Die bildkünstlerische Gestaltung bei Philipp Otto Runge. Algorithmen der Bedeutungsgebung und innere Musikalität
„Alle Kunst ist Mythe, ja diese findet ihre reine vollendete Darstellung erst in der Kunst.“[1]
Henrich Steffens, 1842
Der Aufsatz untersucht, mit welchen Mechanismen der Bedeutungsgebung Runges Bildkunstwerke die Qualität von innerer Musikalität erlangen. Diese Qualität entsteht nicht durch die Gegenständlichkeit und das Sujet seiner Bilder und auch nicht durch Eigenschaften des Bildmaterials als solchem (z. B. durch die Wahrnehmung von Bewegung, wie sie für Gemälde französischer Romantiker und Symbolisten typisch ist), sondern durch einen spezifischen Algorithmus der Bedeutungsgebung, dank dessen Runges philosophische und mythopoetische Ideen, verstanden als Signifikat (das Bezeichnete), mit Hilfe von Gestaltungsmitteln, verstanden als Signifikant (das Bezeichnende), übertragen werden. Da ein Bild (als etwas Visuelles) nicht mit einem Wort, einem Syntagma oder einer anderen grammatikalischen Einheit vergleichbar ist, erzeugt die Verknüpfung von Bildern einen Quasi-Text, ein semiotisches System, das sich vom sprachlichen System unterscheidet. Strukturell setzt sich ein Bildkunstwerk aus zwei Ebenen zusammen: erstens der semantischen Ebene, die sowohl dem künstlerischen Material immanent als auch mit der verbalen Kultur verbunden ist; zweitens dem Aspekt der Repräsentativität, die sowohl der visuellen Wahrnehmung direkt zugänglich ist und über diese geistig aufgenommen wird als sich auch außerhalb der bloßen Abbildung vollzieht, da sie ihr nicht von Natur aus unterliegt. Diese einem Hieroglyphencode gleichende Bildstruktur erwächst aus einem je neu austarierten Gleichgewicht zwischen dem Visuellen und dem Geistigen bzw. dem Manifesten und dem nur Denk- und grundsätzlich nicht Abbildbaren. Diese Nicht-Repräsentation erzeugt eine Lücke zwischen der ganzheitlichen Bedeutung des Kunstwerks (die bei Runge untrennbar eine philosophische Bedeutungsschicht einschließt) und einer visuell vermittelbaren Bedeutung. Daher ruft diese semantische Lücke eine Dialektik von semantischer Selbstidentität und einem Außer-sich-Sein des Bildkunstwerks hervor, die der Dialektik von Bedeutung in Musik nahekommt, ohne ihr doch zu gleichen.
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Philipp Otto Runge, ein Freund Ludwig Tiecks, Korrespondent Johann Wolfgang von Goethes und Bewunderer der Visionen Jacob Böhmes, ist bekannt für seine originären Ansichten über Ziele, Aufgaben und Wesen des künstlerischen Schaffens, wobei die Malerei im Kreis der anderen Künste und in Verbindung mit ihnen einen Sonderfall darstellt. Einen herausragenden Platz im Zusammenspiel der Künste nimmt nach Runges schriftlichen Äußerungen aber die Musik ein – als Katalysator einer solchen Synthese.[2] Davon überzeugt, dass die Beschäftigung mit anderen Künsten in einem Maler schöpferische Kräfte freisetzen werde, besuchte Runge gerne Konzerte (so während seiner Jahre in Kopenhagen) und nahm Musikunterricht (in Dresden bei Ludwig Berger, dem späteren Klavierlehrer Felix Mendelssohn Bartholdys). Darüber hinaus war er fasziniert von den theoretischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Farbenmusik, welche er als „Verwandtschaft von visuellen und auditiven Phänomenen“ betrachtete.[3]
Die Person Runges, seine Ideen und seine Kunst hatten schon zu seinen Lebzeiten für Aufmerksamkeit gesorgt und waren zum Gegenstand von Studien geworden, beispielsweise in den Texten von Henrich Steffens und Joseph Görres. Forschungen zu Runge und zum Kontext seines Schaffens können in folgende Bereiche unterteilt werden: Erstens Sammlungen von Daten zu Runges Leben, Untersuchungen zu seiner Persönlichkeit und Inventarisierung seines Nachlasses, einschließlich des literarischen und der Korrespondenz;[4] zweitens Analysen von Runges philosophisch-ästhetischen Ansichten und Eruierung von deren Quellen, oft im Kontext der romantischen Weltanschauung und allgemeiner kultureller Tendenzen der Epoche, insbesondere die Charakterisierung der wichtigsten von Runge selbst artikulierten Konzepte zur Gestaltung und zur Aussage seiner Werke (die Konzepte der Arabeske und der Hieroglyphen nehmen hier einen besonderen Platz ein);[5] drittens hermeneutisch orientierte Studien zu figurativen Schemata in Runges bildkünstlerischem Werk, meist ikonologischen Analysen verwandt und am häufigsten anhand von Runges Tageszeiten vorgenommen, einer Art von schöpferischem Testament;[6] viertens Untersuchungen zu der für Friedrich Schellings Richtung der Ästhetik[7] zentralen Frage nach den Beziehungen der Künste untereinander, in Bezug auf Runges künstlerisches Universum meist festgehalten mit der Metapher der ‚musikalischen Landschaft‘;[8] fünftens Analyse der Musikalität von Runges Malerei als einer Eigenschaft, die sich aus dem Weltgefühl des Künstlers ergibt, seinem Verständnis des semantischen und expressiven Potenzials von Linie und Farbe.[9] Die im vorliegenden Aufsatz in den Fokus gestellte semiologische Perspektive auf die Musikalität von Runges künstlerischer Welt, nämlich die Untersuchung der Bildgestaltung als quasimusikalischer Generierung von Bedeutung, ist jedoch noch nicht Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit gewesen.[10]
Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, jene Prinzipien herauszufiltern, mit denen Runge seine Bildkunst so gestaltet, dass eine besondere Ausprägung von innerer Musikalität seiner Bilder entsteht, und zugleich aufzuzeigen, wie sich diese von Arten der Musikalität in räumlichen Künsten (wie der Malerei, der Skulptur und der Architektur) unterscheidet. Während die Quelle und der Garant bildkünstlerischer Musikalität vielfach durch eine Verkörperung von Bewegung im künstlerischen Material hervorgerufen wird (und dementsprechend in deren Wahrnehmung),[11] so wird die Musikalität von Runges Kunst von einer eigentümlichen semantischen Organisation des Bildkunstwerks ausgelöst.
Die in Runges Zeichnungen und Gemälden realisierten Algorithmen der Bedeutungsgebung, welche zu ihrer inneren Musikalität führen, hängen von zwei Faktoren ab:
1) davon, dass überhaupt die Chance ergriffen wird, verschiedene Kunstarten zu verbinden, sowie von der konkreten Art und Weise, in der das geschieht;
2) von der Art und Weise, wie ein Bildkunstwerk entsteht, und von den Besonderheiten seiner semantischen und expressiven Gestaltung.
Tatsächlich verwirklicht Runge eine eigene Version der Kunstsynthese um, sie beruht auf seiner Vorstellung von einer „inneren Musik“, die den auf „Worten“, „Linien“ und „Farben“ basierenden Künsten innewohnt. Diese innere Musik versteht er als auch anderen Künsten immanente Qualität, die er als „Harmonie und Ruhe“ (Runges Hinterlassene Schriften[12]) charakterisiert.[13] „So muss in einer schönen Dichtung durch Worte Musik seyn“,[14] schreibt er. In Volksmärchen verwirkliche sich Harmonie als Übereinstimmung des Charakters eines Dialekts, der Laute der Wörter und der Grammatik mit dem Geist und dem Inhalt des Textes.[15] Für Karl Privat verrät sich „Runges Ausdruckskraft im Medium der Sprache“ durch die „musikalisch-rhythmische Abwandlung der Motive, die Transparenz der Erzählung“,[16] wie er mit Bezug auf Runges im Niederdeutschen verfasste Erzählungen Von dem Machandelboom sowie Von dem Fischer un syner Fru formuliert. Bemerkenswert ist zudem die Fülle an musikalischen Metaphern in den Briefen des Künstlers selbst.[17] Élisabeth Décultot befindet sogar, dass Musik für Runge „zum Paradigma der künstlerischen Schöpfung überhaupt“ geworden sei.[18]
Betrachten wir nun genauer, was die einzelnen Phasen der Bedeutungsgebung bei Runge ausmacht und welche Faktoren zur Musikalität der Semiose seines künstlerischen Universums führen.
- Die vorkompositorische Phase der Entstehung des Werks
Die vorkompositorische Phase ist mit einem Komplex von Erfahrungen, Gefühlen und Aspekten der Weltanschauung verbunden, die den Gesamtcharakter von Runges künstlerischen Äußerungen bestimmen und semantische Strategien für dessen Verkörperung in der Materie vorgeben. Diese Phase ist von einem religiösen und mystischen Gefühl von Harmonie und der Einheit aller Phänomene des Universums geprägt. Jenes Gefühl geht auf Runges Pantheismus und seine Faszination für die Gedankenwelt und die Visionen Jakob Böhmes zurück.[19] Es ist nicht gleichbedeutend mit religiöser Leidenschaft, sondern das Ergebnis einer mystischen, intensiven Erfahrung des Transzendenten. Vielleicht am treffendsten wurde Runges Weltgefühl von Steffens charakterisiert: „Alle seine Gedanken, dichterische wie künstlerische, bewegten sich in einer höhern geistigen Welt, in welcher er lebte, und aus welcher jede Aeußerung entsprang“.[20] In Fortführung von Steffens’ Formulierung könnte man sagen, dass sich Runges geistige Welt in seinen Werken in Gestalt eines „tiefe[n] verborgene[n] Sinn[s]“[21] verwirklicht hat, der für den tief religiösen[22] und mystisch affizierten Meister zum Ausdruck eines höheren eigentümlichen Sinns des Universums – bis hin zur Verschmelzung mit ihm – wurde. Das mystische Gefühl wurde durch das Erleben des Wesens und der Seele der Natur geweckt, die ein Teilchen Gottes in sich trage oder sogar eins mit ihm sei. Runges Naturauffassung könnte durch Ideen Spinozas beeinflusst worden sein, die im Dresdner Kreis (um Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck und Novalis sowie unter Malern neben Runge auch Caspar David Friedrich) und später auch in Hamburg rege diskutiert wurden.[23]
Runge hat sein Weltgefühl ganz bewusst in seine Werke hineinprojiziert; diese sollten die Explikation von Ideen über die Welt, über den Sinn des Seins und über die Natur von dessen Entfaltung in der Welt der Erscheinung sein und als solche dem Betrachter in der Kontemplation vor Augen gestellt werden.[24]
In gewisser Hinsicht schafft eine solche Explikation, die in Gestalt eines künstlerischen Systems präsentiert wird, eine neue Welt und mythologisiert die Wirklichkeit. „Hier aber glaubte ich das Mythen erzeugende Organ inmitten einer kalt reflectirten Zeit unmittelbar wahrzunehmen“,[25] bemerkt Steffens über Runge. In diesem Vorgang der Erzeugung einer neuen Welt, die mit der wahrgenommenen Wirklichkeit korreliert, aber nicht mit ihr identisch ist, kommt der Künstler nicht umhin, auf die schöpferische Kraft der Imagination und Fantasie zuzugreifen, die seinem ihm ganz eigentümlichen Inneren entspringt. Steffens:
„Es gibt keinen Künstler der neueren Zeit, der sich so unbedingt seiner reichen Phantasie hingab, und bei dem ersten Anblicke scheinen seine Produkte mehr einem willkürlichen Traume ähnlich, in welchem alle bestimmten Gestalten sich durch unsichere Verwandlungen in das Gestaltlose hineintauchen und zu verschwinden drohen.“[26]
Zu Runges schöpferischer Strategie macht Steffens hier eine wichtige Beobachtung: Selbst wo die Bilder der Wirklichkeit entlehnt und ihre Gestalten ursprünglich fest umrissen sind, werden sie so weit transformiert, dass ihre Konturen verschwimmen, wobei diese Verwandlungen die Qualität von Unbestimmtheit gewinnen, und zwar dadurch, dass ihre eigene Bestimmung sowohl als Bedeutung (semantische Nicht-Teleologie) wie auch als Struktur (konstruktive Nicht-Teleologie) diffundieren. Eine mit Eigenwert ausgestattete Farbe und die von der Form emanzipierte Arabeske dienen dieser Nicht-Teleologie (auf die später näher eingegangen wird) als Mittel und Indikatoren. Die logische Grenze einer solchen Nicht-Teleologie ist die völlige Auflösung der ursprünglichen Strukturen. Die künstlerische Grenze der erwähnten Verwandlungen führt jedoch nicht zum Nichts als völliger Negation von Bedeutung und Struktur, sondern zur Kategorie der Unendlichkeit als dem Gegenteil des Nichts, was nicht die Auslöschung von Bedeutung, wohl aber jegliche nur mögliche Bedeutung, nicht die Auslöschung von Struktur, aber jegliche Projektion von Struktur auf etwas anderes impliziert.
Diese Potenzierung der Unendlichkeit ist genau das, was die Musikalität von Runges Bedeutungssystem bereits im vorkompositorischen Stadium des Gefühls ausmacht: In den Augen der Romantiker ist es unter allen Künsten die Musik, die aufgrund ihres nicht-mimetischen Charakters und dementsprechend der Möglichkeit, sich von der realen, objektiven, zeitlich und räumlich begrenzten Welt zu lösen, eine Vorstellung von der Idee der Unendlichkeit geben kann. Eine Art Credo in dieser Hinsicht ist E. T. A. Hoffmanns berühmter Ausspruch über Musik: „Sie ist die romantischste aller Künste, beinahe möchte man sagen, allein ächt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf.“[27]
Hoffmann bezog sich auf die Instrumentalmusik Mozarts und Beethovens, also auf jene Musik, die für „rein“ gehalten wurde:[28] „Reine“, d. h. instrumentale Musik war für Hoffmann das beziehungsreichste, fantasievollste und freieste Medium ihrer Zeit, wie E. T. A. Hoffmann in seinem für die Musikkritik bahnbrechenden Aufsatz Beethovens Instrumentalmusik von 1813, befand. In der Tat hat Musik nicht nötig, Eindrücke der umgebenden Welt in klangliche Äquivalente zu „übersetzen“, sie sei in höchstem Maße fähig, mit jenen Bedeutungen in Beziehung zu treten, die nicht dieser Welt angehören, also transzendent zu ihr sind: Instrumentalmusik verkörpere das neue Ideal der reinen Transzendenz.[29] Wie sich die Haltung zur Instrumentalmusik – vom Zweifel an ihrem Wert, der auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Begründungen in Platons Nomoi, in den Urteilen des heiligen Hieronymus und des heiligen Thomas von Aquin, im Dialogo von Vincenzo Galilei usw. zum Ausdruck kam, bis hin zur allmählichen Anerkennung der ihr innewohnenden Ausdrucksmöglichkeiten – im Laufe der Zeit in ihr Gegenteil verkehrte, hat Mark Evan Bonds so zusammengefasst: Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sei die Vorstellung, Instrumentalmusik sei von Natur aus der Vokalmusik unterlegen, die gängige Auffassung geblieben. Erst zu dieser Zeit seien manche Kritiker und Philosophen zu der Auffassung gelangt, dass die Freiheit der Instrumentalmusik von den Zwängen der Sprache und von der Mimesis sie sogar zu einer überlegenen Ausdrucksform machen könne. Mittlerweile war Instrumentalmusik ins Zentrum von Diskussionen über das Wesen der Kunst gerückt. Unterstützend wirkte dabei die neue Auffassung, dass Musik – und nun zum ersten Mal im spezifischen Sinne von Instrumentalmusik – eine eigenständige Sprache darstelle, eine Sprache, die in der Lage sei, Gefühle in einer Weise zum Ausdruck zu bringen, wie es die herkömmliche Sprache nicht vermöge.[30]
Die Freiheit von der Darstellung, die dem Wesen der Musik innewohnt und die folglich dieser Kunst nur die Möglichkeit übriglässt, programmatisch oder imitierend zu sein, ist nicht zu bestreiten. Viel schwieriger ist die Frage nach der Freiheit von den Zwängen der Sprache: Denn selbst als eigenständige Sprache muss sich die „reine Musik“, um überhaupt mit der „gewöhnlichen“ Sprache verglichen werden zu können, deren Organisationsprinzipien zu eigen machen. Diese sind: 1) das Vorhandensein von artikulierten Elementen, die als Seme (semantische und konstruktive Einheiten) ähnlich wie Morpheme und/oder Wörter funktionieren; 2) die Ähnlichkeit der intonatorischen und lautlichen Struktur dieser Elemente mit der Struktur ihrer sprachlichen Korrelate (Silben usw.); 3) die Verwendung von Mitteln zur Verbindung der Elemente (harmonischen, metrisch-rhythmischen usw.), die es ermöglichen, Syntagmata und größere quasi syntaktische Ganzheiten zu bilden.
Die zweite Bedingung ist natürlich fakultativ: Musikalische Elemente müssen nicht strukturell denen der Sprache entsprechen (und das Beispiel der Musik des 20. Jahrhunderts macht dies besonders deutlich), aber wenn die anderen Bedingungen nicht erfüllt sind, werden jene Kohärenz und Systematik nicht erreicht, die notwendig sind, damit Musik als Korrelat von Sprache und vermöge dessen ein konkretes musikalisches Werk als Korrelat von Text fungieren kann. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass Runge bereits im Stadium der Übertragung visuell wahrgenommener Formen in seine künstlerische Welt – offenbar intuitiv – auf diese Notwendigkeit fokussiert war. Die Idee von Musik als einer Sprache, die Erfahrungen und Gefühle ausdrückt (obwohl auch hier das Problem des Zusammenhangs von musikalischem Material und der außermusikalischen Komponente bildkünstlerischer Bedeutung besteht[31]), ist jedoch im vorkompositorischen Stadium völlig ungeeignet für Konzepte wie das mystische Gefühl für die Göttlichkeit der Welt oder ein Gefühl von Unendlichkeit. Wenn die Prinzipien der Vermittlung bestimmter Gefühle durch Musik mit der Angleichung der Laut- und Intonationsstruktur der Sprache an den entsprechenden emotionalen modus operandi gebunden wären,[32] wie könnte man dann diese – wenn auch teilweise konventionelle – Entsprechung bei der Wiedergabe solcher Zustände (nicht einmal von Gefühlen) erreichen, die auf sehr unterschiedliche Weise ausgedrückt werden, bis hin zu ihrem Gegenteil?[33] Denn sie sind komplexer als jedes Gefühl, eher sind sie Anmutungen höherer Ordnung. Die mit dem Transzendenten korrelierten Zustände und Gefühle erweisen sich als sprachlich oder quasi-sprachlich unaussprechlich. Damit ist klar, dass in dem Stadium des Gefühls als mythopoetischer Sinn für die Göttlichkeit des Universums eine sprachähnlich funktionierende Musik nicht „die innere Musik“ ist, an die Runge als Grundlage aller Künste dachte und die als immanenter Bestandteil der künstlerischen Konzeption wirkt. Die innere Musik ist offenbar nicht als Kommunikationsmittel, nicht als Mittel der Übersetzung und Verdeutlichung gedacht. Und obwohl die Fähigkeit der Instrumentalmusik, eher zu suggerieren als zu erklären, schließlich zu einem Eckpfeiler der frühromantischen Ästhetik werden sollte, wie Bonds bemerkt,[34] ist der Kern selbst dieser Möglichkeit der Suggestion die Lesbarkeit von Intonationsstrukturen, ihre potentielle Konvertierbarkeit in Sprachelemente.
Runges innere Musik ist grundsätzlich unhörbar (sonst wäre sie nicht „innen“) und nicht „sprechend“. Sie gleicht eher der Musik des Pythagoras:[35] einer numerischen Matrix, die dem Universum Struktur verleiht. Die Prinzipien der Symmetrie (Reflexions-, Translations- und – sehr selten – Ähnlichkeitssymmetrie[36]) und der Proportionalität, deren Wirkung in allen Werken Runges[37] unmittelbar sichtbar wird, wurden von ihm entwickelt, um sein künstlerisches Universum zu ordnen und in ihm die Konzepte von „Harmonie und Ruhe“ zu verwirklichen, die durch das Vorhandensein der „inneren Musik“ selbst bestimmt werden.[38] Während jedoch die pythagoreische Sphärenmusik von der reinen Vernunft erfasst wird und nicht vom Empfindungsvermögen, ist die „numerische“ Struktur von Runges Gemälden auf die visuelle Wahrnehmung gerichtet, d. h. die Präsenz der „inneren Musik“ wird durch eine räumliche Architektur ausgedrückt, die freilich der zeitlichen Natur realer, hörbarer Musik widerspricht, indes vollständig der Natur der unhörbaren, in der Ewigkeit ruhenden Musik im pythagoreisch-platonischen Ordnungskosmos entspricht. Die unhörbare „innere Musik“ als Struktur und Prinzip des geordneten und wohlproportionierten Daseins der Welt, einschließlich der künstlerischen Welt, ist kein Prozess, sondern ein Zustand, der die Selbstidentität dieses Daseins und die Immanenz von „Harmonie und Ruhe“ als ideale strukturelle Ausgewogenheit und als Gleichgewicht garantiert. In dieser Hinsicht war Runges „innere Musik“ als mystisches Weltgefühl tatsächlich absolut – auch wenn dieses Konzept erst mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod auftauchte.[39] Bei Runge fielen die Termini ‚musikalisch‘ und ‚mystisch‘ in eins.[40]
Indessen hat Runge, wie Cordula Grewe zu Recht feststellt, die Faszination seiner Zeit für die absolute Musik in eine visuelle Form übersetzt.[41] Neben der impliziten geometrischen Struktur des künstlerischen Raumes wird die pure Existenz des Bildkunstwerks durch die Eigenschaften seines künstlerischen Materials bestimmt. Und diese sind in Runges künstlerischer Welt so beschaffen, dass sie, für sich genommen, ein ganz anderes Verständnis von „innerer Musik“ erfordern. Oder, etwas anders ausgedrückt: Sie sind einer „inneren Musik“ anderer Art inhärent, nicht als räumliches Verbleiben, sondern als sein Gegenteil – als temporalisiertes (nicht wirklich zeitliches, weil in der Malerei nicht zu erreichendes) Werden.
Runge blieb nicht die Zeit, diese Synthese (zwischen den Aspekten Mimesis/Abstraktion und Allegorie/Symbol) zu erreichen, und die damit verbundenen Schwierigkeiten zeigen sich in den beiden Interpretationen der „inneren Musik“, der raum- wie auch der zeitbezogenen. Während Architektonik der Musik eine „Spur“ der Materialentwicklung in der Dauer darstellt, sodass die architektonischen und die prozessualen Aspekte miteinander verbunden zu sein scheinen, existieren bei Runge die geometrische Struktur als „Zahl“ und die Entfaltung des Bildmaterials auf zwei verschiedenen semantischen Ebenen. Manchmal sind sie miteinander verbunden (so kann z. B. die Arabeske von einer mimetischen Form abgeleitet werden wie im inneren Feld jeder der Figuren in Die Tageszeiten; kann wiederum ganz frei sein wie in Die Freuden der Jagd), bisweilen aber auch nahezu isoliert (wie im Fall der Farbmodulation auf dem Rahmen von Der kleine Morgen oder im Bildraum von Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten).[42]
Die innere Musik | Die ‚hörbare‘ (sichtbare) Musik |
Struktureller Modus der Ruhe (Statik) | Struktureller Modus der Entwicklung (Dynamik) |
Symmetrie (Spiegel-, Translationssymmetrie) als architektonisches Prinzip | Kontinuierliche, „reine“ Ausbildung der arabesken Linie und „koloristische Modulation“ als Prinzip des Ablaufs |
Artikulation der Formen – Elemente, aus denen symmetrische Strukturen entstehen | Künstlerisches Material an sich, ohne seine Artikulation und Aufteilung in Komponenten |
Mimesis als primäre Grundlage der visuellen Formen (und als Ergon für die Abstraktion, und umgekehrt) | Abstraktion als Grundlage der visuellen Formen (und als Parergon für mimetische Formen, und umgekehrt) |
Die Idee der Zahl[43] als geometrische Grundlage des künstlerischen Raums | Die Idee der substantiellen Undifferenziertheit |
In letzterem Fall erweist sich der Versuch einer Umsetzung in Material als potentiell unendlich: Tatsächlich ist der Rahmen der Zeichnungen für Arabesken zu eng, und in Ölgemälden überschreitet die Farbmodulation die Grenze des bildkünstlerischen Raums. Aber selbst unter Absehung von der architektonisch-figurativen Gestaltung bildet dieses eigenwertige, nahezu unabhängige Werden des Materials, das quasi „le supplément“ (nach Derrida) zu ihr bildet und als Ablagerung auf ihm erscheint, mit ihm eine zweischichtige räumliche und semantische Matrix. Deren Wahrnehmung führt zu einem „Flimmern“ dieser „Schichten“ – zwischen stabiler „Zahl“ und beweglichem „Material“, zwischen Sein und Werden, zwischen der Absicht, Ruhe aufrecht zu erhalten, und dem Streben nach immerwährender Erneuerung von Struktur und Bedeutung. Die Idee der Musik als Zahl, die die Proportionen des Universums widerspiegelt, und die Idee der Musik als Streben gen Unendlichkeit haben einen Schnittpunkt darin, dass beide darauf abzielen, das Gefühl der höheren Harmonie des Universums zu hervorzurufen, welches als Makrokosmos im Mikrokosmos der Harmonie der Kunstwelt widergespiegelt.
- Die Phase der Auswahl von Gestalten der umgebenden Welt
Die erste Stufe der praktischen bildkünstlerischen Verwirklichung einer Idee ist bei Runge mit zwei Strategien der Kommunikation mit der Naturwelt und – soweit möglich – der direkten Wahrnehmung verbunden. Beide Strategien haben die Mimesis als Kern. Die erste hat mit der Entlehnung von Naturbildern in ihrem gegenwärtigen Vorhandensein und vor allem in ihrer Form zu tun; das ist jene Komponente der zukünftigen semantischen Struktur des Werkes, die Steffens „die Bilder“[44] nennt. Die zweite betrifft die Entlehnung der qualitativen Seite der visuell wahrgenommenen Welt, vor allem der Farbe.
Unter dem Aspekt ‚Form‘ wählt Runge solche Elemente aus, die erstens mit einem Potential zum Wachstum und zur Selbstproduktion, zur Entwicklung, zur Verwandlung des ursprünglichen Musters und der Verwirklichung ihres immanenten Sinns in dieser Verwandlung (Wurzel – Spross – Stamm usw.) ausgestattet sind, und die zweitens in höchstem Maße den Gesetzen der Schönheit als Verhältnismäßigkeit (entsprechend der Idee „numerischer Harmonie“) unterliegen.
Runge findet eine solche Form in der Natur: Es ist die Pflanze bzw. die Blume, die freilich nicht Runge allein, sondern auch vielen Philosophen als höchster Ausdruck des ästhetischen Prinzips der Einheit in der Vielfalt erschien.[45] Runge betrachtete das „Gewächs“ als Modell und nannte es „Totalform“.[46] Bereits im Stadium der uneigennützigen Betrachtung und reinen Wahrnehmung der Gegenstandsformen erblickte er in ihm ein Abstraktionspotential, und in dieser Vision mag die Möglichkeit einer Synthese von Mimesis und Freiheit von ihr angelegt sein, die der Künstler sowohl wegen seines frühen Todes als auch aufgrund der Gebundenheit an den Stil seiner Zeit nicht verwirklichen konnte. Damit wird deutlich, dass das vorkompositorische Stadium, auch wenn es im komplexen Prozess der Bedeutungsgebung keinen eigenständigen Wert hat, nicht vernachlässigt werden darf: Es bestimmt bereits den Charakter und den konkreten Inhalt dieser Erzeugung von Bedeutung. Runges besonderer Weltwahrnehmung verdankt sich, dass die visuell wahrgenommenen Formen, wenn er sie in Komponenten des künstlerischen Raums „übersetzt“, deutlich stilisiert und geometrisiert werden, sodass sie als Zeichen dienen können, womit ihr gewissermaßen „hieroglyphischer“ Charakter zustande kommt (denn ihrer Natur nach ist eine Hieroglyphe ein stilisiertes Bild).
Die Blume bietet Runge auch die Idee der Farbe als reiner Qualitativität und die Idee der Emanzipation der Farbe von der Materie, eine Vorstellung, die, wie im Fall der Geometrisierung der Form, zu einer Dialektik von Mimesis und Abstraktion führt. Ramos[47] zufolge erscheint die Blüte schon in Runges ersten Überlegungen zur Landschaft nicht nur als bedeutsam, wenn sie mit einer menschlichen Figur verbunden ist, sondern sie wirkt auch als Initiator des Phänomens Farbe:
Die Freude, die wir an den Blumen haben, das ist noch ordentlich vom Paradiese her. So verbinden wir innerlich immer einen Sinn mit der Blume, also eine menschliche Gestalt, und das ist erst die rechte Blume, die wir mit unsrer Freude meynen. Wenn wir so in der ganzen Natur nur unser Leben sehen, so ist es klar, daß dann erst die rechte Landschaft entstehen muß, als völlig entgegengesetzt der menschlichen, oder historischen Composition. Die Blumen, Bäume und Gestalten werden uns dann aufgehen und wir haben einen Schritt näher zur Farbe gethan! Die Farbe ist die lezte Kunst und die uns noch immer mystisch ist und bleiben muß, die wir auf eine wunderlich ahnende Weise wieder nur in den Blumen verstehen.[48]
Im weiteren Verlauf des Briefes konvergiert dieser Verweis auf die Blumenwelt Ramos zufolge mit einer christlichen Lesart der natürlichen Farben, des Lichts und der Dunkelheit.
Diese Auffassung pflanzlicher Formen als primärer Formen der Bedeutungsgebung im künstlerischen Universum brachte Runge auf den Gedanken, dass die Zukunft im Genre der Landschaftsmalerei liege und nicht in der Historienmalerei, die unwiderruflich mit der Vergangenheit verblasse.[49] August Wilhelm Schlegel – mit dem Runge bekannt war[50] – bezeichnete die Landschaft als das „musikalische Theil“ der Malerei. In ähnlicher Weise taucht das Thema der Landschaft in Ludwig Tiecks Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) auf, in dem Musik als „erste“ Kunst betrachtet wird und mit dessen Helden sich Runge sogar identifizierte.[51] Maria Arfini weist darauf hin, dass der Roman den Zusammenhang von Landschaft und Musik in einer Weise darstellt, die die deutschen Landschaftsmaler des frühen 19. Jahrhunderts stark beeinflusste.[52] Die Vorstellung, die musikalische Landschaft besitze eine eigene innere Stimme, die man wiederum durch inneres Hören erfassen könne, war bei deutschen Literaten und Dichtern um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verbreitet: Sie findet sich beispielsweise in Friedrich Heinrich Jacobis Eduard Allwills Briefsammlung (1775–1792), Wilhelm Heinses Ardinghello, oder die glückseeligen Inseln (1787) oder in Jean Paul Friedrich Richters Leben des Quintus Fixlein (1795).[53] In der Rezension Über Matthissons Gedichte (1794) spricht Friedrich Schiller von der Landschaftsmalerei als einem ‚Seelengemälde‘ und vergleicht sie mit einer musikalischen Komposition.[54]
Für Runge glich die visuelle Wahrnehmung eines „Seelenmalers“ [Terminus Schillers] einer „inneren Stimme“, einer Art innerem Augenlicht. Sie erlaube es, die Welt als reine Verbindung von Farben, Linien und Formen aufzufassen. Die Verbindung von Musik und Landschaft veranschaulicht somit die in der romantischen Landschaftsästhetik vorherrschende Äquivokation zwischen gegenständlichen und abstrakten Funktionen.[55] Diese Spannung zwischen der Anrufung von Abwesenheit und der Repräsentation von Natur ist Alice Kuzniar zufolge typisch für jene Ambivalenzen, die man in der deutschen romantischen Landschaftsästhetik antrifft. Für die Romantiker sei die ideale Landschaftsmalerei die auf die Abwesenheit des Abgebildeten verweisende leere Leinwand gewesen. Und daher hätten die Romantiker die Landschaft wiederholt mit der Musik als ungegenständlicher Kunst verglichen. Der Sinn der Abwesenheit sei das Streben nach dem Zeichen als abwesender Struktur oder, genauer gesagt, die Gleichsetzung von Zeichen und abwesender Struktur. Die Ablösung der Mimesis von der Wahrnehmung führe zur Absehung von dinglichen Eigenschaften.[56]
Natürlich setzt die „reine Wahrnehmung“ (um eine Formulierung von Erwin Panofsky zu wählen) einerseits ein gewissermaßen primäres Erfassen von Form und Farbe ohne vermittelnde Reflexion voraus. Andererseits darf sie keineswegs zur Trennung der Form vom Material – eine Umwandlung in eine reine strukturelle Abstraktion – und der Farbe vom Material – eine Umwandlung in reine, „substanzielle“ Farbe – führen. In dieser Hinsicht ist Runges visuelle Strategie etwas Besonderes: Sie ähnelt der Strategie bei der Wahrnehmung eines Musikstücks, weil die architektonischen Beziehungen (als „werdende Zahl“) und die Entwicklung des Materials selbst den Gegenstand der ästhetischen Erfahrung bilden. Runge schrieb an Tieck: „Das ausgesprochene Licht und Leben theilt sich schon durch’s Aussprechen in drey, in der Mathematik, in Farben, und in Worten; in der Musik fließen Linien, Worte und Farben zusammen“.[57] Hätte Runge zu einer anderen, späteren Zeit gelebt, hätte er wohl tatsächlich die primäre Wirkung der Wahrnehmung als rein qualitativ verstanden: die Farbe um der Farbe, die Linie um der Linie und die Form um der Form willen. Dann hätten die von ihm gezogenen Analogien zwischen Farbe und Ton vielleicht zur Schaffung eines Gesamtkunstwerks von jener Art führen können, wie es etwa Wassily Kandinsky gewagt hat. Diese Richtung der bildenden Kunst wurde bereits intensiv erforscht.[58] Ein solcher Weg war für Runge zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht möglich. Verfolgt man seine Haltung indes hypothetisch weiter, so wird deutlich, dass sie sowohl zur Nivellierung der gesamten Dialektik von „Strukturmusik“ und „Materialmusik“ als auch zum semantischen „Flimmern“ von Symbol und Allegorie und zur Balance an der Grenze zwischen Mimesis und Abstraktion geführt hätte, die es der Musik erlaubt, ein metonymischer Ersatz für „das Wort“ zu werden, indem sie sowohl die philosophische als auch die künstlerische Bedeutung von „Bildern“ offenbart.
- Die geistige Vermittlung des Wahrgenommenen
Runge sei ja einfach davon ausgegangen, dass jedes wahre Kunstwerk einer weiteren verbalen Erläuterung bedarf,[59] so sagt es Grewe kurz und bündig von dem Wunsch des Künstlers, eine Welt zu schaffen, die an der Grenze zwischen komplexester reiner Darstellung und dem verborgenen Sinn, auf den sie deutet, balanciert. Das Bedürfnis nach „dem Wort“ zur Klärung der künstlerischen Intention verweist auf eine Überschreitung der semantischen Grenzen, denen die Malerei per se unterworfen ist, und damit auf die Widersprüchlichkeit von Runges künstlerischer Welt. Einerseits deutet die Vorstellung, dass Malerei eines verbalen Kommentars bedarf, auf eine Art Erschöpfung ihres Potenzials hin, in ihrer bildsprachlichen Bedeutung verstanden zu werden. Andererseits führt dieses Bedürfnis, „Bild“ und „Wort“ zueinander in Beziehung zu setzen, wenn nicht zu einem Gesamtkunstwerk,[60] so doch zumindest zu dem Versuch, die bedeutungsgebenden Strategien der Malerei der Literatur zu entlehnen. Solche Vorstellungen, die sich in Runges schriftlichen Äußerungen mehr oder weniger stark artikulieren, wurden von den gesellschaftlichen Kreisen des Künstlers und von der Literatur geprägt, auf die er in seinem Umfeld traf. So hatten beispielsweise Henrich Steffens’ Ansichten über das Wesen des Bildkunstwerks einen entscheidenden Einfluss auf Runges Denken.[61] Karl Privat weist darauf hin, dass die Ideen von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Tieck darüber hinaus besonders Mutige in ihren „Anschauungen von der Farbe und der Malerei als Sprache bestärkt haben“[62] mögen; zuvörderst nennt er Wackenroders Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (1799). Runge sei nun die Idee gekommen, nach Wegen zu suchen, um höhere Ausdrucksformen und ‚signifikante Bedeutung‘ zu schaffen – eine Bedeutung von jener Art, die traditionell vielleicht nur verbal vermittelt wurde.[63] Grewe zufolge plante Runge sogar, einen Roman oder eine Geschichte zu schreiben, die mit vielen Bildern erzählt wird.[64]
Wir sehen also, dass Runge mindestens drei Varianten der semantischen Beziehung zwischen „dem Bild“ und „dem Wort“ im Sinn hatte:
1) „das Wort“ als Kommentar zu „dem Bild“ (bei der Schaffung eines Bildkunstwerks);
2) „das Bild“ als Kommentar zu „dem Wort“ (bei der Illustration von Texten);
3) „das Bild“ mit der Funktion „des Wortes“.
Der erste und der zweite Fall erweisen sich als funktional vertauschbar, je nach der Art des Kunstwerks, das durch die ergänzenden Möglichkeiten einer je anderen Kunstform enthüllt werden soll. In diesen beiden Fällen erscheinen Malerei und Literatur komplementär zueinander. Der dritte Fall ist allerdings komplexer. Natürlich ist das Bild kein funktionaler Ersatz für das Wort, weil es eine andere Wahrnehmungsform ist. Wichtiger ist aber die Frage: Welche Eigenschaften muss das Bild „dem Wort“ entlehnen, damit das Wort in vollem Umfang ersetzt werden kann?
1) Das Bild muss einen auffassbaren Anteil an konventionellen Bedeutungen haben, die für alle (oder zumindest für eine große Gruppe von) Betrachter*innen verständlich sind, denn ohne eine konventionelle Bedeutung kann das Wort nicht die Rolle eines Kommunikationsmittels spielen.
2) Die konventionelle Bedeutung muss grundlegend sein und den Kern der Begriffe bilden (da semantische Zufälle kontextabhängig sind und zur Bildung einer gegenstandsbezogenen Bedeutung eines Wortes führen können). Dementsprechend kann ein Bild nur im Hinblick auf das den Anschein einer konventionellen Bedeutung haben, was von allen Rezipient*innen gleich wahrgenommen wird, unabhängig von ihrem eigenen kulturellen Gedächtnis, ihrem assoziativen Denken usw. – gehen wir einmal davon aus, dass die Rezipient*innen der westeuropäischen Kulturtradition angehören. Es kann sich also nur um eine Frage der Objektivität und der Bildlichkeit handeln: Die Bedeutung eines Objekts, die ein Wort nicht widerspruchsfrei erfassen kann, bezieht sich auf dessen sichtbare Form, seine Materie und seine Attribute, die in einem direkten Sinn (Bild als phänomenal Gegebenes) oder in einem allegorischen Sinn (Bild als Zeichen für einen Begriff[65]) interpretiert werden können.
3) Die Bilder sollten nicht nur rein visuell, sondern auch logisch und strukturell in einen Zusammenhang zueinander geraten und semantische Ganzheiten wie Syntagmata bilden. Natürlich wäre es naiv, Bildern die Funktionen von Wortarten zuzuweisen, da Bilder im Gegensatz zu Wörtern eine gleiche strukturelle und semantische Natur haben. Aber obwohl das gemalte Bild an ein bildliches Zeichensystem gebunden bleibt, das seinen eigenen Text (selbst wenn er im weitesten metaphorischen Sinne definiert wird) nur auf einer metonymischen Ebene schaffen kann,[66] ist in Runges Kunst dennoch bisweilen der Versuch zu bemerken, reale Verbindungen verschiedener Ebenen zwischen den Elementen herzustellen. Sowohl Runge als auch Tieck verwenden das Wort ‚Zusammenhang‘.[67] Es bildet einen wesentlichen Bestandteil des kategorialen Apparats, der für die Übersetzung von Runges philosophisch-ästhetischem Universum in bildkünstlerisches Material geeignet ist. Wie Arfini feststellt, entlehnte Runge den Begriff ‚Zusammenhang‘, verstanden als neuplatonische Verflechtung des Kosmos, von Böhme.[68]
Damit alle drei Bedingungen erfüllt sind, müssen die Bilder klar strukturiert sein; und in der Tat verwandelt sich bei Runge die Form als solche niemals. Daraus ergeben sich aber Konsequenzen, die sich paradoxerweise als Negation der Möglichkeit erweisen, dass „das Bild“ als „das Wort“ fungiert und zu einem Verständnis von Bildern als Strukturen führt, die mit Elementen der musikalischen Sprache korrelieren.[69] Diese Konsequenzen lassen sich wie folgt beschreiben:
1) Indem Runge jede visuelle Form artikuliert und durch Translationssymmetrie im gesamten künstlerischen Raum vervielfältigt, behandelt er sie einerseits wie ein wiederkehrendes Wort. Andererseits führt die Verwirklichung des Prinzips der Spiegelsymmetrie diese „Kompositionsreime“ über die Grenzen immanent verbaler Konstruktionen hinaus (es sei denn, es handele sich um poetische Rätsel). Ein solcher Umgang mit Bildern erweist sich in Ansätzen als dem Umgang mit wiederkehrenden motivisch-thematischen Elementen in Musik ähnlich, denn es gibt syntaktische Ganzheiten, die semantische und „grammatische“ Einheiten bilden.
Da ist zum Beispiel ein Fugenthema, mit dessen Entstehung Runge selbst das Konzept der Lehrstunde der Nachtigall[70] verglich: „[…] nämlich, daß dieses Bild dasselbe wird, was eine Fuge in Musik ist“,[71] schrieb er seinem Bruder Daniel in einem Brief vom 4. August 1802, wobei er sich offenbar auf die Wiederholung bestimmter Gebilde sowohl im Inneren als auch auf dem Rahmen bezog. Das allgemeine Prinzip der Fuge und im weiteren Sinne des Kontrapunkts entspricht dieser Vorstellung zufolge dem Prinzip der vollkommenen Symmetrie in der Natur. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie Ähnlichkeitssymmetrie in Verbindung mit Spiegelsymmetrie funktioniert, stellt die Fuge (1908) von Mikalojus Čiurlionis dar, sie basiert auf der Übertragung musikalischer Formprinzipien in die Malerei. Ähnliches gilt für das freilich erst nach Runge aufgekommene Leitmotiv, dessen Verwandlungen im Verlauf eines Stücks die Idee der semantischen Transformation verwirklichen sollen. Die Häufigkeit, mit der Runge manche Bildmotive (wie die Amaryllis, die Rose, den Putto, den Vogel usw.) in einem einzigen Werk wiederholt, und die Dichte ihres „Kontrapunkts“ lenken von der Idee ab, sie mit Worten zu vergleichen, denn in der gesprochenen Sprache sind solche Wortwiederholungen unnatürlich; hingegen können „kontrapunktische“ Motivmuster der Musik eigentümlich sein.
2) Das philosophische und ästhetische Verständnis von Musik des Bildes durch das Nachdenken über „Zeichen“ und das Enträtseln ihrer verflochtenen Bedeutungen, das Ablesen der ‚Codes‘, werden zur Aufgabe von Rezipient*innen und hängt einerseits von ihrem jeweiligen Verständnis einer tieferen Bedeutung und andererseits von der systemischen, kontextuellen Bedeutung eines jeden Bildes ab. Der Zusammenhang der „Zeichen“ erschließt sich unter anderem durch den Vergleich ihrer Bedeutung im Kontext verschiedener Werke, die, sagen wir, „Variationen über eine Weltanschauung“ sind: In Die Tageszeiten[72] sind dies die Leitmotive der Rose, der Amaryllis, des Putto, der weiblichen allegorischen Figur, der himmlischen Heerschar, des Musikinstruments, der Schlange, der Fackel, der Lichtstrahlen.[73] In diesem Zyklus geht die Kohärenz des Ganzen aus einem allmählichen Wechsel der Konnotationen von einer Radierung zur anderen hervor. Dieser Wechsel wird nicht durch die immanente künstlerische Entwicklung der Bilder reguliert, sondern durch die philosophische und weltanschauliche Bedeutung, die die Bilder vermitteln sollen. In einem Brief berichtet Runge seinem Bruder Daniel von Tiecks Erstaunen darüber, dass die Bilder untereinander verbunden seien: „[…] es hatte ihn aus der Fassung gesetzt, daß das, was er sich doch nie als Gestalt gedacht, wovon er nur den Zusammenhang geahnet, jetzt als Gestalt ihn immer von dem ersten zum letzten herumriß“.[74] Nach Richard Littlejohns zeigt eine nähere Untersuchung der Bildinhalte, dass die vier Phasen der Tageszeiten in ständiger Rotation einander folgen, ohne einen Anfangspunkt oder Schluss, sondern in einem „ewigen Cirkelschlag“,[75] wie Runge es formulierte. Der „ewige Cirkelschlag“ der Bilder erzeugt ein semiotisches System, das sich selbst reproduziert: Es ist kein üblicher Text mit Anfang und Ende, sondern die Idee eines visuellen Quasitextes, der gewissermaßen postmodern mit einem beliebigen Zeichen und einer beliebigen Zeichenfolge beginnt. Vielsagend ist, dass Görres seine Beschreibung des Zyklus mit der Nacht begonnen hatte, während der Künstler selbst sich offenbar den Morgen als Anfang dachte.[76] Tatsächlich kommt diese Art der Erzeugung von Semantik musikalischen Prinzipien nahe: Eine Komposition entwickelt sich aus demjenigen Element des musikalischen Materials heraus, das mit dem Status einer Urzelle ausgestattet ist – mit einem generativen Zellimpuls und einer primären semantischen und syntaktischen Integrität.
3) Die natürliche Formtransformation ist durch die Darstellung von Entwicklungsstufen gekennzeichnet, die im Kunstwerk verstreut sind. Diese Etappen stellen daher eine Abfolge dar, die darauf zielt, als räumliche Entsprechungen zu zeitlichen Phasen der Bedeutungsgebung erfasst zu werden, als eine Art räumliche Spur der Dauer. Diese in die Dauer ausgefaltete Formentwicklung ist von ähnlichen Gesetzen inspiriert wie die Entwicklung von musikalischem Material: Ein Element wird aus dem vorherigen abgeleitet, indem der ursprüngliche Impuls erneuert wird.
4) Die Linie wird de facto mit dem Umriss gleichgesetzt. Runges Zeichnung ist vor allem eine Umrisszeichnung der Form (statt ihre Körperlichkeit beispielsweise durch Schraffur zu enthüllen), die darauf abzielt, sie im Raum zu artikulieren und ihre strukturelle, proportionale und plastische Vollkommenheit aufzuzeigen. Daher ist eine rein konstruktive, kontinuierliche Verbindung der Formen möglich, wenn die Linie sich über die Form hinaus fortsetzt, indem sie das Prinzip von Ursache und Wirkung visualisiert und dementsprechend intensiv auf die nächste Stufe entweder der ursprünglichen Form (Stängel → aufgeblühte Blume) oder der Bildung des Gesamtsinns der Komposition (z. B. die Idee der Bewegung zum göttlichen Licht) hinweist.[77] Die Linie in einer solchen sinn- und konstruktionsstiftenden Funktion ist die Arabeske, eine formgebende Strategie, die den Künstler, der mit Erfahrungen von Raffael und Albrecht Dürer auf diesem Gebiet vertraut war und zu Ersterem neigte, anzog.[78]
Runge verwendet das Wort ‚Arabeske‘ im Zusammenhang mit dem Vier Jahreszeiten-Zyklus:[79] Seinem Bruder schreibt er von „leichte[n] Arabesken“, die er zur „Verbindung“ der „vier Hauptideen“ einsetzen wolle.[80] Hätte Runge den Weg Dürers statt den Raffaels eingeschlagen, so wäre er vielleicht zur Idee der völligen logischen Unbestimmtheit von Sinn gelangt – also zur Idee des reinen, substantiellen Werdens, dessen höchster Ausdruck im künstlerischen Material durch die Musik gegeben ist.[81] Während Schlegel der Arabeske die Rolle einer wesentlichen Figur romantischer Kunst (sowohl in Bildkunst als in der Poesie) zusprach,[82] dient sie bei Runge als bildkünstlerisches Äquivalent der Idee von Entwicklung.
Steffens verwendet wiederum, ohne von Musik zu sprechen, auch den Plural des Begriffs „die Arabesken“[83] und konstatiert, dass diese bei Runge „den lebendigen Keim einer neuen Kunst“ enthielten, in dem „ein überschwenglicher Trieb der Bildung“ liege, „eine reiche, aber unbestimmte Zukunft, die geweissagt, angedeutet, aber nicht dargestellt werden kann“.
Die Unbestimmtheit, mit der die Absicht zur Bedeutungsbildung hier umgesetzt wird,[84] die nicht-teleologische Natur der Arabeske im Hinblick auf die Schaffung konkreter und daher geschlossener, in sich ruhender Formen zeigen, dass sich die Arabeske in ihrer Entwicklung nicht auf etwas richtet, sondern irgendwohin; sie schafft keine durch Körperlichkeit begrenzte Form, sondern eine neue Struktur des grenzenlosen Raums, die mit der Idee der Unendlichkeit verbunden ist. Brown vergleicht Friedrich Schleiermachers Auffassung des Begriffs mit der von Runge und betont, dass ersterer (in Über die Religion, 1799) der Religion die Eigenschaft zuschreibt, „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ zu wecken. Bei Runge sei das Unendliche indes kein vages Postulat gewesen, wie womöglich für manchen anderen, sondern ein fest konturiertes religiöses Konstrukt.[85] Aus dieser Sicht kann die Arabeske als Visualisierung des Schöpfungsimpulses aufgefasst werden, als Ausdruck romantischer Potenzierung (in dem Sinne, den Novalis ihr in den Logologische[n] Fragmenten gab: „Die Welt muß romantisiert werden […] Romantisierung ist nichts, als eine qualitative Potenzierung“[86]).
Dieser Hinweis auf Bedeutung ohne die prinzipielle Möglichkeit ihrer vollen sinnlichen (aber mit der Möglichkeit ihrer übersinnlichen, metasinnlichen) Manifestation ist sowohl eine Funktion der visuell-plastischen Arabeske als auch eine immanente Eigenschaft von Musik. Ramos (171) zufolge materialisieren die wellenförmigen Linien des Laubs in der Lehrstunde der Nachtigall (1810), die für ein Musikzimmer vorgesehen war, auch das Tirilieren des Vogels. Im Zusammenspiel von Ikonographie, Form und Bestimmung seines Werks gelinge es Runge peu à peu, die Arabeske als ein gemeinsames Prinzip im Ensemble der Künste zu konzipieren. Im Rekurs auf Raffaels Sixtinische Madonna spitzt er es grotesk zu: „Bey diesem Bilde begreift man erst, daß ein Mahler auch ein Musiker und ein Redner ist.“[87] Die Sprache der Linien verbinde sich für den Künstler mit der Sprache der Musik und der Worte.
5) Farbe wird auf zwei Arten interpretiert: als lokale Eigenschaft einer konkreten Gestalt sowie als Projektion von „Licht“ (weil Runge die Farbe als Ausfluss der schöpferischen Energie des Lichts in die Materie begriff, auch stattet Runge sie mit einem eigenen symbolischen Sinn aus).[88] In letzterem Fall wird die Farbe, die als Signifikant für religiös-mystische Begriffe dient (Signifikate sind z. B. die Idee der Unendlichkeit, die Idee des Weltraumes), zu einem Bestandteil derselben bedeutungsgebenden Strategien, die die Linie charakterisieren: Farbe markiert die Verbindung dieser Begriffe, die als eine Art metaphysische Sinnkomponente zu verstehen sind. Aber es gibt auch einen wichtigen Unterschied: Da die Begriffe nicht der Darstellung durch objektive Formen unterliegen, sollte die Farbe, die solche Formen markiert, von der Gegenständlichkeit[89] abstrahiert werden; sie soll Farbe an sich sein. Deshalb entsprechen die tonalen Abstufungen des Licht-Luft-Raums in Runges Bildern (vor allem in Der kleine Morgen und den erhaltenen Fragmenten von Der große Morgen) in ihren Nuancen der Idee vom „Ausfluß des Lichtes“[90], und zwar intensional und damit zeitlich in ihrem Wesen – so wie die Linie, die sich jenseits einer festen Form selbst fortsetzt, der Idee des vitalen Werdens entspricht.
Das „Wort“ fixiert also die primäre Bedeutung einer Objektform, die durch die Aktion der „reinen“, primären Wahrnehmung gewonnen wird (z. B. die weibliche Figur, die Lilie, die Nachtigall usw.). Auf deren Grundlage entsteht bereits eine konventionelle, transpositionelle Bedeutung (bewusst – durch Runge selbst – und zufällig – durch den Betrachter). Diese Bedeutung ist in einem Konzept festgelegt, das höheren Rang hat als das Wort und das eher symbolisch als allegorisch ist. Gunnar Berefelt, der die semantischen Strategien Caspar David Friedrichs und Runges verglichen hat, findet nur in der Malerei des Ersteren Gestaltbilder, Runges Bildern aber spricht er den symbolischen Charakter ab und tendiert dazu, in ihnen Allegorien zu sehen.[91] Diese Ansicht dürfte unzutreffend sein. Denn erstens gibt es bei Runge transversale, „leitmotivische“ Bilder, die nicht nur innerhalb des Zyklus Die Tageszeiten „wandern“, sondern auch von Konzept zu Konzept (z. B. Bilder der Amaryllis, geflügelter Putten und Genien, einer brennenden Fackel usw.), die ihre Bedeutung verändern, indem der Kontext ihres Auftretens wechselt, was für die Allegorie keineswegs charakteristisch ist. Zweitens ist die semantische Struktur jedes dieser Bilder – und auch das ist nicht charakteristisch für die Allegorie – vielschichtig und instabil, da sie das Produkt einer eklektischen Mischung verschiedener philosophischer und religiöser Ideen (von den Ideen des Paracelsus und Böhmes bis zu denen Spinozas und von der antiken östlichen Mystik bis zum Christentum) und Darstellungstraditionen (einschließlich derjenigen der Renaissance) ist.
Es wird ersichtlich, dass die Konventionalität der Bedeutung bei Runge fiktiv bzw. scheinbar ist, denn sie verlangt keine eindeutige und irgend verständliche „Entschlüsselung“. Anders als die Konventionalität in Epochen, in denen Rhetorik Verbindlichkeit schuf, war diese Bedeutung nur jenem kleinen Kreis von Menschen zugänglich, die die genaue Vorstellung des Künstlers kannten. Die visuelle Basis, die primäre mimetische Bedeutungsebene, besteht jedoch aus Formen, die bereits eine eigene Geschichte in der Repräsentationskultur und damit eine feste Semantik haben (wie Lilien oder Passionsblumen). Dies führt zur Unmöglichkeit einer exakten verbalen Definition der sekundären Sinnebene, die echten Symbolen innewohnt, eine Unmöglichkeit, die zur Auflösung der begrifflichen Ebene in das ursprüngliche Wort, den begrifflich erfassbaren Teil und den ‚Heiligenschein seines Sinns‘ führt, der, wenn er benannt und definiert wird, seine Essenz verliert (da diese Essenz in der Unmöglichkeit der Definition besteht). Dieser ‚Heiligenschein‘, ein prinzipiell nicht definierbarer Bedeutungskomplex, kann nur als Gegebenheit offenbart und durch reine Repräsentation ausgedrückt werden, durch das „Bild“ als semantische Struktur, die das „Wort“ vollständig ablöst. Ist das Wesen einer konturierten Form oder einer Lokalfarbe durch das „Wort“ definiert, so ist die reine Darstellung, das „Bild“, notwendig, um das Wesen einer arabesk sprießenden Linie oder das koloristische Werden der „Farbe“ als Emanation des „Lichts“ auszudrücken.
Die „verschlüsselte“ Bedeutung visueller Formen lässt die Tendenz zu ihrer unendlichen, weitgehend vom Interpreten und nicht von den systemimmanenten Eigenschaften abhängigen Interpretation entstehen,[92] was dem Wesen und der Funktion des „Wortes“ selbst widerspricht, denn es enthält einen selbstidentischen Bedeutungskern, der konventionell konditioniert ist, um das Verständnis und die Möglichkeit der Sinnübertragung auf die Rezipient*innen zu gewährleisten, und eine Hülle, deren Abwandlung dem Bedeutungskern nicht widersprechen und von dem sie sich nicht zu weit entfernen sollte. Bei Runge aber übersteigt die Amplitude der Bedeutungsvariationen alles, was für das „Wort“ möglich ist. Die Selbstidentität der Bedeutung ist nur auf der Ebene der primären Gegenständlichkeit („Bild“) gewährleistet, nämlich auf der mimetisch erzeugten Objektebene. Für die Organisation des wahren Symbols muss die semantische Nicht-Identität aber auf Komponenten beruhen, die der semantischen Identität gleichartig sind. Deshalb steigt das „Bild“ von der Verkörperung der primären Gegenständlichkeit nun auf zu einer qualitativ anderen Ebene der Darstellung. Während der nicht verbalisierbare Teil der Bedeutung („Wort“) durch „Bild“ ersetzt wird, erlangt dieses „Bild“, das nicht nur die Funktion hat, die primäre Subjektivität auszudrücken, sondern auch eine komplexe Reihe von metaverbalen Bedeutungen, den Status einer Hieroglyphe, die eine rein repräsentative Funktion mit einer begrifflichen verbindet.
Auf diese Weise wird der Übergang zur endgültigen, synthetischen Ebene einer Schaffung und Wahrnehmung von Bedeutung vollzogen.
- Die synthetische Ebene der Bedeutungsgebung in Runges Kunst
Der Sinn wird im Bild zugleich offenbart und verschlüsselt, das Bild wird zu einer Art Hieroglyphe.[93] Jörg Traeger schreibt dazu: „Die Romantiker haben mit diesem Wort ein höchstes Ideal und zugleich das tiefste Geheimnis der Kunst bezeichnet.“[94] In den Worten von Görres:
Nennen wir sie lieber daher Hieroglyphik der Kunst, plastische Symbolik! Hat die Natur aus den Elementen die Körper zuerst gebildet, dann ergreift das Leben die Materie wieder, und bildet sie in organische Formen um; ergreift die Kunst dann wieder diese Formen, und gießt ihnen im Bilde die Harmonie der idealen Schönheit ein; erfaßt endlich dann die Idee die schöne Form, und bildet sie sich wie der Geist die Rede zu, und es wird ein bedeutend, tiefsinnig Wort nun ausgesprochen, eine heilige Rede, die der Sinn mit Andacht hören sollte. [Herv. i.O.][95]
Die Abfolge der Hieroglyphen wird zu besonderen „Schriften“[96] zusammengefügt, durch die die Natur zu den Eingeweihten spricht.
Der Hieroglyphe kommt also eine nicht mehr nur sinnliche, sondern übersinnliche Deutung zu, in welcher die Bedeutungshülle zu ihrem Signifikanten, ihrem Zeichen, ihrem ‚Code‘ wird. Mit ihnen wollte Runge die Welt der reinen Ideen und die gefühlsmäßig wahrnehmbare Welt in ein Gleichgewicht bringen, ihren Widerspruch aufheben.[97]
Ramos[98] zufolge definierte Tieck in einem Brief an Runge vom 24. Februar 1804 die Kunst zunächst als ein System magisch-symbolischer Zeichen, die es neu zu erfinden gelte, um dann eine Kritik und eine Warnung hinzuzufügen. Die Kritik bezieht sich auf den Reflexionsüberschuss des Künstlers, der versucht, seine Kunst zu erklären, Tieck warnt vor symbolischer Drechselei:
„[…] auch werden Sie überdies, um sich mancherley Geistern verständlich zu machen, zum Scharfsinn, zur Combination, zur Allegorie und zur Mystik Ihre Zuflucht nehmen müssen: kurz, Sie werden wenigstens auf Stunden aus der kühlen Ruhe und Stille fallen, die das wahre Element der Invention ist, und in die Turba, in die Verwirrung, in die Menge gerathen.“[99]
Tieck möchte Runge davon abhalten, die mystische Erfahrung des Unendlichen durch die Kunst mit einem Zeichensystem zu ersetzen, da es die Kluft zwischen Form und Bedeutung nicht auflösen könne. Diese Kluft erscheint Tieck umso größer, als ihm Runges Symbolik zu persönlich und zugleich zu traditionell in ihren Motiven vorkommt.
Tieck hat Recht, wenn er sagt, dass das Zeichensystem allein die übersinnliche, durch eine Art synthetische Intuition des Universums erzeugte Erfahrung nicht vermitteln kann: Zeichen können nur auf dieses Universum und auf jenen Teil seiner Bedeutung verweisen, der – sei er direkt oder konventionell – verbal vermittelt werden kann. Aber nicht mehr als das.
Dennoch erlaubt die „Lücke“ zwischen der Sinneswahrnehmung und ihrer übersinnlichen Umsetzung – im Wesentlichen eine semantische „Lücke“, die von den Rezipient*innen selbst ausgefüllt wird – der Bedeutung des Bildes, sich in eine Schicht der Repräsentation (einer „Bedeutungsschale“, deren Grundlage die Nachahmung der Natur ist) und eine Schicht tieferer Bedeutung zu hüllen, die nicht inhärent repräsentiert ist (einen „Bedeutungskern“, der prinzipiell nicht durch eine mimetische Strategie wiedergegeben wird, wie etwa philosophische und religiöse Ideen). Das Auftreten einer solchen „Lücke“ kann erstens durch eine Diskrepanz zwischen dem gewählten Gegenstand und den zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewählten Mitteln seiner Darstellung[100] bedingt sein und zweitens durch die Wiedergeburt eines mimetisch erzeugten Sinns (Runge setzt seine Kunst von sichtbaren Bildern der Natur ab[101]) in einem symbolischen Sinn (Passion Christi) – und hier können wir weder Tiecks noch Steffens’ Ansichten über die Natur des Symbols zustimmen[102] –, symbolisch in dem Sinne, dass das Bild vom Sichtbaren abstrahiert und jenes in den Bereich der reinen Bedeutungsgebung überführt. Genau dieses Werden ist es, das der Bedeutung zuteil wird, wenn Rezipient*innen versuchen, die „Lücke“ zu füllen, in ihrem Bewusstsein und durch die Kraft ihrer Wahrnehmung das Signifikat und den Signifikanten zu verbinden, um vom Wahrgenommenen zum geistig Erkannten zu gelangen.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Steffens eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Bild („Gestalt“) und „Wort“ beobachtet.[103] Ihm zufolge verwandeln sie sich, gehen ineinander über. Diese Durchlässigkeit setzt nicht nur die vollständige Entsprechung der im Wesentlichen unterschiedlichen Stadien der Bedeutungsgebung voraus, sondern dialektisch (und paradoxerweise) auch die Fluidität und Unbestimmtheit jener die „Lücke“ zwischen den Komponenten füllenden Bedeutungsgebung. Sowohl die Fluidität als auch die Unbestimmtheit erlauben es, über den sinnbildenden Algorithmus die Äquivalenz von Bild und Wort in der Essenz der von ihnen vermittelten Bedeutung zu etablieren, sodass die sinnliche Wahrnehmung des Bildes und die intellektuelle Auffassung des Wortes konvergieren. Ihre Konvergenz ist meines Erachtens nicht nur insofern möglich, als diese beiden Perzeptionsarten im Bewusstsein untrennbar koexistieren, sondern auch insofern, als die Bedeutungskomponenten verbal und visuell gleichermaßen repräsentierbar und nicht-repräsentierbar sind. Der immanente, tiefe Sinn, der von Runges künstlerischer Welt ausgeht, wird von den Bild-Schriften ebenso enthüllt wie verborgen (der unartikulierte Sinn und seine Verborgenheit, die Unfähigkeit von Bild-Schriften, den Sinn als Ganzes zu enthüllen).
Die „Schriften“, von denen Steffens spricht und die die oberste semantische Schicht von Runges Bildern sind, ihre verbalisierte Projektion (also die Projektion des Sinns, versteckt hinter diesen Bildern), sind also metaverbale Schriften, die auf etwas verweisen, ohne aber etwas als tatsächlich Gegebenes zu bezeichnen, das aus dem Kontext herausgelöst und als raumhafte Einheit in sich selbst geschlossen werden kann (was aus dem „Kontext“ herausgelöst werden kann, hängt mit der Artikulation zusammen, einer Operation, die der räumlichen und nicht der zeitlichen Struktur der Welt immanent ist). Diese metaverbalen Schriften bringen also das Wesen eines nicht-räumlichen, aber zeitlichen Sinns zum Ausdruck, eines in der Dauer werdenden und an sie anknüpfenden Sinns – mithin eines musikalischen Sinns.
Runge selbst artikuliert die Natur dieses „Schreibens“ nicht, obwohl er im Zuge der Arbeit an den Tageszeiten jedes Bild mit Worten beschreibt.[104] Diese Figuren könnten als rein dekorativ bezeichnet werden (Wiederholung von Ornamenten und Anordnung derselben Motive), wäre da nicht Runges Wunsch, durch mimetische Figuren eine nicht-mimetische Bedeutung herzustellen und eine Semiose in der Lücke zwischen der sinnlich wahrgenommenen Bedeutung eines Bildes (z. B. einer Lilie) und seiner metasinnlichen, philosophischen Bedeutung anzuregen (die Lilie = Symbol der drei Tugenden: Glaube, Hoffnung und Barmherzigkeit, Unschuld usw.). Wie Alain Muzelle[105] feststellt, wurde eine solche Interpretation der Arabeske als semantische und visuelle Hieroglyphe, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert keineswegs singulär war, 1797 von Friedrich Schlegel formuliert. In einem Brief vom 30. Januar 1803 an seinen Bruder Daniel gestand Runge ein: „Du siehst wohl, daß indem ich nur so leichte Decorationen machen wollte, ich wider Willen gerade das größte von Composition hervorgebracht habe“.[106] Die Arabeske verwandelt die mimetische Bedeutung der Blume und lenkt die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen auf die plastische Aussagekraft der Linie, d. h. auf die Natur des Ausdrucksmittels als solchem. Die geometrische Gegenständlichkeit wird absorbiert, die objektive Bedeutung der Lilie löst sich auf und lässt die Bedeutung an der Peripherie „flackern“. Ramos[107] zufolge ist die Arabeske bei Runge mit einem Verfahren der geometrischen Darstellung des Bildes assoziiert. Diese Arabesken, „sind eigentlich nur so Puncte erst, um meine Ideen ordentlich im Tact zu halten, denn die mathematische Eintheilung ist immer gut, die eigentlichen Arabesken kommen schon, das ist nur Kinderspiel.“[108] Nicht nur Ornamente, die von außen her der Komposition beigefügt werden, verschmelzen die Arabesken mit geometrischen Figuren.
Meiner Meinung nach ist die anfängliche, wichtigste Hieroglyphe Runges, die das gesamte semantische Spektrum erzeugt und sogar das Erscheinungsbild aller anderen Formen-‚Hieroglyphen‘[109] bestimmt, die Erste Figur der Schöpfung (1803),[110] die auf den vollkommenen geometrischen Figuren des Kreises und des gleichseitigen Dreiecks beruht und eine Art „vollkommene Formel“ von Runges Weltanschauung darstellt, präsentiert in Form der absoluten Abstraktion.[111] Von Mimesis ist hier keine Spur mehr, und das arabeske Werden hat in der Vollkommenheit der Zentralsymmetrie eine vollständige Selbstidentität und Ruhe erreicht. Dies ist das Zentrum von Bedeutung und Darstellung, wie Platons Urbild. Laut Ramos[112] versucht der Künstler, indem er seinen Brief mit dieser geometrischen Figur versieht, eine plastische Version dieser Synthese anzubieten. Inspiriert von der Titelseite von Böhmes theosophischen Schriften,[113] stellt sie sieben miteinander verbundene Kreise dar, deren Zentren an einem Punkt zusammenlaufen, an dem, wie er sagt, „alles wieder vereinigt“[114] ist. Die Gegenständlichkeit erweist sich (Jacques Derridas ‚supplément‘ entsprechend) gegenüber dem eigentlichen Sinn des Bildes als Ergänzung.
Die sichtbaren Formen der umgebenden Welt werden zu Runge’schen „Hieroglyphen“, abgeleitet von der Haupthieroglyphe: Deren absolute Geometrie programmiert die jeweilige Geometrisierung und deren mystische Bedeutung die Semantik. Durch die Darstellung singulärer Dinge (d. h. der natürlichen Formen) strebte Runge gleichsam danach, die „göttliche Substanz“ (d. h. die Bedeutung der Haupthieroglyphe) zu verkörpern. Indem er die natürlichen Formen als in der Erfahrung gegeben begreift und sie in Bildkunst übersetzt, erhebt Runge sie damit von ihrer konkreten, singulären Bedeutung auf die Ebene übersinnlicher Abstraktion – d. h. auf die Ebene universeller Bedeutung aufgrund ihrer Verbindung mit dem Göttlichen, jener Substanz, die sich in ihnen offenbart. Wir können sagen, dass die Bilder der Natur ‚natura naturata‘ sind, und in der Welt der Kunst sind sie auch Hieroglyphen für die ‚natura naturans‘, an der sie durch die Transposition ins Übersinnliche, jene synthetische Intuition par excellence, teilhaben.
Das Ganze überblickend, kann man sich folgenden erkenntnistheoretischen Algorithmus vorstellen:
Sinnliches Erfassen der Natur, ihrer Formen | Bild | natura naturata | Materie (= Ausdehnung) als Attribut der Substanz (nach Spinoza) |
Begriffliche Stufe der Bedeutungsformulierung | Wort | → | → |
Übersinnliches Begreifen des Bildes | Hieroglyphe | natura naturans | Denken als Attribut der Substanz (nach Spinoza) in Bezug auf das Denken des Künstlers |
In der letzten, erkenntnistheoretischen Phase drücken die Bilder-Hieroglyphen, die das Wesen der Naturphänomene verschlüsseln, deren Bedeutung durch das schöpferische Bewusstsein des Künstlers aus und übersetzen sie. Runge ermuntert dazu, sich auf die eigene spirituelle Erfahrung zu stützen, wobei er sich offenbar implizit auf Böhmes Philosophie bezieht und die Idee des Eigenwerts, der Einzigartigkeit der schöpferischen Kraft noch des Winzigsten entwickelt.[115] Diese spirituelle Erfahrung erzeugt eine konzentrierte Intuition, die ein erkenntnistheoretisches Werkzeug sein kann, das mit dem mystischen Sinn des Universums korreliert. Durch die Intuition kann diese Bedeutung nahezu direkt erfasst werden, und zwar durch Kontemplation und im Vertrauen auf das innere Selbst. Dieser aggregierte Sinn des Universums, der dialektisch sowohl die „Zahl als Sein“ als auch die „Zahl als Werden“ enthält, die oben erörtert wurden, enthält folglich beide Aspekte der Musikalität, die durch diese Arten von „Zahl“ ausgedrückt werden.
Daraus ergibt sich die höchste Musikalität der ‚natura naturans‘, des gesamten Runge-Universums: daher das Zusammenklingen aller seiner Bestandteile, das man deshalb durchaus als „Symphonie“ (συμφωνία) im ursprünglichen Sinne des Wortes bezeichnen kann. Bekanntlich sagte Runge selbst, er habe seine Tageszeiten „ganz bearbeitet wie eine Symphonie“.[116] Diese Bezeichnung beinhaltet hier drei Deutungsmöglichkeiten: Sie kann erstens den kompositorischen Charakter des Zyklus bezeichnen, der der musikalischen Sonate – Symphonie gleicht;[117] sie ist zweitens als Mitklang der „tiefen Bedeutungen“, die jedem Bild innewohnen, zu verstehen;[118] drittens benennt sie die übergeordnete Kohärenz des Ganzen.[119] Auf einer neuen Ebene der Erkenntnis kehrt man somit zu der pythagoreischen Idee der Harmonie der Welt zurück.
Der Versuch, diese synthetische Erkenntnis des Universums als höchste Vollkommenheit, Ordnung, Proportionalität, numerische Harmonie zu visualisieren – eine Erkenntnis, die das Gefühl einbegreift –, wird durch die „Figur der Schöpfung“, „Haupthieroglyphe“ der Welt Runges, repräsentiert. Und wenn diese Hieroglyphe die logische Grenze von Runges Abstraktion der Bedeutung im Hinblick auf die Linie ist, dann ist seine berühmte „Farbkugel“[120] gleichermaßen eine logische Grenze für die Abstraktion der Bedeutung hinsichtlich der von Runge auf mystische Weise verstandene Farbe.[121] Ramos befindet,[122] dass das Aussehen der Kugel die Symbolik nicht verdecken dürfe, die Runge ihr zuschrieb und die sie in die Nähe seiner mystischen Kunstauffassung rücke, wie er sie im Fragment einer Farbenlehre formuliert hatte. Die sieben Punkte – die sechs Farben des Querschnitts und der graue Mittelpunkt – seien nämlich den sieben Kreisen der Ersten Figur der Schöpfung analog. Somit sei das Zentrum der Kugel analog zum göttlichen Zentrum oder dem ‚Auge der Ewigkeit‘ in Böhmes Theosophie.
Die Farbsymbolik sollte das Vorhandensein jener Kräfte in der Welt widerspiegeln, welche sie ins Gleichgewicht bringen und die für Ausgewogenheit sorgen; die Modulation der Farben bis zu ihrem Komplement sollte die Idee ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und ihrer Ableitbarkeit voneinander ausdrücken. Erinnert sei an Schellings Postulat: „Wir fordern auch von Farben eine Harmonie und einen Ton und gewissermaßen auch eine Modulation“.[123]
Laut Steffens war Runge als „Maler […] die Natur und Bedeutung der Farben höchst wichtig“, auch habe er diese „in einer tiefern, fast mystischen Bedeutung aufgefaßt […].“[124] Und wenn die mystisch gedeutete Zahl als strukturelle Grundlage des Universums verstanden wird, dann hat die mystisch verstandene Farbe alle Eigenschaften, um als das Werden der reinen, substantiellen Qualitativität an sich gedeutet zu werden. Es ist dieser metaphysische Aspekt der Bedeutungsgebung, der durch das Gefühl als epistemologisches Werkzeug hervorgerufen wird und der sich in Hieroglyphenstrukturen, hieroglyphischen Diagrammen offenbart. Diese sind wie eine musikalische Form, die, nachdem das Werk verklungen ist, eine Spur im Geist der Hörer*innen hinterlässt. Die von der Hauptfigur abgeleiteten Hieroglyphenstrukturen erweisen sich als musikalische Form, und die Farbmodulation, die sie füllt, ist gleichsam ihr musikalisches Material.
Conclusio
Bekanntlich plante Runge, eine Ölfassung des Zyklus Die Tageszeiten in einem gotischen Gebäude, möglicherweise einer Kirche, zu hängen, untermalt von Chorgesang.[125] War nicht dies der Versuch, die metaphysische Bedeutung des Bildes endgültig zu sprengen, unhörbare Musik mit hörbarer Musik zu verschmelzen, sodass die Musikalität von Runges Universum hervorträte?
Die Mechanismen der Bedeutungsgebung in Runges Gemälden, die zu ihrer inneren Musikalität führen, sind im Kontext der romantischen Kultur des frühen 19. Jahrhunderts einzigartig. Diese Qualität wird nicht durch das figurative Schema und die Themen und nicht einmal durch die Eigenschaften des Bildmaterials als solchen erzeugt (z. B. durch eine wahrnehmbare Bewegung, wie sie etwa für die Gemälde der französischen Romantiker und Symbolisten typisch ist), sondern durch den spezifischen Algorithmus der Bedeutungsgebung, dank dessen Runges philosophische und mythopoetische Ideen, die als Signifikat verstanden werden, durch als Signifikant interpretierte Ausdrucksmittel übertragen werden. Da das Bild nicht mit einem Wort, einem Syntagma oder einer anderen grammatikalischen Einheit vergleichbar ist, erzeugt die Verknüpfung von Bildern einen Quasi-Text, ein semiotisches System, das sich vom System der Wortsprache unterscheidet. Die Gestalt eines Bildkunstwerks ist in doppeltem Sinne gegliedert: 1) in den Aspekt der Semantik – a) dem Kunstmaterial immanent und b) mit der verbalen Kultur verbunden; 2) in den Aspekt der Repräsentativität – a) direkt der visuellen Wahrnehmung zugänglich, mit anschließender geistiger Deutung, und b) außerhalb der visuellen Repräsentation, da sie ihr von Natur aus nicht unterliegt. Diese Gestalt des Bildes, die an einen Hieroglyphencode erinnert, erwächst aus einem fragilen Gleichgewicht zwischen dem Visuellen – sowie dem Mentalen, Manifesten – und dem Geistigen, nur Denkbaren und grundsätzlich Nicht-Repräsentierbaren. Diese Nicht-Repräsentation schafft eine „Lücke“ zwischen der ganzheitlichen Bedeutung des Kunstwerks (die bei Runge eine philosophische Bedeutungsschicht einschließt) und der Bedeutung, die visuell repräsentiert werden kann. Die semantische Lücke bestimmt die Dialektik der semantischen Selbstidentität und Nicht-Selbstidentität des Bildkunstwerks, die der Dialektik der Bedeutung in der Kunstmusik asymptotisch nahekommt. Die in Runges Zeichnungen und Gemälden realisierten Algorithmen der Bedeutungsgebung, die zu ihrer inneren Musikalität führen, hängen erstens von den Vorstellungen über die Möglichkeit und die konkrete Art und Weise der Konvergenz verschiedener Kunstgattungen ab und zweitens von der Art und Weise der Schaffung eines Bildkunstwerks und der Besonderheit seiner semantischen und expressiven Gestalt.
Literatur
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Übersetzung aus dem Russischen und Einrichtung von Gesine Schröder
Elena Rovenko PhD ist eine russische Kulturwissenschaftlerin. Gefördert wird ihre Arbeit zurzeit über das vom Collège de France getragene Programm PAUSE (programme national d’accueil en urgence des scientifiques et des artistes en exil). Sie ist am Laboratorium ACCRA (Approches contemporaines de la création et de la réflexion artistiques) der Universität Straßburg tätig. Bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine war sie Senior Researcher und assoziierte Professorin am Tschaikowski-Konservatorium Moskau. Rovenko veröffentlichte zahlreiche Aufsätze (über Film, französische Musik, Philosophie, Malerei) und die Monographie Die Kategorie der Zeit im philosophischen und künstlerischen Denken. Henri Bergson, Claude Debussy, Odilon Redon, Moskau 2016. Konferenzteilnahmen u.a. in Aix-en-Provence, Athen, Barcelona, Den Haag, Denver, Madrid, Mulhouse, Paris, Porto, Rimini, Salerno, Sofia, Straßburg und Wien.
[1] Steffens, 344.
[2] Décultot schreibt: „Für Wackenroder ist die Musik ‚die wunderbarste‘ aller Erfindungen, ‚weil sie menschliche Gefühle auf eine übermenschliche Art schildert, weil sie uns alle Bewegungen unsers Gemüths unkörperlich, in goldne Wolken luftiger Harmonieen eingekleidet, über unserm Haupte zeigt‘.“ (Décultot, 224). Runge zitiert hier Wilhelm Heinrich Wackenroder: Phantasien…, Zweiter Abschnitt. Anhang einiger musikalischer Aufsätze von Joseph Berglinger, Kapitel „Die Wunder der Tonkunst“. Über mögliche Korrelationen mit Wackenroders Ansichten über Musik siehe Privat, S. 132.
[3] Vgl. Tarasov, 131, 156, 157.
[4] Zu nennen sind hier vor allem die Studie von Karl Privat und die aus den 1970er Jahren stammende Monografie von Jörg Traeger.
[5] Z. B. Brown, 44–58, sowie Grewe, 48–63 und 119–134.
[6] Vgl. u. a. Littlejohns.
[7] Generell zum Einfluss von Philosophen auf Runge siehe Traeger (1977), 21: „Mit Friedrich Schlegel traf er in Dresden anscheinend oft zusammen, während das Verhältnis zu dessen Bruder August Wilhelm Schlegel distanziert blieb.“ Schellings Ideen dürfte Runge laut Traeger über Steffens kennengelernt haben (vgl. ebd.); dessen Naturphilosophie, insbesondere die Idee der Weltseele, beeinflusste die Anschauung und das konkrete Schaffen auch anderer Künstler, insbesondere das von Carl Gustav Carus (vgl. Arfini, 130).
[8] Vgl. u. a. Kuzniar; Décultot; Arfini.
[9] Das Problem wird in Julie Ramos’ Buch detailliert untersucht und kontextualisiert.
[10] Bereits hingewiesen wurde lediglich auf Analogien zwischen den Prinzipien der Bedeutungsgebung in Musik und in Runges Malerei, um das Neuartige des Künstlers auf dem Gebiet der Semiose zu begründen; siehe die Studien von Brown, Grewe und Ramos.
[11] Vgl. Poitevin, 16, 89, 90, 125, 126, 128, 129, 138, 146, 156, 164, 165.
[12] Runge, HS-1, 43.
[13] Schiller formulierte diesen Gedanken in seiner Rezension Über Matthissons Gedichte (1794) so: „In der That betrachten wir auch jede malerische und poetische Composition als eine Art von musikalischem Werk, und unterwerfen sie zum Theil denselben Gesetzen. […] jene Stetigkeit, mit der sich die Linien im Raum oder die Töne in der Zeit aneinander fügen, ist ein natürliches Symbol der inneren Uebereinstimmung des Gemüths mit sich selbst […]“. https://www.projekt-gutenberg.org/schiller/matthiss/matthiss.html (Stand: 06.10.2023).
Eine ähnliche Qualität wohnt Runge als Person inne: „[…] er denn selbst einmal sagt, daß ihm jeder Schritt Musik sei und er die Fülle des Lebens ahne, ‚die uns alle immerfort in ewigem Wohllaut produziert‘“ (Privat, 11).
[14] Runge, HS-1, 43.
[15] Vgl. Runges Brief vom 24. Januar 1806 an Johann Georg Zimmer (Runge, HS-1, 63f).
[16] Privat, 213.
[17] Siehe z. B. einen Brief vom Februar 1802 an Johann Heinrich Besser (Runge, HS-2, 116).
[18] Siehe Décultot, 221.
[19] Siehe zum Beispiel Littlejohns, 71, sowie Brown, 46.
[20] Steffens, 337.
[21] Steffens, 347.
[22] Zu Runges Luthertum siehe Brown, 45, sowie Tarasov, 3. Runge stellte sich „für die geplante monumentale Ausführung des Zyklus [Die Tageszeiten bzw. Vier Zeiten] eine Architektur nach Art der gotischen, jedoch in pflanzlichen Formen vor, das Ganze bei musikalischer Begleitung durch Chormusik.“ (Traeger [1999], 69).
[23] So eine Vermutung des niederländischen Forschers Tom Tak, 152f.
[24] Siehe Littlejohns, 55 und 59.
[25] Steffens, 340.
[26] Steffens, 343.
[27] Hoffmann, 578.
[28] Nach Chua (3) flüsterten und raunten frühe Romantiker von dem Auftauchen der absoluten Musik eher, als dass sie es verkündeten. Tatsächlich seien die Romantiker in Bezug auf das Thema so zurückhaltend gewesen, dass sie den Terminus ‚absolute Musik‘ weitgehend vermieden; erst Wagner gebrauchte ihn lautstark, und ironischerweise versuchte er, den Kunstanspruch absoluter Musik als verlogen zu entlarven, um sie in seiner dialektischen Musikgeschichtsauffassung zu negieren. Bonds zufolge (146) benutzte nach Wagner indes Hanslick in seinen Konzertkritiken vorzugsweise die Termini ‚reine Musik‘ und ‚reine Instrumentalmusik‘.
[29] Vgl. Grewe, 229.
[30] Vgl. Bonds, 58, 59, 61–62.
[31] Dieses Problem wurde am deutlichsten in Hanslicks berühmter Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen (1854) ausgearbeitet; zur widersprüchlichen, sich in den verschiedenen Ausgaben spiegelnden Entwicklung von Hanslicks Ansichten siehe Bonds, 141–209.
[32] So gab Silvestro di Ganassi (in Opera intitolata Fontegara) bereits 1535 Anweisungen, wie die Instrumentalmusik die Stimme imitieren solle. Vgl. Bonds, 59f.
[33] Darum kann die Kategorie des Erhabenen, von der Kant so bestimmt sprach, eine sehr breite Palette von Gefühlen hervorrufen, vom Entsetzen bis zum Hochgefühl oder von stiller Kontemplation bis zur ekstatischen Freude. Natürlich können diese Gefühle mit Mitteln der Musik ausgedrückt werden, wenn wir die typischen Entsprechungen der Ausdrucksmittel dieser oder jener Zustände im Blick haben (das Stilpanorama kann hier von „galant“ über „pathetisch“ bis „heroisch“ reichen). Aber woher können wir wissen, dass diese Zustände von der Idee des Erhabenen inspiriert sind? Wahrscheinlich nur kontextuell; denn jeder Kontext führt uns bereits über die Grenzen von musikalischer Bedeutung und über Möglichkeiten der Musik an sich hinaus.
[34] Vgl. Bonds, 61.
[35] Vgl. Ramos, 84–87.
[36] Die Ähnlichkeitssymmetrie, die die Idee der Unveränderlichkeit des Mustermodells mit der Idee seines Wachstums in größerem Maßstab kombiniert, verbindet auf dialektische Weise die Idee der semantischen und konstruktiven Selbstidentität unter Beibehaltung struktureller Eigenschaften mit der Idee von dynamischer Veränderung. Da die Veränderung in der strengen Version der Ähnlichkeitssymmetrie nicht die Struktur des Musters als solche betrifft, sondern nur dessen Maßstab, scheint das Prinzip der Selbstidentität zu überwiegen. Runge wendet diese Art von Symmetrie zwar gelegentlich an, ergänzt sie aber auf natürliche Weise durch das Prinzip der Variation, um den Eindruck von Mechanischem zu vermeiden und um mimetische Strategien zu nutzen. Muzelle (75) zufolge waren Regelmäßigkeit und Symmetrie von größter Bedeutung für die Konzeption der Abstraktion, die dieser Malerei eignet, eine Abstraktion, die nach Runges Vorstellung das reiche allegorische Potenzial seiner Bilder freisetzt.
[37] Siehe über Symmetrie in Der kleine Morgen: Grewe, 230.
[38] Vgl. abermals Runge, HS-1, 43.
[39] Cordula Grewe kommt in ihrer Analyse des metaphorischen Charakters von Runges Musikalität zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Sie betont den durch und durch mystischen und metaphysischen Charakter dieser frühromantischen Version der Musikalisierung in der Bildkunst. Vgl. Grewe, 230.
[40] Vgl. Junod, 39.
[41] Vgl. Grewe, 229.
[42] Siehe z. B.: https://www.hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/philipp-otto-runge/die-nacht-tageszeiten; https://www.hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/philipp-otto-runge/der-morgen-tageszeiten; https://www.hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/philipp-otto-runge/der-tag-tageszeiten; https://www.hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/philipp-otto-runge/der-abend; https://www.meisterdrucke.com/kunstdrucke/Philipp-Otto-Runge/85551/Die-Freude-der-Jagd,-1808–9-(Feder-und-WC-auf-Papier).html; https://ghdi.ghi-dc.org/sub_image.cfm?image_id=2207&language=german; https://www.meisterdrucke.com/kunstdrucke/Philipp-Otto-Runge/57879/Die-Ruhe-auf-der-Flucht-nach-%C3%84gypten,-1805–6.html. (Stand: 06.10.2023).
[43] Die Zahl als Kategorie, gleich ob mathematisch oder philosophisch verstanden, kann nicht ohne isolierte Elemente funktionieren, die dazu dienen, proportionale Beziehungen herzustellen.
[44] Steffens, 347.
[45] Siehe z. B. eine spätere, aber sehr anschauliche Beschreibung der ästhetischen Eigenschaften der Blume und ihrer Form als Vollkommenheit bei Lévêque, 35f. Weitere Beispiele für die Blume als Modell finden sich bei Ramos, 169–172.
[46] Runge, HS-1, 176. Der Begriff stammt aus einem Brief vom 31. März 1802 an Friedrich August von Klinkowström (Runge, HS-1, 175f): „[…] wenn eine Darstellung aus noch so vielerley Gegenständen zusammengesetzt werden kann, so ist die eigentliche Totalform doch ein Gewächs.“
[47] Ramos, 181. Ramos verweist wiederum auf Böhmes Philosophie als Quelle für Runges ähnliche Ansichten.
[48] Runge, HS-1, 17.
[49] Siehe Runges Briefe an seinen Bruder Daniel vom 9. März und 27. November 1802: Runge, HS-1, 7–16, 21. Runges Meinung steht in beredtem Gegensatz zu der allgemein akzeptierten Hierarchie der Gattungen im frühen neunzehnten Jahrhundert, siehe Tarasov, 137.
[50] Vgl. Tarasov, 153.
[51] Siehe auch Décultot, 213, 217, 222–223, 227, Таrаsоv, 153, sowie Connelly, 35.
[52] Vgl. Arfini 126.
[53] Vgl. Arfini, 125.
[54] Vgl. Arfini, 125f. Arfini verwendet den Begriff „Seelen Malerei“, mit dem sie Schillers Terminus „Seelengemälde“ ersetzt.
[55] Vgl. Kuzniar, 359f.
[56] Und im Extremfall bis zur Beseitigung und völligen Selbstabsorption der Darstellung, wie – dem (post)postmodernen François Morelle folgend – in Picassos Jungfrauen von Avignon und Delacroix’ Der Tod von Sardanapal.
[57] Runge, HS-1, 40.
[58] Siehe z. B. Grewe, 230f. Wer nicht ganz auf die Gegenständlichkeit verzichtet, kann auch zu einem Ergebnis gelangen, das z. B. Mikalojus Čiurlionis erreicht hat. Runge hätte dafür freilich Musiker werden müssen.
[59] Grewe, 123.
[60] Bekanntlich wollte Runge mit Dichtern zusammenarbeiten, um einen Bildkommentar zu deren Werken zu schaffen. Natürlich ist diese Situation umgekehrt zu der hier beschriebenen: Nicht das Wort wird benötigt, um die Malerei zu verdeutlichen, sondern die Malerei wird benötigt, um das, was in Worten gesagt wird, klarer darzustellen. Schon der Drang, einen solchen Kommentar zu schaffen, verweist darauf, dass die semantischen Möglichkeiten der bildenden Kunst nach Runges Auffassung gar nicht so begrenzt waren. Allerdings war keine seiner Unternehmungen zur Illustration von Texten erfolgreich. Siehe z. B. zu Runges Ossian-Projekt Ramos, 67–74. Zu den Illustrationen von Clemens Brentanos Romanzen vom Rosenkranz und den unterschiedlichen Meinungen der beiden Künstler über das Prinzip der Arabeske siehe Grewe, 129, 131.
[61] Vgl. Littlejohns, 69, 71, 73. Privat zufolge hatte Runge Steffens, „der auch als Vorkämpfer der Erhebung von 1813 bekannt ist, im Sommer 1801 in Tharandt bei Dresden kennengelernt. Steffens hat Runge in seinen Erinnerungen ‚Was ich erlebte‘ einen längeren Abschnitt gewidmet, aus dem hervorgeht, wie sehr die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Runge und ihm sich im Lauf der Jahre vertieft hatten. Steffens lehrte seit 1804 Naturphilosophie, Physiologie und Mineralogie an der Universität Halle […]“ (Privat, 261). Laut Traeger ([1977] 7) war Steffens ein Anhänger Schellings. Steffens besuchte Runge kurz vor dessen Tod, von ihm stammt eine Beschreibung seiner Persönlichkeit und seiner innovativen künstlerischen Lösungen.
[62] Privat, 133.
[63] Vgl. Brown, 46.
[64] Vgl. Grewe, 126.
[65] In diesem Fall ist das Bild tatsächlich in der Lage, das Wort zu ersetzen und zu seinem Äquivalent zu werden, indem es die Bedeutung eines bestimmten Begriffs den Rezipient*innen vermittelt. Jenen muss aber auch in diesem Fall der Begriff im Voraus bekannt sein, damit die Ersetzung funktionieren kann, ebenso wie die Art seiner Darstellung und die Art des Bildes. Im Falle des Wortes, das einen Begriff bezeichnet, ist die Beziehung zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten innerhalb des Bedeutungskerns stabil; im Falle des Bildes hingegen erfordert diese Stabilität nicht nur einen bestimmten kulturellen und historischen Hintergrund, eine Kenntnis der Ikonographie, sondern gerade bei Runge, dass das allegorische Bild aus seinem Kontext isoliert und separat gelesen werden muss. Indem es zu einem vollwertigen Bestandteil des Verhältnisses ‚Signifikant‘ – ‚Signifikat‘ wird, wird das Bild aus dem Kontext der Darstellung herausgedrängt und seine rein visuellen Verbindungen mit anderen Bildern werden geschwächt, wenn nicht gar unterbrochen. Ein Beispiel dafür ist das allegorische Bild der Aurora (Venus oder Maria) in Der kleine Morgen. In Die Tageszeiten besteht die Strategie der Bedeutungsgenerierung im Oszillieren zwischen „Wort“ und „Gestalt“, was durch die metonymische Ersetzung des Namens Jahwe auf der oberen Scheibe des Rahmens mit dem freimaurerischen Dreieck („Tag“), Opferlamm („Abend“), und einer Taube (die Gestalt des Heiligen Geistes, „Nacht“) sowie auf der unteren Rahmenscheibe die Ersetzung der Fackel mit einer kreisförmigen Schlange, die sich in den Schwanz beißt, mit einem Engel mit Fackel, einem Kreuz mit Rosen („INRI“) und einem Scheiterhaufen wieder mit Rosen, jetzt brennend.
Das Wirken von „dem Bild“ in der Funktion von „dem Wort“ wird in Runges Herangehensweise an das Problem der Beziehung zwischen dem Rahmen und dem inneren Raum des Gemäldes sehr deutlich: Der Rahmen fungiert als verbaler Kommentar zu der wahren, wesentlichen Bedeutung, die innerhalb des Bildfeldes dargestellt wird. Nach Brown (52) erreicht Runge dadurch eine vollständige Verschmelzung der beiden scheinbar gegensätzlichen Ausdrucksweisen, der äußeren und der inneren.
[66] Vgl. Grewe, 133.
[67] Beispielsweise Runge in einem Brief vom 9. März 1802 an seinen Bruder Daniel (Runge, HS-1, 11–14). In einem Brief vom 23. März 1802 an denselben berichtet er, dass Tieck auf ihm gezeigte neue Zeichnungen in etwa mit den Worten reagierte, dass „der Zusammenhang der Mathematik, Musik und Farben hier sichtbar in großen Blumen, Figuren und Linien hingeschrieben stehe.“ (Runge, HS-1, 36).
[68] Siehe Arfini, 126.
[69] Über die Beziehung zwischen Musik und Sprache und die allmähliche, mit Nicola Vicentino beginnende Herausbildung des Paradigmas, Musik sei eine Sprache (der Sinne), siehe Bonds, 48–58.
[70] Siehe z. B. diese Reproduktion: https://www.kunstbilder-galerie.de/kunstdrucke/philipp-otto-runge-bild-793107.html (Stand: 06.10.2023).
[71] Runge, HS-1, 223.
[72] Runge nannte seinen Zyklus sowohl Tageszeiten als auch Vier Zeiten (siehe Littlejohns, 56).
[73] Des Öfteren wurde festgestellt, dass Böhme nicht nur Runges Ideen, sondern auch den Stil seiner Schriften durch die Ikonographie seiner Abhandlungen beeinflusst hat; siehe Arfini, 46. Erwähnenswert ist in diesem Kontext, dass Böhmes Visionen auch auf andere Künstler der Romantik, wie Carl Gustav Carus, große Wirkung ausübte (Arfini, 130). Zum Zusammenhang zwischen Neuplatonismus, Paracelsus, Böhmes Werken und der Übertragung der entsprechenden Ideen in die Sphäre der romantischen Ästhetik durch lutherische und katholische Philosophen wie Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) und Franz Xaver von Baader (1765–1841) sowie zum Einfluss dieser Ideen auf Novalis und Schelling siehe Arfini, 126, 130.
[74] Brief vom 23. März 1802, Runge, HS-1, 36.
[75] Zitiert nach Littlejohns, 55. Brief Runges an Schilderer vom März 1806, Runge HS-1, 69.
[76] Siehe Littlejohns, 56.
[77] So nimmt Hilda Meldrum Brown (48) in Der kleine Morgen innerhalb des Hauptraums ein Gefühl der Aufwärtsbewegung von der unteren Ebene zu immer leichteren Sphären wahr, und dieses „dynamische Prinzip“ verbindet die Forscherin mit der gegenständlichen Ebene, d. h. mit der Entwicklung semantischer Konnotationen.
Die Konnotationen machen eine Entwicklung durch: von der Figur des Neugeborenen, einer symbolischen Repräsentation Jesu Christi, über die Sonne als Allegorie der göttlichen Quelle der irdischen und himmlischen Existenz bis hin zur Figur des Morgens als Hoffnung (vgl. Brown, 48–50, hier auch zum Einfluss von Böhmes Lehre auf die Symbolik der Darstellung). Im Übrigen wäre diese Entwicklung natürlicher mit der „koloristischen Modulation“ zu verbinden. Zu einer anderen Darstellungsart des Kindes als Symbol der deutschen Erneuerung und zu Otto Dix’ Entlehnung dieses Motivs in seinem Triumph des Todes (1934) siehe Tarasov, 6.
[78] Siehe Ramos, 168–171, Grewe, 55, 129ff., Brown, 56, und Connelly, 35. Die Entstehung der Arabesken-Ästhetik in der deutschsprachigen Tradition war weitgehend mit Immanuel Kants Idee der pulchritudo vaga verbunden. Indessen hat Kant den Begriff der Arabeske selbst in der Kritik der Urteilskraft nicht verwendet (zu einem verbreiteten diesbezüglichen Missverständnis und zum Einfluss von Kants Ideen siehe Wilfing, 21, 32, 42, 44).
[79] Runge begann 1802 in Dresden mit der Arbeit an dem Zyklus. Siehe mehr zur Entstehungsgeschichte bei Arfini, 126f. Laut Brown (46) ähneln die Skizzen und Pläne von Die Tageszeiten durchaus architektonischen Projekten, Runge hatte – wie beispielsweise Karl Friedrich Schinkel – ein Interesse an Architektur.
[80] Zitate aus einem Brief vom 30. Januar 1803 (Runge, HS-1, 33).
[81] Im Grenzfall führt ein solches Werden zu einer unkontrollierbaren chaotischen Struktur als dem Gegenteil von Ruhe, Selbstidentität, Harmonie und Ordnung. Offenbar reizte es Runge deshalb nicht als Selbstzweck. Laut Grewe (128) erinnert das an Dürers Ängste vor den dunklen Abgründen der Fantasie. Künstler der Romantik und der Renaissance teilten die Ansicht, die Arabeske treibe Künstler und Publikum ohne Selbstkontrolle in den Wahnsinn.
[82] Vgl. Ramos, 170.
[83] Steffens, 347. Die folgenden Zitate des Absatzes ebd.
[84] Runge empfand diese Unschärfe als Ziel; in einem Brief vom 26. Juni 1803 schrieb er seinem Bruder Daniel: „Es kommen so viele auffallende Zusammensetzungen darin vor, von Dingen, davon jedes einzeln auch wieder in einem Zusammenhange steht, daß ich so im einzelnen mich gar niemals darüber erklären darf“ (Runge, HS-1, 47).
[85] Vgl. Brown, 45.
[86] Zitiert nach: ebd.
[87] Brief Runges vom 10. Mai 1802 an seinen Vater (Runge, HS-2, 128).
[88] „Das Licht scheinet in die Welt, daß es die Finsterniß durchdringe, und der Ausfluß des Lichtes sind die drey Farben, welchen von Ewigkeit zu Ewigkeit den Herrn preisen. Wie sie uns im Beschränkten hier erscheinen, als Roth, Blau und Gelb in ihren Bestandtheilen, so verbinden sie sich in ihren einfachen Mischungen als Violett, Grün und Orange […]“ (Runge, HS-1, 100).
[89] Natürlich könnte auch die mit der Gegenständlichkeit korrelierende Symbolik der Lokalfarben, die als Prinzip in der Antike wurzelt, von Runge berücksichtigt worden sein (so ist z. B. der Gegensatz zwischen der blauen Farbe von Psyches Kleidern und dem scharlachroten Bett, auf dem eines der Genien in Die Lehrstunde der Nachtigall schläft, ausdrucksvoll). Die Objektformen werden jedoch nach dem mimetischen Prinzip geschaffen, d.h. ihre Farben sind durch die Wahrnehmung der Eigenschaften der natura naturata bedingt (Runge hat sich bekanntlich für die Lehren Spinozas interessiert; siehe Brown, 45). Die mystisch-religiösen Begriffe hingegen sind Korrelate der Eigenschaften der natura naturans, die sich in den konkreten Dingen als deren Modi manifestieren, deren Unendlichkeit aber über sie hinausgeht und die daher nicht durch die Idee der Objektivität, sondern durch die Idee der Ausdehnung als solche bezeichnet werden muss. Diese Ausdehnung ist wichtigstes Attribut der Substanz und kann durch die Auffassung der reinen Farbe als Ausfluss des Lichts bezeichnet werden.
[90] Runge, HS-1, 100.
[91] Vgl. Berefelt, 210f.
[92] Nach Grewe (126) sind Runges vier quasi hieroglyphische Darstellungen der Jahreszeiten in arabesker Form, wie Ernst Förster 1860 berichtete, immerhin für Künstler und Gelehrte, für Dichter und Philosophen ein beständiger Ansporn zur Deutung gewesen, wiewohl selbst Goethe und Schelling den Schleier nicht ganz zu lüften vermocht hätten. Tieck fand sogar, dass es leichter sei, ein Buch über diese vier bemerkenswerten Blätter zu schreiben, als mit wenigen Worten etwas Treffendes zu sagen.
Die Interpretation visueller Formen in Runges Kunst hängt weitgehend von der Begründung ihrer Bedeutungen in philosophischen und literarischen Quellen ab. Aber es ist Sache der Betrachter*innen zu entscheiden, welche dieser Quellen als „Text“, welche als referenzieller „Intertext“ und welche als „Interpretant“ gilt im Sinne des von Michel Riffaterre (182) sogenannten „dritten Textes“, der die Beziehung zwischen Text und Intertext vermittelt. Michail Iampolski zufolge funktioniert die Intertextualität nicht, und folglich ist ein Text kein Text, wenn die Lektüre nicht von T nach T’ zu I geht. Die Interpretation des Textes im Lichte des Intertextes sei eine Funktion des Interpreten. Diese dreiseitige semantische Vertauschung ohne einen klaren semantischen Drehpunkt führt nach Iampolski dazu, dass die endgültige Bedeutung im Prozess der Suche nach ihr verschoben wird und der Intertext den Sinn als jene Anstrengung konstituiert, die mit der Suche nach ihm verbunden ist. Siehe Iampolski, 43 und 47.
[93] Muzelle (79) zufolge sah Runge in der Arabeske, deren hieroglyphische Dimension ihm nicht entgangen sei, die bildnerische Ausdrucksform, die auf die ästhetischen Probleme der Zeit die angemessenste Antwort geben konnte. Joseph Görres, „der katholische Denker und Publizist“, habe Runge für den „Begründer einer neuen Kunst“ gehalten (Traeger [1977], 7).
[94] Traeger [1977], 77. Oder nach Schelling, 246: „Die Natur ist für uns ein uralter Autor, der in Hieroglyphen geschrieben hat.“
[95] Runge, HS-2, 523.
[96] Steffens, 347.
[97] Vgl. Tarasov, 169.
[98] Für die folgenden Bemerkungen siehe Ramos, 176.
[99] Runge, HS-2, 264.
[100] Zum Beispiel in Bezug auf Triumph des Amor (1801–02, Öl auf Leinwand. 66,7 x 172,5 cm Hamburg, Kunsthalle). Traeger ([1977], 77) weist darauf hin, dass die Allegorie nicht, „wie üblich, auf die Veranschaulichung eines allgemeinverbindlichen Begriffs [zielt], sondern auf eine subjektive Erfahrung. […] Die Rechnung aus Inhalt und Form geht nicht auf. Es bleibt ein rätselhafter Rest, den der Betrachter für sich selber lösen muß. Das Bild erhält damit Eigenschaften einer ‚Hieroglyphe‘.“
[101] Anzumerken ist, dass in einer echten Hieroglyphe die Mimesis als Prinzip zerstört ist. Die Hieroglyphe ist in ihren Umrissen nicht gleichbedeutend mit der Darstellung des Phänomens, das sie kodieren soll. Bei Runge hingegen erweist sich die Mimesis als die irreduzible semantische Grundlage der Hieroglyphe. Das Bild des Ausflusses hört nicht auf, als phänomenal wahrgenommen zu werden, was auch immer es symbolisiert. Daher kann der Begriff ‚Hieroglyphe‘ natürlich nur ein metaphorisches Korrelat des künstlerischen Bildes sein, ebenso wie das Verhältnis solcher Hieroglyphen zum „Text“ quasi-syntaktisch ist.
[102] Steffens, 348: „Der Ausdruck ‚Symbol‘, wäre hier ein schwacher und schiefer; in diesem nämlich liegt immer Etwas von äußerer Beziehung zwischen Gestalt und Wort; es fällt Keinem ein, die Worte Symbole der Gedanken zu nennen, und wie das treffende Wort der reinste Ausdruck der Gedanken, so sind in diesen Darstellungen die Gestalten die reinsten Ausdrücke der Worte.“ Überlegungen zum Verhältnis von Symbolismus und Allegorie bei deutschen Schriftstellern und Philosophen bei Ramos, 179.
[103] Siehe Steffens, 348.
[104] Runge, HS-1, 82 (unter der Überschrift „Rubriken zu den vier Tageszeiten“, datiert mit „August 1807“). Der Herausgeber der Hinterlassene[n] Schriften, Runges Bruder Daniel, fügt auf der folgenden Seite eine ansehnliche Anzahl von Varianten dieser Rubrizierungen an, gegründet auf abweichende Formulierungen in weiteren Abschriften sowie auf „anderweitige Aeußerungen des Verf.“; siehe Runge, HS-1, 83.
[105] Muzelle, 84.
[106] Runge, HS-1, 33.
[107] Siehe Ramos, 172.
[108] Brief vom 16. Januar 1803 an seinen Bruder Daniel (Runge, HS-2, 195).
[109] Bekanntlich hat die auf dem Zeichnen basierte chinesische Schrift als Hauptzeichen für das Erlernen der Kalligraphie das Zeichen „yǒng“ („Ewigkeit“). Die acht Regeln der Ewigkeit zu üben, bedeutet, die Grundlagen der Kalligrafie zu erlernen. Nachdem Pinsel, Tinte und Papier um das erste Jahrhundert v. Chr. und dann im ersten Jahrhundert n. Chr. perfektioniert worden waren, wurden jene Striche angeordnet, mit denen man ein Zeichen setzen konnte. Die Vielfalt der Striche wurde von Cui Yuan (78–143) systematisiert, er entwickelte acht kanonische Formen von Strichen, die das Zeichen „yǒng“ bilden. Runge nahm eine etwas andere Art von Zeichen in den Blick, bei denen der bildhafte Charakter noch stärker ausgeprägt ist: die ägyptische Kunst. Siehe Runge, HS-1, 4.
[110] Vgl. Runge, HS-1, 41.
[111] Vgl. Runges Brief an Tieck (undatiert, wohl geschrieben im April 1803). Runge, HS-1, 41.
[112] Siehe Ramos, 173.
[113] Zu dieser Zeichnung siehe Ramos, 174. Nebenbei bemerkt, ist Böhmes Bildsymbolik sehr eng mit der realen Welt verbunden und weit von der ultimativen Abstraktion entfernt.
[114] Vgl. wieder Runges Brief an Tieck (undatiert, wohl geschrieben im April 1803). Runge, HS-1, 41. Siehe auch Ramos, 173.
[115] Dazu auch Runge, HS-2, 182–183.
[116] Runge, HS-1, 33.
[117] Runge hatte bekanntlich für Die Tageszeiten einen besonderen Plan. Nach Littlejohns (56) habe er sie letztlich zu farbigen Gemälden für die Verwendung als Wandmalereien oder Architekturdekorationen ausarbeiten und sie sogar zur Grundlage einer Art von Gesamtkunstwerk machen wollen. Der Künstler schrieb: „Es wird eine abstrakte malerisch-phantastische musikalische Dichtung mit Chören, eine Komposition für alle drei Künste zusammen, wofür die Baukunst ein eigenes Gebäude aufführen sollte“ (Runge, HS-2, 202). Zu den Korrelationen von Runges Ideen mit der Idee des Gesamtkunstwerks siehe Braun, 9, 44, 46, 53, 58, sowie Grewe, 121.
[118] Grewe (230) hielt die Analogie zwischen künstlerischer Gestaltung und symphonischer Komposition für immer noch im Wesentlichen metaphorisch. Bildkunst werde nicht der Musik nachempfunden, sondern ein bestimmtes musikalisches Format (in diesem Fall die Symphonie) werde mit einer Anzahl von Emotionen, einem Gefühl von Erhabenheit, Feierlichkeit und universeller Harmonie zwischen Natur und Universum in Verbindung gebracht. Dies gelte wiederum für die Kunst im Sinne absoluter Musik generell.
[119] Die metaverbale Verbindung beruht auf dem Wechsel von einem Bild (als bedeutungsstiftendem Element) zu einem anderen (kleine Genien, die den „Morgenstern“ – Venus – halten, sich umarmen und tanzen; Rosen, die blühen, verwelken, deren Blätter sich kräuseln etc.) und auf dem Verbalen, indem jede Tageszeit angegeben ist und verbale Komponenten in die Bildebene einbezogen sind (bei Morgen ist dies der hebräische Name Jahwes, umgeben von hell leuchtendem Schein und Engelsköpfen; bei Abend ist es ein Kreuz mit der Inschrift „INRI“, was einen „Reim“ auf das Opferlamm im oberen Teil des Bildrahmens ergibt). Littlejohns (64) sieht in den Tageszeiten auch eine Verkörperung der Idee des Lebenszyklus.
[120] Zu Runges Farbauffassung, auch im Vergleich mit der Goethes und Newtons, siehe Brown, 181–199.
[121] Steffens (349) hatte Runges Der kleine Morgen in diesem Sinne interpretiert, doch lässt sich seine Auffassung auf andere Bilder von Runge übertragen.
Goethe schrieb: „Ganz neulich hat Philipp Otto Runge […] die Abstufungen der Farben und ihre Abschatterungen gegen Hell und Dunkel auf einer Kugel dargestellt, und wie wir glauben, diese Art von Bemühungen völlig abgeschlossen.“ Zitiert nach Brown, 53. Zu den Begriffen Harmonie, Disharmonie und Monotonie siehe Ramos, 183.
[122] Siehe Ramos, 183.
[123] Zitiert nach Arfini, 125. Brown (53) zufolge sah Newtons Theorie sieben Grundfarben vor, Runges Theorie nur drei (Gelb, Rot und Blau, die er als Dreifaltigkeit bezeichnet habe), Goethes aber nur zwei. Nach Ramos (183) identifizierte Runge Weiß mit „oben“ und Schwarz mit „unten“, als Symbole für die Pole von Licht und Dunkelheit.
Runge errechnete geradezu mathematisch ein Farbtongefüge, in welchem sämtliche Parameter der zusammenwirkenden Farben in Helligkeit, Leuchtkraft, Farbton ausgeglichen sind (siehe im Detail Runges Zehn-Stufen-Schema, erläutert in einem Brief vom 9. März 1802 an seinen Bruder Daniel: Runge, HS-1, 13–14).
[124] Steffens, 340. Runge seien die Farbkonzepte von Dürer und Leonardo wohlbekannt gewesen (ebd., 341), und auch mit Goethe habe er über Farbe korrespondiert. Steffens stellt fest, dass Runges Farbenlehre wertvoll ist und es auch in Zukunft bleiben werde, unabhängig davon, wie sich die Ansichten über die Natur des Phänomens änderten (ebd., 342). Dabei verliert Steffens auch den praktischen Aspekt von Runges Suche nach einer Farbenlehre nicht aus den Augen. Siehe ebd., 340.
Zu Runges Versuch, eine Entsprechung zwischen realem, hörbarem Klang und sichtbarer Farbe zu finden, siehe Ramos, 185–192. „Ist nicht die Tonleiter in der Musik das, was die Abstufung der Farben in Weiß und Schwarz?“, fragte der Künstler (Runge HS-1, 168). „Die Analogie des Sehens […] mit der Grunderscheinung des Gehörs, führt auf sehr schöne Resultate für eine zukünftige Vereinigung der Musik und Malerey, oder der Töne und Farben […]“ (Runge, HS-2, 388). Runge stimmte darin mit anderen Denkern seiner Zeit überein. So stellte Carl Ludwig Fernow fest (Über Landschaftsmalerei, 1803): „Die Farbenharmonie erzeugt eine ähnliche Wirkung wie die musikalische Harmonie auf das Seelengefühl“ (zitiert nach Arfini, 125).
[125] Weitere Einzelheiten dazu bei Brown, 58. Siehe Runge, HS-2, 516.