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„Denn es bedarf eines In-der-Musik-Seins (als Moment, in dem Leib Musik und Musik Leib ist)“: Die leibphänomenologisch-musikpädagogische Auseinandersetzung mit Bewegung und Musikverstehen durch Anna Unger-Rudroff

Sebastian Brand

Eine Rezen­sion von:

Unger-Rudroff, Anna: Bewe­gung und Musikver­ste­hen. Leibphänom­e­nol­o­gis­che Per­spek­tiv­en auf die musikalis­che Begriffs­bil­dung bei Kindern. Biele­feld 2020.

 [Beitrag als PDF]

An den seit eini­gen Jahren erfreulicher­weise wieder Fahrt aufnehmenden Leib-Diskurs der Musikpäd­a­gogik (vgl. u. a. Ober­haus 2006, Ober­haus & Stange 2017) knüpft die hier vorgestellte Dis­ser­ta­tion­ss­chrift von Anna Unger-Rudroff an.[1] Sie ver­tieft und bere­ichert die bish­erige Diskus­sion durch einen detail­liert (leib)phänomenologischen Blick auf das Wech­selver­hält­nis von kör­per­lich-leib­lich­er Bewe­gung und musik­be­zo­ge­nen Ver­ste­hensvorgän­gen. Damit gelingt der Ver­fasserin nicht nur die bis dato umfassend­ste Behand­lung des The­mas Bewe­gung und Musikver­ste­hen, son­dern auch eine ein­drucksvolle Vertei­di­gung der Notwendigkeit eines leib­lich fundierten Musik­ler­nens, wie es schon von unter anderem Wolf­gang Rüdi­ger einge­fordert wurde (vgl. 2018).

Beson­ders gründlich sind die philosophisch-phänom­e­nol­o­gis­chen Fundierun­gen zu Beginn der Arbeit. Die Autorin führt im zweit­en, an die Ein­leitung anschließen­den Kapi­tel all­ge­mein in die Phänom­e­nolo­gie ein lässt und erwartungs­gemäß Edmund Husserl, Mar­tin Hei­deg­ger und selb­stver­ständlich ins­beson­dere Mau­rice Mer­leau-Pon­ty zu Wort kom­men. Für Erstleser auf diesem philosophis­chen Gebi­et kön­nten die anfänglichen Aus­führun­gen gegebe­nen­falls etwas schw­er­er zugänglich sein, da viele Begriffe — wie etwa jen­er der Tran­szen­den­tal­philoso­phie — qua­si als bekan­nt voraus­ge­set­zt wer­den. Dies, das Voraus­set­zen eines gewis­sen Grund­vok­ab­u­lars, ist aber auch vertret­bar, um das reich­haltige Pro­gramm abar­beit­en zu kön­nen. Im drit­ten Kapi­tel geht es dann näm­lich inten­siv um die Leibphänom­e­nolo­gie, etwa um die Dif­feren­zierung zwis­chen Leib und Kör­p­er, den Bewe­gungs­be­griff bei Mer­leau-Pon­ty oder dessen Wahrnehmungs­the­o­rie, ent­fal­tet in seinem Hauptwerk Phänom­e­nolo­gie der Wahrnehmung.

In einem vierten Kapi­tel betritt Unger-Rudroff ganz allmäh­lich den Boden musikpäd­a­gogis­ch­er Über­legun­gen, wen­ngle­ich sie in dieser Sek­tion zunächst nur beab­sichtigt, das leib­na­he Phänomen Musik aus leibphänom­e­nol­o­gis­ch­er Sicht näher zu betra­cht­en. Sie unter­sucht, wie uns die Musik als räum­lich-zeitlich­es Phänomen in unserem Wahrnehmen, Empfind­en und Erken­nen begeg­net, wobei sich regelmäßig päd­a­gogis­che Imp­lika­tio­nen andeuten, wie hier in Bezug auf das Ein­swer­den von Leib und Musik während des musikalis­chen Vol­lzuges: „Indem wir uns leib­lich der Musik annäh­ern, kön­nen wir die musikalis­chen Struk­turen ein­ver­leiben und somit leib­lich ver­ste­hen. Die Musik lässt uns wiederum unseren Leib spüren und erfahren“ (Unger-Rudroff 2020, S. 123). In präg­nan­ter Weise gelingt es der Autorin, „Musik als gelebte Leib­lichkeit“ (ebd., S. 139) auszuweisen und her­auszuar­beit­en, wie bedeut­sam Leib­lichkeit für unser „Der-Musik-zuge­wandt-Sein“ (ebd., S. 136) ist. Eine zen­trale Pas­sage lautet daher:

„Da der Leib das Medi­um ist, das eine größt­mögliche Nähe zum Gegen­stand Musik aufweist, kann es im Hin­blick auf einen ver­ste­hen­den Umgang mit Musik zur Anschau­ungser­fül­lung beitra­gen, wenn der Leib bei der Auseinan­der­set­zung mit Musik selb­st zum Gegen­stand wird, an dem Ver­ste­hen möglich ist — so beispiel­sweise in der Bewe­gung, in der uns unser Leib selb­st mit gegen­wär­tig wird. Ein leib­lich­es Zur-Musik-Sein kön­nte dem­nach eine (beson­ders starke,) auf dem Prinzip der Inten­tion­al­ität beruhende Kor­re­la­tion zwis­chen Sub­jekt und Musik her­stellen. Dies bet­rifft das Sich-Ansprechen-Lassen von der Musik genau­so wie die schöpferische Bewe­gung auf die Musik zu. Der Moment der Kor­re­la­tion birgt also ein schöpferisches Moment in sich, indem zugle­ich die Wurzel für Begriffs- oder Sym­bol­bil­dung­sprozesse und somit Ver­ste­hen zu sehen ist.“ (ebd., S. 135)

In dreifach­er Schich­tung illus­tri­ert Unger-Rudroff die hier erwäh­nte Nähe des Leibes zur Musik, indem sie Ker­naspek­te von Mer­leau-Pon­tys Wahrnehmungs­the­o­rie auf das Musikhören anwen­det, Musik als Lebenswelt behan­delt, und selb­stver­ständlich auch das The­ma Musik und Bewe­gung beleuchtet. Stim­miger­weise bleibt sie auch bei der Sich­tung des zulet­zt genan­nten Gebi­etes der mer­leau-pon­tyschen Phänom­e­nolo­gie treu und forscht, grund­sät­zlich im Rekurs auf den Bewe­gungs­be­griff von Mer­leau-Pon­ty ver­ankert, nach dem Wesen des Ver­hält­niss­es von Musik und Bewe­gung. Der oft zu begeg­nen­den Behaup­tung „Musik sei Bewe­gung“ (ebd., S. 139)[2] bringt sie gute Argu­mente ent­ge­gen und lädt zu ein­er weitaus dif­feren­ziert­eren Betra­ch­tungsweise ein, indem sie aus­führt,

„dass die von uns in der Musik wahrgenommene und emp­fun­dene Bewe­gung im Prinzip den Charak­ter ein­er Illu­sion oder ein­er Täuschung hat, da sie de fac­to (im Sinne von Sicht­bar) nicht existiert. Bewe­gung in der Musik ist wed­er mess- noch konkret greif- oder sicht­bar. Hin­ter ihr ver­birgt sich eine nicht ein­deutig bes­timm­bare Wahrheit von trans­portierten Bedeu­tun­gen. Ihre Exis­tenz ist gebun­den an ein sie leib­lich gewahr wer­den­des Indi­vidu­um, das sich der Wahrnehmung von Musik öffnet und diese als real existierende Bewe­gung empfind­et.“ (ebd., S. 143)

Ihr Argu­men­ta­tion­s­gang mün­det schließlich darin, dass man Musik als vol­l­zo­gene Leib­lichkeit auf­fassen darf und muss. Sie bekräftigt damit und baut weit­er aus, was Lars Ober­haus (2006) mit sein­er Schrift Musik als Vol­lzug von Leib­lichkeit bere­its in den musikpäd­a­gogis­chen Diskurs hineinge­tra­gen hat. Galant gelingt der Brück­en­schlag zu orig­inär musikpäd­a­gogis­chen Fragestel­lun­gen, die im Falle von Unger-Rudroff ja beson­ders die Bewe­gung fokussieren:

„Auch Musik wird auf­grund ihrer Leibähn­lichkeit nur zu dem, was sie ist, wenn wir sie in unserem leib­lichen Gewahrw­er­den sozusagen zum Leben erweck­en. Musik und Musikver­ste­hen hat daher in vielfach­er Hin­sicht immer etwas mit Bewe­gen, Bewe­gung und Bewegtwer­den zu tun.“ (Unger-Rudroff 2020, S. 140)

Um die Frage zu beant­worten, „welche Rolle der Leib beziehungsweise die Leib­lichkeit beim Ver­ste­hen von Musik spielt“ (ebd., S. 177), beab­sichtigt die Autorin in ihrem fün­ften Kapi­tel, Leibphänom­e­nolo­gie und Musikpäd­a­gogik zu verbinden. Zuerst wirft sie einen phänom­e­nol­o­gis­chen Blick auf den Ver­ste­hens­be­griff und den Ver­ste­hen­sprozess, gren­zt dabei unter anderem phänom­e­nol­o­gis­ches Ver­ste­hen von hermeneutis­chem Ver­ste­hen ab, und überträgt anschließend ihre Erken­nt­nisse auf das Musikver­ste­hen. Eine defin­i­torische Kon­den­sierung ein­er phänom­e­nol­o­gisch-musikpäd­a­gogis­chen Ver­ste­hen­sauf­fas­sung, die für absolute begrif­fliche Klarheit sor­gen würde, sucht man jedoch vergebens. Stattdessen treten an unter­schiedlichen Stellen immer wieder die einzel­nen Bedeu­tungss­chicht­en des von Unger-Rudroff skizzierten Ver­ste­hens­be­griffs zutage, was hier nur auss­chnit­thaft angezeigt wer­den kann:

  • „Nach phänom­e­nol­o­gis­ch­er Erken­nt­nishal­tung kann Ver­ste­hen nur damit begin­nen, dass man sich sein­er eige­nen Erfahrun­gen und der mit ihnen ver­bun­de­nen Vorurteile zunächst bewusst wird.“ (ebd., S.194)
  • „Aus phänom­e­nol­o­gis­ch­er Per­spek­tive ereignet sich Ver­ste­hen durch ein kor­rel­a­tives Ver­hält­nis von Ich und Welt. Das bedeutet über­tra­gen auf den Umgang mit Musik: Ver­ste­hen sollte als Prozess betra­chtet wer­den, bei dem die sub­jek­tive lebenswelt­ge­bun­dene Per­spek­tive des Ver­ste­henssub­jek­tes genau­so von Bedeu­tung ist wie die affizieren­den und her­aus­fordern­den Wesen­szüge des musikalis­chen Kunst­werkes als Gegen­stand der Betra­ch­tung.“ (ebd., S. 198)
  • „Ver­ste­hen als Bewe­gung zwis­chen Musik und Men­sch bleibt immer an den Vol­lzug der Wahrnehmung gebun­den und erre­icht keinen End­punkt.“ (ebd., S. 209)

Die Dimen­sio­nen von Ver­ste­hen, die sich am Ende her­auskristallisieren, wür­den noch schär­fere Umrisse annehmen, kon­trastierte man sie pointiert mit den Bedeu­tun­gen von Ver­ste­hen, die bis­lang in der Musikpäd­a­gogik vorherrscht­en — einen guten Überblick geben etwa Peter W. Schatt (2007, S. 39 ff.) oder Rudolf-Dieter Krae­mer (2007, S. 99 ff.). Zwar bezieht Unger-Rudroff auch die kri­tis­che Rezep­tion des Ver­ste­hens­be­griffs durch Jür­gen Vogt (2001) und Frauke Heß (2003) ein, jedoch ist die Bezug­nahme auf den musikpäd­a­gogis­chen Ver­ste­hens­diskurs recht kurzge­hal­ten. Eine Arbeit, die sich so enthu­si­astisch dem Musikver­ste­hen wid­met, hätte hier länger ver­weilen kön­nen; dies wäre auch dem von der Autorin entwick­el­ten Ver­ständ­nis von Ver­ste­hen ent­ge­gengekom­men und hätte es mehr zur Gel­tung gebracht. An Ertrag für musikpäd­a­gogisch-prak­tis­ches Han­deln fehlt es aber generell keines­falls. Eine große Stärke ist die Bere­it­stel­lung viel­er Impulse für die Gestal­tung von Musikun­ter­richt mit Blick auf das Musikver­ste­hen. Die Autorin fordert Lehrkräfte dazu auf, den ihr päd­a­gogis­ches Han­deln bes­tim­menden Ver­ste­hens­be­griff kri­tisch zu hin­ter­fra­gen und „immer der zu ver­ste­hen­den Sache angemessen“ (Unger-Rudroff 2020, S. 210) zu for­mulieren. Der Musik angemessen wäre zum Beispiel, so Unger-Rudroff, wenn das Ver­ste­hen selb­st zum The­ma wird und man im Musikun­ter­richt die Erfahrung macht, dass Musik nicht ein­deutig ausleg­bar oder bes­timm­bar ist. „Musik behält immer Anteile von Ver­bor­gen­em und unerk­lär­lichem Sinn“ (ebd.). Ver­ste­hen­sprozesse gar zur Ref­eren­z­grund­lage von Leis­tungs­be­w­er­tung zu machen, erscheint der Ver­fasserin deshalb völ­lig abwegig. Da sich Musik einem endgülti­gen Ver­ste­hen entzieht, solle man sich auch von der „althergebrachte[n] Erfol­gser­wartung des Ver­ste­hens­be­griffs“ (ebd., S. 197), die gebun­den ist an Gedanken der Ziel­er­re­ichung und der mess­baren Resul­tate, ver­ab­schieden. Unger-Rudroff fragt daher, ob es „nicht vielmehr um den Weg an sich als ein Aufrechter­hal­ten ein­er Bewe­gung der Auseinan­der­set­zung“ (ebd.), ein „In-Gang-Set­zen von Musikver­ste­hen als einem Prozess“ (ebd., S. 209) und „die musikalis­che Erfahrung, um die wir reich­er wer­den“ (ebd.) geht. Zudem deutet sich bere­its an, „dass unter Ver­ste­hen auch leib­lich­es und vor­sprach­lich­es Ver­ste­hen gefasst wer­den kann“ (ebd., S. 199).

Gesteigertes musikpäd­a­gogis­ches Drehmo­ment ent­fal­tet sich kurze Zeit später in der Sek­tion „Musik und leib­lich­es Ler­nen“ (ebd., S. 213 ff.), in der Unger-Rudroff ein höchst überzeu­gen­des Plä­doy­er für eine leib­na­he Musikver­mit­tlung vorträgt. Unter anderem heißt es dort:

„Im musik­be­zo­ge­nen leib­lichen Ler­nen entste­hen sinns­tif­tende Beziehun­gen zwis­chen ler­nen­den Sub­jek­ten und musikalis­chen Phänome­nen, die in ein prära­tionales Bedeu­tungser­leben hinein­re­ichen und somit die Grund­lage für das Ver­ste­hen von Musik bilden. (…) In der leib­lich-kör­per­lichen Bewe­gung zu Musik gelingt es, die Dis­tanz zwis­chen Men­sch und Musik so stark zu ver­ringern, dass Bewe­gung und Musik als Ein­heit emp­fun­den wer­den. Ler­nen und Ver­ste­hen rück­en dabei so nahe, dass sich sagen ließe: Hier ver­ste­ht der Leib, indem er lernt.“ (ebd., S. 213)

Erfol­gre­ich legit­imiert sie daraufhin den „Leib als Fun­da­ment des Ler­nens“ (ebd., S. 220 ff.) und zeigt auf, wie wichtig unsere Bewe­gung, unser kinäs­thetis­ches Bewe­gungs­be­wusst­sein für das Ler­nen und Ver­ste­hen von Musik ist. Eine der wichtig­sten Kern­the­sen lautet dabei: „Musik­be­zo­genes Ler­nen ist Bewe­gung, geht aus Bewe­gung her­vor und bewirkt Bewe­gung“ (ebd., S. 252). Dies sieht Unger-Rudroff darin begrün­det, dass ver­schiedene Bewe­gungsaspek­te im Bere­ich der Musik inter­agieren, näm­lich:

  • „die Bewe­gung als Denkbe­we­gung bzw. die Prozesshaftigkeit von Vol­lzü­gen wie Wahrnehmen, Empfind­en, Ler­nen, Erken­nen und Ver­ste­hen in Bezug auf Musik (in diesem Sinne bet­rifft sie die unsicht­bare Bewe­gung zwis­chen Musik und Men­sch),
  • die Bewe­gung als unsicht­bar­er Bestandteil oder Aspekt der Musik im Sinne ein­er von der Musik her­vorgerufe­nen Bewe­gungssug­ges­tion oder der Bewe­gungsil­lu­sion nach Langer sowie
  • die sicht­bare oder sicht­bar (und somit auch bewusst) gemachte konkrete kör­per­liche Bewe­gung zur Musik (wie zum Beispiel die Bewe­gung am Instru­ment, die Bewe­gung des Dirigierens oder die tänz­erische Bewe­gung zur Musik).“ (ebd., S. 251)

Unger-Rudroffs Dis­ser­ta­tion­ss­chrift kul­miniert schlussendlich in Kapi­tel 6, „Bewe­gun­gen zu einem Orgel­stück“ (ebd., S. 324 ff.), in ein­er empirischen Studie, die nochmals ihre leibphänom­e­nol­o­gis­chen Gedankengänge mit der musikpäd­a­gogis­chen Fragestel­lung ihrer Veröf­fentlichung zu fusion­ieren ver­sucht, und Ver­ste­hen­sak­te im Kon­text leib­lichen Musik­ler­nens fokussiert. An der absichtsvoll auch konz­ert­päd­a­gogisch motivierten Pro­jek­t­studie nah­men 12 Grund­schulkinder ver­schieden­er Klassen­stufen teil, die sich über zwei Monate hin­weg sam­stags in der Lübeck­er Kirche St. Marien zusam­men­fan­den, um sich durch ver­schiedene ästhetisch-trans­for­ma­tive Tätigkeit­en inten­siv mit einem Orgel­stück — dem Scher­zo aus den 10 pièces pour orgue von Eugène Gigout (1844–1925) — zu befassen. Let­ztlich soll­ten die unter­schiedlichen Umgangsweisen der Kinder mit dem Werk in einem Kinder-Orgelkonz­ert auch einem Pub­likum präsen­tiert wer­den. Zu den von den Kindern durchge­führten ästhetis­chen Trans­for­ma­tio­nen zählte die Über­führung der Orgel­musik in Bild (mit Tem­per­a­far­ben, A3-For­mat), Sprache (kleine Geschicht­en) und eine zur Musik passende Bewe­gungschore­o­gra­phie, die von den teil­nehmenden Grund­schülern selb­st als Tanz beze­ich­net wurde, und die in Unger-Rudroffs Betra­ch­tun­gen den größten Raum ein­nehmen.

Da diese kreativ-kün­st­lerischen Aneig­nungs­for­men von Musik ein solch zen­trales Ele­ment der Studie darstellen, wäre ein (ggf. aus­giebiges) Ein­flecht­en der von Ursu­la Brand­stät­ter erar­beit­eten The­o­rie der ästhetis­chen Trans­for­ma­tion — etwa zur Rolle metapho­risch­er Bezug­nahme, zum Span­nungs­feld von Sich-ähn­lich-Machen und Sich-ver­schieden-Machen, oder zur Kon­textver­schiebung, Abstrak­tion, Wahrnehmungsverän­derung und ins­beson­dere zur ästhetis­chen Erken­nt­nis durch Trans­for­ma­tion (vgl. Brand­stät­ter 2013, S. 120 ff.) — ein den musikpäd­a­gogisch-the­o­retis­chen Rah­men der Studie bere­ich­ern­des Vorhaben gewe­sen. Die von Unger-Rudroff iden­ti­fizierten Ver­ste­hensvorgänge hät­ten auf diese Weise an der ein oder anderen Stelle in Verbindung mit den the­o­retis­chen Vorar­beit­en Brand­stät­ters noch größeres Gewicht erhal­ten kön­nen. Den Platz dafür hätte es gegeben, denn das die Studie behan­del­nde Kapi­tel ist im Ver­gle­ich zur restlichen Dimen­sion­ierung der Schrift recht kom­pakt gehal­ten und kommt fast auss­chließlich ohne Anbindun­gen an Lit­er­atur aus. Vielle­icht macht aber ger­ade auch diese Konzen­tra­tion auf das abso­lut Wesentliche die schriftliche Darstel­lung der dem phänom­e­nol­o­gis­chen Forschungsstil verpflichteten Studie so reizvoll. Im Übri­gen wer­den die forschungs­the­o­retis­chen Prob­leme, die aus der Per­son­alu­nion der Autorin in Bezug auf Konzep­tion, Durch­führung und Auswer­tung der Studie erwach­sen kön­nen, anfangs kurz ange­sprochen, wen­ngle­ich sie nicht tiefer­ge­hend reflek­tiert wer­den.

All dies schmälert jedoch nicht die Leis­tung, die Unger-Rudroff ins­ge­samt erbringt. Sie führt die phänom­e­nol­o­gis­che Meth­ode der Deskrip­tion zu ein­er Blüte und demon­stri­ert eine äußert fein­füh­lige Beobach­tungs­gabe, die die Lesenden mit in die kindlichen musik­be­zo­ge­nen Ver­ste­henswel­ten nimmt. Genau darin liegt unter anderem der musikpäd­a­gogis­che Wert, der die Aus­führun­gen so über­aus lesenswert macht. Durch die kör­per­liche Bewe­gung ini­ti­ierte Prozesse des Musikver­ste­hens wer­den hier konkret greif­bar und mit dem notwendi­gen und angemesse­nen Detail­re­ich­tum sehr anschaulich rekon­stru­iert und dargestellt.

Als beson­ders inter­es­sant erweist sich in diesem Zusam­men­hang die Schilderung ein­er von der Autorin als Krisen­mo­ment beze­ich­neten Sit­u­a­tion (Unger-Rudroff 2020, S. 338 f.). Bei der bewe­gungsmäßi­gen Umset­zung ein­er Acht­takt-Phrase des Orgel­stück­es empfind­en es die Kinder sehr bald als prob­lema­tisch, dass ihre Bewe­gun­gen über die acht Tak­te hin­weg gle­ich­bleiben. In der Musik ereignet sich nach vier Tak­ten näm­lich eine Sequen­zierung der aufwärtsstreben­den Achtellinie in Moll und eine Terz tiefer. Für den sequen­zierten Abschnitt han­deln die Kinder untere­inan­der nach kurz­er Zeit eine Bewe­gungs­gestal­tung aus, die let­ztlich jen­er der ersten vier Tak­te ähnelt, aber den­noch die charak­ter­liche Änderung und Weit­er­en­twick­lung der Musik bei ins­ge­samt gle­ich­bleiben­dem Ges­tus berück­sichtigt. Angesichts dieses teils non­ver­balen Aushand­lung­sprozess­es hätte man, neben­bei bemerkt, wun­der­bar auf die musikalis­chen Bil­dungspoten­ziale des ästhetis­chen Stre­its (vgl. Rolle & Wall­baum 2011) ver­weisen kön­nen, denn hier hat offen­bar ein mit ästhetis­chen Argu­menten (z. B. Vor­ma­chen von Bewe­gun­gen) aus­ge­tra­gen­er Diskurs, ein ästhetis­ch­er Stre­it par excel­lence stattge­fun­den.

Span­nend ist hier zudem die das leib­lich-bewegte Musik­ler­nen kennze­ich­nende Vor­sprach­lichkeit, die natür­lich nicht immer gegen­wär­tig sein muss, es aber im Moment der spon­ta­nen Bewe­gung­sh­er­vor­bringung oft­mals schlicht ist. Unger-Rudroff berichtet über die Kinder:

„Während sie beispiel­sweise im Pro­jek­t­tage­buch nur sehr zöger­lich, kurz oder gar verneinend auf die Frage: ‚Du hast das Orgel­stück nun schon oft gehört. Meinst Du, dass Du es schon gut kennst und es beschreiben kannst?‘, antworten, zeigen ihre Bewe­gun­gen und Hand­lun­gen zur Musik, dass sie in einem Inter­vall von etwa acht Tak­ten auf Verän­derun­gen und Entwick­lun­gen in der Musik reagieren. Daraus lässt sich schließen, dass es sich hier dur­chaus um Prozesse des Ver­ste­hens von Musik han­delt. Diese spie­len sich aber ver­mut­lich schw­er­punk­t­mäßig im vor­sprach­lichen Bere­ich ab. Daher sind die Erken­nt­nisse der Kinder (noch) nicht adäquat in Wort­sprache über­trag­bar. (…) Die Beobach­tun­gen im Rah­men des Pro­jek­tes haben bekräftigt, dass Ver­ste­hen von Musik da begin­nt, wo etwas als etwas in der Musik wahrgenom­men wird. Durch das Sicht­bar­ma­chen der gehörten Ver­hält­nisse wird den Grund­schülern (zunächst vor­sprach­lich) bewusst, dass sie und was sie musikalisch wahrnehmen. Durch die Über­tra­gung der Musik in Bewe­gung eröffnet sich ihnen beispiel­sweise die Dimen­sion des Raumes, durch die wahrgenommene Ver­hält­nisse in der Musik sicht­bar wer­den. So lässt sich am Tanz der Kinder nahezu ‚able­sen‘, dass die Musik zu Beginn des Stück­es um immer mehr Klang­far­ben und Stim­men reich­er, immer dichter wird. Adäquat dazu stoßen nach und nach (nach jew­eils acht Tak­ten) immer mehr Kinder zur tanzen­den Gruppe hinzu (…).“ (Unger-Rudroff 2020, S. 352)

„Ver­ste­hen begin­nt nicht erst da, wo mit konkreten musikalis­chen Wort­be­grif­f­en umge­gan­gen wird. Ver­ste­hen set­zt vielmehr bere­its da an, wo die eigene Wahrnehmung von Sinn und Struk­tur in der Musik zum (vor­sprach­lichen) Aus­druck (…) gebracht wird“ (ebd., S. 356). Dies hebt die Ver­fasserin daher berechtigter­weise her­vor und ver­säumt nicht, darauf hinzuweisen, dass im Musikun­ter­richt auch ver­bal­sprach­lich reflek­tierend an der­ar­tige Momente angeschlossen wer­den kann, um den ohne­hin nie enden­den Ver­ste­hensvor­gang weit­er anz­u­fachen und die musikalis­che Begriffs­bil­dung anzure­gen. Ihre Ein­sicht­en über die vor­sprach­lich-sinnliche Erken­nt­niskraft von Bewe­gung zur Musik hätte Unger-Rudroff an dieser Stelle auch im beste­hen­den Leib-Diskurs der Musikpäd­a­gogik verorten kön­nen, so erweist sich ja beispiel­sweise auch für Christoph Stange, rekur­ri­erend auf Pierre Bour­dieu, der Kör­p­er „als Ver­ste­hen­der, und das in ein­er Weise, die sich der Sprach­lichkeit (ohne sie auszuschließen) häu­fig entzieht, die dafür aber unab­d­ing­bar Sinnlichkeit ein­schließt“ (2017, S. 84).

Geschickt zeigt Unger-Rudroff im Laufe ihrer Aus­führun­gen die Poten­ziale der leib­lichen Auseinan­der­set­zung mit der Musik auf. Es sei nochmals ein bewe­gungs­be­zo­gen­er Gedanke der Autorin zitiert, immer­hin liegt ihr Haup­tau­gen­merk ja auf dem The­ma Bewe­gung und Musikver­ste­hen, wobei sie dur­chaus auch die von den Kindern ver­fassten Geschicht­en unter­sucht (auf ein Einge­hen auf die medi­ale Trans­for­ma­tion in Bild verzichtet sie in ihren Auswer­tun­gen allerd­ings):

„Der von ihnen [den Kindern] zur Musik entwick­elte Tanz zeigt Struk­turen, Sin­nge­bilde, Gestal­ten, dynamis­che Entwick­lun­gen, Stim­mungen (somit ver­mut­lich indi­rekt Klang­far­ben) und Ver­hält­nisse der ver­schieden­sten Art (wie beispiel­sweise das Ver­hält­nis der Einzel­stim­men zueinan­der oder unter­schiedliche Nuan­cen, die sich im Span­nungs­feld zwis­chen den ‚leis­es­ten‘ und den ‚lautesten‘ Momenten her­aus­bilden) wie auch den zeitlichen Ver­lauf an sich, durch das Einan­der­fol­gen in Schlän­gellini­nen oder in Kre­is­for­men.“ (Unger-Rudroff 2020, S. 354)

Nicht bloß gegen Ende ihrer Dar­legun­gen arbeit­et Unger-Rudroff her­aus, wie sehr die musik­be­glei­t­ende Kör­per­be­we­gung dabei hil­ft, sich auf die Musik einzu­lassen, sich ihr ver­ste­hend zuzuwen­den bzw. ger­adezu mit ihr zu ver­schmelzen. In solchen frucht­baren Momenten der Leib­lichkeit kön­nen Musikver­ste­hen und musikalis­che Begriffs­bil­dung ihren Aus­gang nehmen. Die Ver­fasserin schlussfol­gert wesens­forschend,

„dass sich Ler­nen und Ver­ste­hen in einem Sich-ins-Ver­hält­nis-Set­zen zum unter­sucht­en Phänomen vol­lziehen. Der phänom­e­nol­o­gis­che Blick auf die Bewe­gung und das eigen­leib­liche Spüren hat aufgezeigt, dass die Bewe­gung ins­beson­dere dazu geeignet ist, sich ver­ste­hend in Phänomene zu ver­tiefen. Denn in der Bewe­gung stellen wir durch unser Kör­perkonzept einen direk­ten räum­lichen Bezug zum unter­sucht­en Objekt her. Die wahrgenommene musikalis­che Bewe­gung wird als die eigene emp­fun­den. Dies ist möglich, weil es zum Wesen der Musik gehört, Bewe­gung zu sug­gerieren. Musikalis­che Ver­läufe und Struk­turen wer­den ‚am eige­nen Leib‘ gespürt. Voraus­set­zung dafür ist ein Sichein­lassen auf die Musik. Da es sich nach phänom­e­nol­o­gis­chem Ver­ständ­nis bei der Bewe­gung zur Musik nicht nur um eine konkret aus­ge­führte Bewe­gung, son­dern auch um eine vorgestellte Bewe­gung beziehungsweise um den Mitvol­lzug der musikalis­chen Bewe­gung als Bewe­gung, dem musikalis­chen Denken als Bewe­gung han­delt, ist davon auszuge­hen, dass sich bei den Kindern, die sich zum Orgel­stück bewe­gen, inner­lich noch viel mehr bewegt, als äußer­lich sicht­bar wird.“ (ebd., S. 384)

In ihrem Aus­blick weist Unger-Rudroff deshalb schlussendlich darauf hin, dass der Ein­bezug von Bewe­gung für den Musikun­ter­richt der Grund­schule eine sin­nvolle und notwendi­ge päd­a­gogis­che Auf­gabe ist. Es muss jedoch fest­ge­hal­ten wer­den, dass Unger-Rudroffs Aus­führun­gen und Erken­nt­nisse den Grund­schul­bere­ich deut­lichst tran­szendieren und generell mit fundiertem Vorge­hen für eine leib­liche Musikver­mit­tlung wer­ben. Über die Sekun­darstufe hin­aus bis zur Arbeit mit Erwach­se­nen lassen sich ihre leibphänom­e­nol­o­gisch-musikpäd­a­gogis­chen Her­leitun­gen und Beobach­tun­gen als The­o­riefun­da­ment eines leib­lichen Musik­ler­nens, welch­es mit der Bewe­gung zur Musik eine gewinnbrin­gende und Musikver­ständ­nis fördernde Umgangsweise mit der Musik bietet, betra­cht­en. Dies dürfte klar wer­den, wenn man diese empfehlenswerte Schrift als Lek­türe zur Hand nimmt.

 

Lit­er­atur

Brand­stät­ter, Ursu­la: Erken­nt­nis durch Kun­st. The­o­rie und Prax­is der ästhetis­chen Trans­for­ma­tion. Wien 2013.

Heß, Frauke: „Ver­ste­hen“ — ein musikpäd­a­gogis­ch­er Mythos. In: Mar­tin Kruse/ Rein­hard Schnei­der (Hg.): Musikpäd­a­gogik als Auf­gabe. Festschrift zum 65. Geburt­stag von Sieg­mund Helms. Kas­sel 2003, S. 119–135.

Krae­mer, Rudolf-Dieter: Musikpäd­a­gogik — Eine Ein­führung in das Studi­um. Augs­burg 2007.

Ober­haus, Lars/ Stange, Christoph (Hg.): Musik und Kör­p­er. Inter­diszi­plinäre Dialoge zum kör­per­lichen Erleben und Ver­ste­hen von Musik. Biele­feld 2017.

Ober­haus, Lars: Musik als Vol­lzug von Leib­lichkeit. Zur phänom­e­nol­o­gis­chen Analyse von Leib­lichkeit in musikpäd­a­gogis­ch­er Absicht. Essen 2006.

Rolle, Christian/ Wall­baum, Christo­pher: Ästhetis­ch­er Stre­it im Musikun­ter­richt. Didak­tis­che und method­is­che Über­legun­gen zu Unter­richts­ge­sprächen über Musik. In: Johannes Kirschenmann/ Christoph Richter/ Kas­par H. Spin­ner (Hg.): Reden über Kun­st. Fach­di­dak­tis­ches Forschungssym­po­sium in Lit­er­atur, Kun­st und Musik. München 2011, S. 507–535.

Rüdi­ger, Wolf­gang: Kör­per­lichkeit als Grund­di­men­sion des Musik­ler­nens. Begrün­dun­gen und Beispiele. In: Wil­fried Gruhn (Hg.): Musik­ler­nen. Bedin­gun­gen — Hand­lungs­felder — Posi­tio­nen. Inns­bruck 2018, S. 130–154.

Schatt, Peter W.: Ein­führung in die Musikpäd­a­gogik. Darm­stadt 2007.

Stange, Christoph: Denken mit den Beinen, spüren mit dem Kopf, tanzen mit der Seele. Zum Poten­zial des Kör­pers für das Ver­ste­hen von Musik. In: Lars Oberhaus/ Christoph Stange (Hg.): Musik und Kör­p­er. Inter­diszi­plinäre Dialoge zum kör­per­lichen Erleben und Ver­ste­hen von Musik. Biele­feld 2017, S. 71–89.

Unger-Rudroff, Anna: Bewe­gung und Musikver­ste­hen. Leibphänom­e­nol­o­gis­che Per­spek­tiv­en auf die musikalis­che Begriffs­bil­dung bei Kindern. Biele­feld 2020.

Vogt, Jür­gen: Der schwank­ende Boden der Lebenswelt. Phänom­e­nol­o­gis­che Musikpäd­a­gogik zwis­chen Hand­lungs­the­o­rie und Ästhetik. Würzburg 2001.

 

 


[1]  Das Titel-Zitat ist S. 147 ent­nom­men.

[2] Falls nicht anders angegeben, sind Her­vorhe­bun­gen immer im Orig­i­nal vorhan­den.

 

 

Sebas­t­ian Brand studierte Gym­nasiallehramt für die Fäch­er Musik und Englisch und pro­moviert derzeit an der Hochschule für Musik Saar mit ein­er musikpäd­a­gogis­chen Arbeit über bewe­gung­sori­en­tierte Vokal­prax­is und Stimm­bil­dung als leibbe­zo­gene Musik­di­dak­tik. Neben der Forschungstätigkeit leit­et er ver­schiedene Chöre, im Rah­men eines Lehrauf­trages an der Uni­ver­sität des Saar­lan­des u. a. den Uni­ver­sitätschor Hom­burg.

  • 29. Juni 202129. Juni 2021
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Zwischen Gebundenheit und Freiheit – Symposium „Musikalische Improvisation“ vom Zentrum für Gegenwartsmusik der HMT-Leipzig
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