroff 2020, S. 354)
Nicht bloß gegen Ende ihrer Darlegungen arbeitet Unger-Rudroff heraus, wie sehr die musikbegleitende Körperbewegung dabei hilft, sich auf die Musik einzulassen, sich ihr verstehend zuzuwenden bzw. geradezu mit ihr zu verschmelzen. In solchen fruchtbaren Momenten der Leiblichkeit können Musikverstehen und musikalische Begriffsbildung ihren Ausgang nehmen. Die Verfasserin schlussfolgert wesensforschend,
„dass sich Lernen und Verstehen in einem Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum untersuchten Phänomen vollziehen. Der phänomenologische Blick auf die Bewegung und das eigenleibliche Spüren hat aufgezeigt, dass die Bewegung insbesondere dazu geeignet ist, sich verstehend in Phänomene zu vertiefen. Denn in der Bewegung stellen wir durch unser Körperkonzept einen direkten räumlichen Bezug zum untersuchten Objekt her. Die wahrgenommene musikalische Bewegung wird als die eigene empfunden. Dies ist möglich, weil es zum Wesen der Musik gehört, Bewegung zu suggerieren. Musikalische Verläufe und Strukturen werden ‚am eigenen Leib‘ gespürt. Voraussetzung dafür ist ein Sicheinlassen auf die Musik. Da es sich nach phänomenologischem Verständnis bei der Bewegung zur Musik nicht nur um eine konkret ausgeführte Bewegung, sondern auch um eine vorgestellte Bewegung beziehungsweise um den Mitvollzug der musikalischen Bewegung als Bewegung, dem musikalischen Denken als Bewegung handelt, ist davon auszugehen, dass sich bei den Kindern, die sich zum Orgelstück bewegen, innerlich noch viel mehr bewegt, als äußerlich sichtbar wird.“ (ebd., S. 384)
In ihrem Ausblick weist Unger-Rudroff deshalb schlussendlich darauf hin, dass der Einbezug von Bewegung für den Musikunterricht der Grundschule eine sinnvolle und notwendige pädagogische Aufgabe ist. Es muss jedoch festgehalten werden, dass Unger-Rudroffs Ausführungen und Erkenntnisse den Grundschulbereich deutlichst transzendieren und generell mit fundiertem Vorgehen für eine leibliche Musikvermittlung werben. Über die Sekundarstufe hinaus bis zur Arbeit mit Erwachsenen lassen sich ihre leibphänomenologisch-musikpädagogischen Herleitungen und Beobachtungen als Theoriefundament eines leiblichen Musiklernens, welches mit der Bewegung zur Musik eine gewinnbringende und Musikverständnis fördernde Umgangsweise mit der Musik bietet, betrachten. Dies dürfte klar werden, wenn man diese empfehlenswerte Schrift als Lektüre zur Hand nimmt.
Literatur
Brandstätter, Ursula: Erkenntnis durch Kunst. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation. Wien 2013.
Heß, Frauke: „Verstehen“ — ein musikpädagogischer Mythos. In: Martin Kruse/ Reinhard Schneider (Hg.): Musikpädagogik als Aufgabe. Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegmund Helms. Kassel 2003, S. 119–135.
Kraemer, Rudolf-Dieter: Musikpädagogik — Eine Einführung in das Studium. Augsburg 2007.
Oberhaus, Lars/ Stange, Christoph (Hg.): Musik und Körper. Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik. Bielefeld 2017.
Oberhaus, Lars: Musik als Vollzug von Leiblichkeit. Zur phänomenologischen Analyse von Leiblichkeit in musikpädagogischer Absicht. Essen 2006.
Rolle, Christian/ Wallbaum, Christopher: Ästhetischer Streit im Musikunterricht. Didaktische und methodische Überlegungen zu Unterrichtsgesprächen über Musik. In: Johannes Kirschenmann/ Christoph Richter/ Kaspar H. Spinner (Hg.): Reden über Kunst. Fachdidaktisches Forschungssymposium in Literatur, Kunst und Musik. München 2011, S. 507–535.
Rüdiger, Wolfgang: Körperlichkeit als Grunddimension des Musiklernens. Begründungen und Beispiele. In: Wilfried Gruhn (Hg.): Musiklernen. Bedingungen — Handlungsfelder — Positionen. Innsbruck 2018, S. 130–154.
Schatt, Peter W.: Einführung in die Musikpädagogik. Darmstadt 2007.
Stange, Christoph: Denken mit den Beinen, spüren mit dem Kopf, tanzen mit der Seele. Zum Potenzial des Körpers für das Verstehen von Musik. In: Lars Oberhaus/ Christoph Stange (Hg.): Musik und Körper. Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik. Bielefeld 2017, S. 71–89.
Unger-Rudroff, Anna: Bewegung und Musikverstehen. Leibphänomenologische Perspektiven auf die musikalische Begriffsbildung bei Kindern. Bielefeld 2020.
Vogt, Jürgen: Der schwankende Boden der Lebenswelt. Phänomenologische Musikpädagogik zwischen Handlungstheorie und Ästhetik. Würzburg 2001.
[1] Das Titel-Zitat ist S. 147 entnommen.
[2] Falls nicht anders angegeben, sind Hervorhebungen immer im Original vorhanden.
Sebastian Brand studierte Gymnasiallehramt für die Fächer Musik und Englisch und promoviert derzeit an der Hochschule für Musik Saar mit einer musikpädagogischen Arbeit über bewegungsorientierte Vokalpraxis und Stimmbildung als leibbezogene Musikdidaktik. Neben der Forschungstätigkeit leitet er verschiedene Chöre, im Rahmen eines Lehrauftrages an der Universität des Saarlandes u. a. den Universitätschor Homburg.